Die Erzählerin von Arden. Carola Schierz

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Название Die Erzählerin von Arden
Автор произведения Carola Schierz
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738019827



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wurde sie sanft durch die Tür geschoben und auf der anderen Seite in Empfang genommen. Am Dienstboteneingang angekommen, legte sie das Tuch ab und gab es Rufus zurück. Er nickte ihr kurz zu und verschwand.

      Als sie in ihrem Zimmer eintraf, saß Helen aufrecht in ihrem Bett.

      „Oh mein Gott, Lillian! Ich bin fast gestorben vor Angst! Wie geht es dir? Ist alles in Ordnung?“, flüsterte sie.

      Lillian lächelte ihr beruhigend zu. „Sei unbesorgt. Mir ist nichts geschehen. Morgen erzähle ich dir alles. Aber zu niemandem ein Wort! Versprich es mir!“

      Helen sah sie beleidigt an. „Das brauchst du mir nicht extra zu sagen. So etwas ist für mich selbstverständlich.“

      Lillian kniff ihr in den Arm. „Nun sei nicht albern! Es ist eben unheimlich wichtig für mich, dass keiner etwas davon erfährt.“ Sie gab Helen einen Kuss auf die Wange und wünschte ihr eine gute Nacht. Aber an Schlaf war nicht zu denken. Erst kurz vor Sonnenaufgang schlummerte sie leicht ein.

      Zur Mittagspause trafen sich die Mädchen wieder auf ihrer Wiese. Umgeben von duftenden Sommerblumen, die in der leichten Brise schaukelten, erzählte Lillian ihr Abenteuer vom Vortag. Als sie fertig war, schwiegen beide eine Weile und hingen ihren Gedanken nach.

      „Was will er damit bezwecken? Wozu nützt ihm die Sache denn?“, fragte Helen.

      „Ich weiß es auch nicht. Aber ich werde es herausfinden. Das schwöre ich dir!“

      Am Sonntag nach dem Gottesdienst besuchte Lillian, gemeinsam mit Helen, John und Brian, die gute Emma in ihrem gemütlichen Häuschen. Es war einer der wenigen Sonntage, an dem keiner von ihnen im Schloss gebraucht wurde. Emma hatte sie alle zum Mittagessen eingeladen und war glücklich über den vollbesetzten Tisch. Die Kinder waren schon erwachsen und aus dem Haus und ihr Mann war vor vielen Jahren an einer Lungenentzündung gestorben. Auch Brian freute sich, nicht allein hin zu müssen und dann der ganzen Aufmerksamkeit seiner Schwester ausgeliefert zu sein. So konnte er sein Essen genießen, während die anderen sich mit Emma unterhielten. Und die fanden immer genug zu besprechen. Am Abend machten sie sich satt und gut gelaunt auf den Heimweg.

      'Morgen!', dachte Lillian später. Ach, es würde schon gut gehen. Sie durfte sich nur nicht zu deutlich machen, wer ihr zuhörte und wo sie sich befand. Dann war es auch nichts Besonderes mehr. Doch das Mädchen versuchte vergeblich, sich zu beruhigen.

      Am folgenden Tag, pünktlich bei Sonnenuntergang, war sie zur Stelle und stand kurz darauf im Schlafzimmer des Thronfolgers. 'Denk nicht darüber nach!', sagte sie sich wieder. Er saß auf dem Bett, den Oberkörper gegen das Kopfteil gelehnt. In der Hand hielt er ein Glas Wein.

      „Schön, dass du hier bist. Setz dich!“, sagte er und wies ihr mit der Hand freie Platzwahl zu.

      Sie nahm sich zwei große Kissen vom Fußende des Bettes und machte es sich auf dem Boden, gleich neben der Geheimtür, bequem.

      Er legte den Kopf schief. „Immer bereit zur Flucht, nicht wahr?“

      „Wenn Ihr es so sehen wollt!“, antwortete sie spitz.

      Er lächelte, wurde dann aber ernst. „Hör zu! Ich will nicht, dass du mich für verrückt hältst. Darum möchte ich dir zunächst etwas erklären.“ Er strich sich nervös das schwarze Haar aus der Stirn. „Oh! Verzeih mir meine Manieren. Möchtest du vielleicht etwas trinken?“ Er wies auf den Weinkrug, der auf dem Fensterbrett stand.

      „Wasser vielleicht?“, antwortete sie.

      Er zog die Brauen hoch. „Sehr anständig. Da, auf dem Tischchen. Bedien dich, wenn du magst.“

      Das tat sie. Dann schaute sie ihn erwartungsvoll an.

      „Es ist so: Ich leide seit Jahren an schweren Schlafstörungen. Entweder, ich kann gar nicht erst einschlafen oder ich werde von meinen Albträumen geweckt. Das raubt einem mit der Zeit alle Lebensgeister.“ Er trank einen Schluck aus seinem Glas. „Als ich neulich zufällig einen deiner Vorträge hörte, fühlte ich mich so losgelöst von dem, was mich belastet, dass ich tatsächlich in einen kurzen, traumlosen Schlaf fiel. Und das, ganz ohne vorher das Richtige zu trinken. Du verstehst sicher, was ich meine.“ Zur Veranschaulichung hob er sein Glas. „Nun … ich will versuchen, deine Gabe als eine Art Heilmittel zu nutzen … Das muss reichen!“, brach er ab.

      Lillian bekam das Gefühl, dass Raven ihr schon mehr gesagt hatte, als er ursprünglich wollte. „Soll ich beginnen, Hoheit?“, fragte sie knapp, um ein peinliches Schweigen zu verhindern. Er lehnte sich zurück und nickte ihr zu.

      Lillian wählte eine sehr fantastische und anspruchsvolle Geschichte aus, um ihn damit möglichst erfolgreich von seinen Problemen abzulenken. Und es war offensichtlich, dass er welche hatte. Sie wollte ihm helfen loszulassen, was immer er loslassen musste.

      Es funktionierte. Raven tauchte ganz in ihre Erzählweise ein. Sie sah immer wieder kurz zu ihm hinüber. Zuerst blickte er nur ins Leere. Dann schloss er die Augen und sie konnte an seiner Mimik deutlich erkennen, dass er ganz bei der Sache war. An den abenteuerlichsten Stellen spannten sich seine Gesichtsmuskeln an und wenn Lillian etwas Erheiterndes einflocht, verzog sich sein Mund zu einem Lächeln. So bekam er den Ausdruck eines zufriedenen Jungen, was ihn auf Lillian noch anziehender wirken ließ.

      Dann war das Abenteuer vorbei. Sie wartete schweigend, bis er wieder richtig bei sich war. Raven sah sie an und für einen Moment war so etwas wie Verlegenheit in seinem sonst eher selbstsicheren Gesicht zu erkennen. „Du bist eine Zauberin, kleine Lillian. Deine Stimme wird zu Bildern, Gerüchen, Gefühlen ... Man kann deine Geschichten beinahe körperlich wahrnehmen. Du beherrscht sie - die Magie der Worte.“

      Sie konnte deutlich sehen, dass ein Teil von ihm noch nicht von seiner Reise zurückgekehrt war.

      Lillian erhob sich und er erkannte ihren Wunsch, jetzt zu gehen. Zu gern hätte er das ignoriert, aber es war wichtig, dass sie sich bei ihm wohl fühlte. Sie musste ihm vertrauen! Und er vertraute ihr! Er kannte sie kaum, spürte aber bei ihr die Art von Sicherheit, die seine kranke Seele so lange vermisst hatte. „Dann sehen wir uns in zwei Tagen.“

      Wieder stand er hinter ihr und verband ihr die Augen. Lillian bekam eine Gänsehaut, als sie seinen warmen Atem in ihrem Nacken spürte.

      „Gute Nacht, Zauberin“, sagte er leise.

      „Gute Nacht, Hoheit“, antwortete Lillian mit belegter Stimme. Sie trat durch die Tür und ihren unsichtbaren Rückweg an.

      Raven erwachte zwar wie üblich aus einem Albtraum, aber er stellte zu seiner Zufriedenheit fest, dass die Morgendämmerung bereits eingesetzt hatte. Er erhob sich, spritzte sich eine Handvoll kaltes Wasser ins Gesicht und öffnete das Fenster. Ein Windhauch spielte mit seinem Haar, als wolle er es noch mehr durcheinanderbringen. Der Prinz atmete die frische kalte Morgenluft ein. Er konnte keine Wunder erwarten. Es war ja eh nur ein Versuch. Immerhin hatte er seine Dämonen bis zum Morgengrauen in Schach gehalten. Das war mehr, als er erwarten konnte. Und er fühlte sich relativ ausgeschlafen.

      Nach der Morgentoilette beschloss er, das Frühstück gemeinsam mit seinem Vater einzunehmen.

      Dieser, ein passionierter Frühaufsteher, blickte geschockt auf, als er seinen Sohn um diese Stunde eintreten sah. „Ist etwas passiert?“, fragte er besorgt.

      Raven grinste ihm amüsiert entgegen. „Ja, ich habe Hunger!“

      Ungläubig kaute der König einen Bissen herunter.

      Raven setzte sich, nahm wie selbstverständlich von den zahlreichen Speisen und verzehrte alles mit ungewohntem Appetit.

      König Aron beschloss, die gute Stimmung seines Sohnes zu genießen, ohne Fragen zu stellen. Raven bedankte sich dafür, indem er sich auf ein belangloses Gespräch mit seinem Vater einließ. So wurde dieses Frühstück zur angenehmsten Erfahrung, die sie seit langem miteinander teilten.

      Am Abend war Raven wieder allein. Er empfand die Einsamkeit seines Schlafzimmers heute noch erdrückender als sonst. Er öffnete das Fenster,