Die Erzählerin von Arden. Carola Schierz

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Название Die Erzählerin von Arden
Автор произведения Carola Schierz
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738019827



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nur über verschiedene Dinge. Lillian erzählte ihm alles, was er über ihr Leben wissen wollte. Von ihrer Kindheit auf dem kleinen Hof, den lustigen Streichen, die sie und ihr Bruder manchmal ausgeheckt hatten und auch von den tragischen Begebenheiten in der Familie. Er dagegen hielt sich in auffallender Zurückhaltung, wenn es um seine eigene Vergangenheit ging, so dass sich Lillian eines Tages ein Herz fasste und ihn nach seiner Kindheit fragte.

      Er dachte einen Moment angestrengt nach und schien hin und her gerissen, doch dann hatte er sich wohl entschieden. Er stand auf, öffnete die Salontür und bat Lillian ihm zu folgen. Vor dem lebensgroßen Porträt einer schönen Frau in edlem Gewand blieb er stehen. „Das ist – war meine Mutter, Königin Anne.“

      Lillian sah Raven an und hätte ihn am liebsten berührt, als sie seinen traurigen liebevollen Blick bemerkte, mit dem er das Bild betrachtete.

      „Sie war sehr schön“, meinte sie.

      „Ja, das war sie und sie konnte, so wie du, wunderschöne Geschichten erzählen. Der ganze Hof lauschte ihr gespannt, wenn sie das tat. Am schönsten war es allerdings, wenn wir beide ganz allein waren. Sie hat mich in ihren Armen gehalten und erzählt. Einmal, ich war etwa sieben Jahre alt und erkrankte an Diphtherie. Ich hatte Fieber und konnte schlecht atmen. Sie ließ mich samt meinem Bettzeug aufs Dach tragen, damit ich so viel Luft bekam wie möglich. Dort hat sie den ganzen Tag und die ganze Nacht bei mir gesessen und mich mit Rittern, Drachen und Zauberern von meinem Leiden abgelenkt.“ Ravens Blick ging ins Leere und ein wehmütiges Lächeln umspielte seinen Mund. Er wirkte so zerbrechlich ...

      „Komm mit!“ Plötzlich nahm er die völlig überraschte Lillian an die Hand und zog sie durch die Salontür hinaus auf den Korridor. Einem glücklichen Umstand verdankten sie es, dass ihnen niemand begegnete, während er sie mehrere Treppen hinaufzog. Dann standen sie auf dem Dach.

      „Siehst du? Genau hier.“ Er zeigte auf die begehbare Fläche. Dann setzte er sich auf seine Schräge. „Komm zu mir, Zauberin der Worte, und erzähle mir etwas Schönes!“

      Lillian setzte sich und schaute sich um. Der Platz war atemberaubend. Über ihnen der weite Sternenhimmel und zu ihren Füßen die Lichter der Stadt.

      „Was ist damals eigentlich geschehen?“, fragte sie einem plötzlichen Impuls folgend. „Es wird gesagt, dass die Königin an den Folgen eines Unfalls gestorben ist. Aber niemand weiß Genaueres.“

      Raven sprang auf. „Das geht auch niemanden etwas an!!! Verstehst du? Niemanden!“ Er war plötzlich außer sich.

      Lillian entfernte sich ein paar Schritte von ihm. Als er bemerkte, dass sie Angst hatte, zwang er sich zur Ruhe. „Tut mir leid! Ich wollte dich nicht erschrecken. Aber ich will nicht, besser gesagt, ich kann nicht darüber reden.“

      Sie legte ihm vertraulich eine Hand auf den Arm und er ließ es zu. „Hoheit, ich glaube aber, dass dies der einzige Weg ist, Eure Probleme zu lösen. Eure Seele kann nicht gesund werden, indem Ihr die Vergangenheit mit Alkohol oder Geschichten verdrängt. Ihr müsst mit jemandem über alles reden, dann geht es Euch sicher besser. Habt Ihr denn niemanden, der Euch nahe steht? Dem Ihr vertrauen könnt? Was ist mit Eurem Vater?“

      Er stieß einen zischenden Laut aus. „Der ist der Letzte, dem ich davon erzählen kann.“

      „Dann irgendjemand anderem, dem ihr vertraut?“

      Er sah sie eine Weile nachdenklich an. „Du vielleicht? Dir vertraue ich!“

      Lillian schlug das Herz bis zum Hals. Er wusste nicht, dass sie Helen über ihre Treffen informiert hatte. Sicher, sie hatte der Freundin nichts über die Inhalte ihrer Gespräche berichtet, trotzdem fühlte sie sich irgendwie schuldig.

      „Das ist mir eine große Ehre, Hoheit! Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich die Richtige dafür bin“, sagte sie schnell.

      „Ich mir schon. Aber können wir diesen Unsinn nicht lassen? Wenn wir unter uns sind, musst du mich nicht mit 'Hoheit' ansprechen!“

      Diese Vorstellung war sehr verlockend, aber ... „Nein, das geht nicht!“, sagte Lillian. „Ich danke Euch sehr, aber das kann ich nicht.“

      Er lachte. „Wenn dich das so erschreckt, dann lass es halt!“

      Dann war es wieder still zwischen ihnen. Lillian biss sich auf die Lippe und wollte gerade etwas sagen, als er zu sprechen begann.

      „Meine Eltern verband eine große Liebe. Sie waren sehr glücklich, als ich zur Welt kam - warum auch immer. Meine Mutter erwartete nach mir noch einmal ein Kind, verlor es aber bald. Dann, Jahre später, als sie die Hoffnung schon aufgegeben hatten, wurde sie doch noch einmal schwanger. Ich war damals vierzehn. Sie hatten beschlossen, niemandem etwas zu sagen, solange es sich geheim halten ließ. Du kannst dir nicht vorstellen, was es für gesellschaftliche Ausmaße annimmt, wenn sich in Königshäusern Zuwachs ankündigt. Sie wollten, für den Fall, dass wieder etwas schief gehen sollte, keinen zusätzlichen, offiziellen Trubel. Auch mir sagte es anfangs noch keiner. Es war Winter und Mutter trug da immer weite Umhänge, um sich zu wärmen. So konnte sie ihren Umstand lange Zeit verbergen. Dann gab es Ärger mit einem der Nachbarreiche. Mein Vater musste für unbestimmte Zeit fort, und trug mir auf, mich um meine Mutter zu kümmern. Dabei erfuhr ich auch, dass sie schon im sechsten Monat schwanger war. Sollte irgendetwas passieren, wollte er sofort informiert werden. Dann, zwei Wochen später, rutschte Mutter bei einem Spaziergang unglücklich aus. Sie bekam Schmerzen im Unterleib und ich ließ nach dem Heiler schicken.“

      Lillian wurde hellhörig. „Brian?“

      „Ja. Du kennst ihn, nicht wahr?“ Lillian nickte. Er fuhr fort: „Brian stellte fest, dass bedingt durch den Sturz, die Wehen eingesetzt hatten. Er gab meiner Mutter einen Trank, der eine Frühgeburt verhindern sollte. Ich wollte sofort meinen Vater benachrichtigen, doch sie hat es mir regelrecht untersagt. Ich musste ihr schwören, ihn nicht zu verständigen. Er hätte mit seinen momentanen Pflichten genug Kummer und könnte hier eh nichts ausrichten. Da stand ich nun, zwischen der Anweisung meines Vaters und dem Wunsch meiner Mutter. Sie hatte so ein Talent, die Menschen zu überzeugen ... Also schrieb ich ihm nicht und betete, dass alles gut gehen möge. Meine Mutter durfte das Bett nicht mehr verlassen. Nach zwei Wochen setzten die Wehen jedoch erneut ein und diesmal ließen sie sich nicht mehr vertreiben. Das Baby, ein Junge, hatte kaum eine Überlebenschance. Er war noch zu klein. Es gab Komplikationen. Sie verlor Blut, zu viel Blut. Ich wurde zu ihr gerufen.

      Bevor sie starb, nahm sie meine Hand und sagte, ich müsse jetzt stark sein. Sie bat mich, Vater auszurichten, dass sie ihn immer geliebt habe. Ich sollte ihm aber verheimlichen, wie lange es ihr schon so schlecht ging. Sie wollte nicht, dass er mir die Schuld dafür gab, dass er nicht bei ihr sein konnte, als sie ihn brauchte. ... Aber verdammt, Lillian! Es war meine Schuld. Ich hatte seine Anweisungen und hätte mich in dieser Situation nicht von ihr überreden lassen dürfen. Ich war so dumm, nicht an die Folgen zu denken.“

      Lillian unterbrach ihn. „Aber Ihr wart damals fast noch ein Kind!“

      Er zischte abweisend durch die Zähne. „Als er von dem Unglück erfuhr, kam Vater sofort zurück. Ich erzählte ihm, dass Mutter gestürzt und dann alles ganz schnell gegangen wäre. Damit war die Lüge geboren. Er saß an ihrem Sarg und fragte sie immer wieder, warum sie nicht auf ihn gewartet hätte. Da brach etwas in mir entzwei. Ich hatte ihn um seinen Abschied betrogen. Ich fühlte mich so schuldig - bis heute noch!“

      Nun bahnten sich seine lang zurückgehaltenen Gefühle ihren Weg. Lillian nahm Raven spontan in die Arme und sie hielten sich fest umschlungen. So standen sie eine Weile, bis er sich von ihr löste und verlegen die Tränen wegwischte.

      „Und das Baby?“, fragte sie vorsichtig.

      „Mein Bruder war noch zu schwach ... und so winzig. Er ist eine halbe Stunde nach seiner Geburt gestorben.“

      Lillian musste an ihre eigene Vergangenheit denken. Sie hatte ja ganz ähnliches erleben müssen. Solche Schicksale machten keine Rangunterschiede. Der Tod war unbestechlich.

      „Und Brian?“

      „Er musste meiner Mutter dasselbe