Sie träumte von Liebe. Christina Bartel

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Название Sie träumte von Liebe
Автор произведения Christina Bartel
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742750358



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körperlicher Arbeit verbracht hatte. Während sie dem schmalen Sandweg durch die herunterhängenden Äste der Bäume folgten, war Joans Blick auf das Kloster gerichtet, das nur von weitem heruntergekommen wirkte. Je näher sie dem alten Gemäuer kamen, desto schöner fand Joan es. Der erste Blick hatte sie getäuscht und in den folgenden Stunden sollten sie von der Oberen erfahren, dass genau dies beabsichtigt wurde. In Mailand selbst wusste kaum jemand von der Existenz des Klosters, was ein entscheidender Vorteil war, um die Kinder und Frauen vor denjenigen zu schützen, vor denen sie geflohen waren.

      Die Rückseite des Klosters, die vom Tor nicht zu erkennen gewesen war, offenbarte ihnen den vollen Glanz des Hauses. Auf Anhieb gefiel ihnen, was sie sahen. Der Sandweg endete und ging zu einer riesigen Rasenfläche über, auf der unzählige Hühner laut gackerten und einige Jungen mit einem Ball spielten.

      „Schwester Evelyn wird Sie gleich empfangen“, sagte die alte Nonne und lief die breiten Steinstufen der Treppe hinauf. Dann war sie im Haus verschwunden.

      Lächelnd warf Rachel ihrer Freundin einen Blick zu. „Es ist schön hier.“

      Neugierig sahen sie sich von ihrem Platz aus um. Neben dem Kloster grenzten die ebenso alten Ställe an, die noch immer fünf Pferde und zwölf Kühe beherbergten. Die Nonnen melkten die Kühe jeden Tag selbst, obwohl keine von ihnen je zuvor auf einem Bauernhof gelebt hatte. Diese und viele andere Aufgaben hatten sie sich mit der Zeit selbst angeeignet, um sich und ihren Gästen ein angemessenes Leben zu sichern. Hier draußen gab es keine Männer, die ihnen bei den schweren Arbeiten halfen.

      „Guten Tag“, sagte plötzlich hinter ihnen eine Frauenstimme in perfektem Englisch. Joan und Rachel wandten sich erschrocken um und standen einer jungen Nonne in schwarzer Tracht gegenüber. In ihren Augen lag ein freundlicher Ausdruck, als sie ihre Gäste anlächelte und die Stufen hinunterstieg. „Willkommen im St. Christoph’s. Ich bin Schwester Evelyn.“ Sie streckte ihnen lächelnd die Hand entgegen, worauf sie sich ihr vorstellten.

      Wie sie nach einigen Minuten von Schwester Evelyn erfuhren, war sie Amerikanerin und lebte seit ihrer Geburt im Kloster. Seit vier Jahren war sie in Mailand und verbrachte ihre Zeit im St. Christoph’s. Vor kurzem erst hatte sie ihren siebenundzwanzigsten Geburtstag gefeiert.

      „Mich haben die Erzählungen über das St. Christoph’s hergeführt. Ich wollte helfen“, erklärte sie ihnen.

      „Was ist so besonderes an diesem Zufluchtsort?“, fragte Joan verwundert, während Rachel Schwester Evelyn verstand.

      „Was die Nonnen hier erschaffen haben, wäre in Los Angeles niemals möglich. Schau’ dich um, dann verstehst du es“, sagte Rachel beeindruckt und Schwester Evelyn lächelte. Sie erinnerte sich an ihren ersten Tag, an den Anblick des Klosters, der sie sofort in seinen Bann gezogen hatte. Etwas Magisches, Geheimnisvolles ging von dem alten Gemäuer aus. Auch nach vier Jahren war sie gern hier, sie hatte ihre Entscheidung, Amerika zu verlassen, nie bereut. Hunderte von Kindern und Frauen waren seit ihrer Ankunft gekommen und wieder gegangen, aber der Schmerz in ihren Augen war immer derselbe. Die verlorenen Kinderaugen verbargen weder den körperlichen Schmerz, noch die Angst.

      „Wir sind auf Hilfe von Außen angewiesen“, erklärte Schwester Evelyn ihnen, während sie hinüber zu den Ställen gingen. „Derzeit leben fast dreißig Mädchen und Jungen und fünfzehn Frauen bei uns“, fuhr sie fort.

      „Wie viele Nonnen und Schwester kümmern sich um all das hier?“, fragte Rachel interessiert und ließ den Blick über die endlosen Felder hinter den Stallungen schweifen. Sie konnte sehen, dass darauf noch immer Obst und Gemüse angebaut wurde.

      „Siebzehn“, antwortete Schwester Evelyn in belanglosem Ton.

      Rachel blieb der Mund offen stehen. „Siebzehn Frauen bewirtschaften diese Felder, versorgen die Tiere und kümmern sich um fast fünfzig misshandelte Kinder und Frauen?“, fragte sie fassungslos. Ihre Bewunderung für die Nonnen stieg ins Unermessliche. „Das ist unglaublich.“

      An diesem Abend verließen sie erst nach sieben Uhr das St. Christoph’s. Rachel hatte die Oberin persönlich kennen lernen dürfen und ein sehr langes und interessantes Gespräch mit ihr geführt. Sie war davon überzeugt, ebenfalls helfen zu können, indem sie speziell für das Kloster eine Wohltätigkeitsveranstaltung mit Fotos und Gesprächssaussagen in Los Angeles organisierte. Dabei bekämen dann mögliche Spender erstmals einen näheren Einblick in die Arbeit einer Hilfsorganisation außerhalb Amerikas. Dankbar für jede Unterstützung willigte die Oberin ein und freute sich über die beiden jungen Frauen, die sie von nun an jeden Tag besuchen kämen.

      „Du begleitest Rachel?“, fragte Brian beim Abendessen seine Schwester überrascht, da sie nie zuvor sonderliches Interesse an Rachels Arbeit gezeigt hatte.

      „Ich möchte helfen“, erklärte Joan.

      Er lächelte. „Das finde ich gut.“

      Der Sommer verging mit ihren täglichen Besuchen im Kloster viel zu schnell. Obwohl ein Tag dem anderen glich, langweilten sie sich niemals in der Gesellschaft der Kinder und Frauen des St. Christoph’s. Morgens brachen Rachel und Joan zu ihrer einstündigen Autofahrt auf, verbrachten den Tag mit Gesprächen und Spielen im Kloster und fuhren am späten Nachmittag wieder heim, wo sie mit Brian zu Abend aßen.

      Im September brachte ein alter Mann zwei völlig verängstigte Mädchen ins Kloster. Er vermutete, dass sie sich tagelang auf seinem Hof versteckt hielten, ehe er die abgemagerten Mädchen entdeckt hatte. Ihre kleinen Körper waren mit Narben und frischen, noch blutenden Schrammen überseht, als der Mann sie zu ihnen brachte. Beim Anblick der ausdruckslosen Augen verkrampfte sich Joans Herz. Noch nie zuvor hatte sie etwas so grauenvolles gesehen.

      In den nächsten Wochen versuchten die Nonnen und auch Rachel den Mädchen, die vermutlich Schwestern waren, in Gespräche zu verwickeln, doch keine der Frauen brachte sie zum Sprechen, was vermuten ließ, wie tief die Angst der Mädchen saß.

      Als Joan eines Tages mit einer der Stuten über die Wiese gelaufen kam, sah sie, wie die Mädchen sie von der untersten Steinstufe des Klosters beobachteten. Langsam überquerte sie die Wiese weiter in Richtung der Stallungen und überlegte, ob sie zu den Schwestern hinüber gehen sollte. Irgendetwas schien die Mädchen an ihrem Anblick zu interessieren, denn noch nie zuvor hatten sie die Köpfe in der Gegenwart eines Erwachsenen erhoben. Selbst zu den anderen Kindern hatten sie keinen Kontakt aufgenommen, sie lebten für sich, zurückgezogen und immer auf der Hut.

      „Möchtet ihr eine Runde auf ihr reiten?“, fragte Joan die Mädchen aus einigen Metern Entfernung, ehe sie sich bewusst wurde, was sie da tat, denn sie hatte keinerlei Erfahrung mit misshandelten Kindern. Rachel war die Expertin, sie dagegen war nur mitgekommen, um die Kinder zu beschäftigen. „Traut euch ruhig, sie beißt nicht“, sagte Joan unsicher. Die Mädchen tauschten einen Blick und sahen Joan scheu an, die nun lächelte. „Ich verspreche euch, ich beiße auch nicht.“ Da standen die Schwestern in ihren weißen Kleidern tatsächlich von der Stufe auf. Die Jüngere der Beiden hielt sich dicht an ihre Schwester, die wiederum ihre Hand hielt. Mit langsamen Schritten kamen sie über den Rasen zu Joan und dem Pferd gelaufen.

      „Sie ist ganz zahm“, sagte Joan und streichelte der Stute über die lange Mähne. „Ihr könnt sie auch streicheln, wenn ihr wollt“, bot sie ihnen mit sanfter Stimme an und beobachtete, wie die Ältere der Schwestern die Hand ihrer Schwester losließ und näher an die Stute herantrat. Mit ausdruckslosem Gesicht berührte sie das Fell am Bauch der Stute und streichelte sie mit ihrer flachen Hand. „Das gefällt ihr“, sagte Joan lächelnd und das Mädchen schien sich in ihrer Gegenwart ein wenig zu entkrampfen. Sie schien zu spüren, dass von Joan keine Gefahr ausging. „Ich bin Joan“, stellte sie sich im beiläufigen Ton vor, während sie mit der Hand über die Nüstern der Stute fuhr. „Verrätst du mir eure Namen?“

      Das Mädchen hielt inne und sah sie scheu an. In ihrem Blick lag tiefe Angst. Wovor sie Angst hatte, wusste Joan nicht, doch sie hatte sie bei beiden Mädchen bemerkt, sobald sich ihnen jemand näherte. „Laila“, sagte die Ältere plötzlich und sah ihre Schwester an. „Das ist Celia.“

      „Ihr habt sehr hübsche Namen.“ Sie lächelte,