Blutige Nordlichter. Julia Susanne Yovanna Brühl

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Название Blutige Nordlichter
Автор произведения Julia Susanne Yovanna Brühl
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783741895944



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wiederzukommen, um die Suche fortzusetzen.

      Die Rotorblätter begannen sich erneut schneller und immer schneller zu drehen. Der Helikopter erhob sich in die Luft und flog durch den strömenden, nicht enden wollenden Regen zurück nach Osten.

      Eine aufmerksame junge Schwester, die im Moment nicht viel zu tun hatte, saß auf einem Klappstuhl neben Janinas Bett. In einem Krankenhaus, das sich in einem Ort befand, in dem nur so wenige Einwohner lebten und es noch eine zweite, modernere und viel größere Klinik gab, in der die ohnehin spärlichen Patienten untergebracht wurden – Norweger waren bekanntlich robust – hatte sie selten allzu viel zu tun.

      Mia, die kleine und natürlich ̶ wie auch sonst hier in Norwegen ̶ blonde Krankenschwester mit dem herzförmigen Gesicht, hatte die Geschichte der gelockten Schwarzhaarigen gehört. Sie empfand großes Mitleid mit ihr, denn sie befand sich etwa im gleichen Alter und hatte erst im vorigen Monat ihren Liebsten geheiratet. Mit 23 Jahren zu heiraten war ihren Freundinnen zwar arg früh erschienen, aber sie war sich sicher, dass sie und ihr „gagibaer“ füreinander geschaffen waren. Er hasste es zwar, vor anderen als Gummibärchen bezeichnet zu werden, aber insgeheim, wenn die beiden allein waren, nannte sie ihn nur so. Es war einfach der passendste Spitzname für ihr Schleckermäulchen.

      Ihre Hochzeit lag gerade einmal einen Monat zurück. Wenn sie an diesen großen Tag zurückdachte, wurde ihr noch immer ganz warm ums Herz.

      Wenn sie daran dachte, dass ihrem gagibaer etwas zustieße, Gott bewahre, dann wurde ihr ganz anders zumute. Die zierliche Gestalt mit den sorgsam hochgesteckten Haaren bekam allein bei diesem Gedanken nervöses Herzklopfen. Sie dankte Gott dafür, dass ihr Liebster keinen gefährlichen Beruf ausübte, doch wie schnell sich unvorhersehbare Unglücksfälle ereignen können, wusste sie aufgrund ihrer Arbeit nur zu gut.

      Sie warf einen Blick auf die friedlich schlummernde Janina und ließ ihren Gedanken freien Lauf.

      Wie viele Tragödien hatte sie schon in diesem Gebäude miterlebt? So oft war sie dabei gewesen, wenn Patienten verstarben oder, was ihr beinahe noch schlimmer vorkam, für den Rest des Lebens auf künstliche, lebensverlängernde Maßnahmen angewiesen waren.

      Und wie schon so viele Male zuvor, musste sie an einen bestimmten Vorfall denken.

      An den armen Jungen, der sich beim Spielen auf einer Scheune in der Entfernung verschätzt hatte und statt auf dem Dach des angrenzenden Stalles fünf Meter tiefer auf dem Betonboden gelandet war. Alle, einschließlich seiner Eltern und ihm selbst, wünschten damals, er hätte den Sturz nicht überlebt.

      Stattdessen wurde ihm das zweifelhafte Glück zuteil, diesen Unfall mit schwersten Verletzungen zu überleben. Mia hatte ansehen müssen, wie der Krankenwagen den Zwölfjährigen mit dem gebrochenen Genick in die Notaufnahme geliefert hat. Tage- und nächtelang hatten die Ärzte um sein Überleben gekämpft. Die gesamte Belegschaft hatte mitgefiebert und als sicher war, dass er am Leben bleiben würde, war die Erleichterung trotzdem getrübt. Denn es war absolut unklar, in wie weit er sich wieder erholen würde. Es stellte sich jedoch heraus, dass der Körper des Jungen unglaublich widerstandsfähig und sein Geist heil geblieben war. Dennoch diagnostizierten die Ärzte, dass er bis ans Ende seiner Tage nie wieder auf eigenen Beinen stehen würde.

      Er blieb vom Kopf abwärts gelähmt, konnte gerade einmal seinen Kopf und die Arme bewegen. Das Sprechen hatte er nicht verlernt, und mit sehr viel Mühe brachte er es irgendwann wieder fertig, mit den Fingern feinfühligere Bewegungen auszuführen. Alltägliche Dinge wie das Zähneputzen bereiteten ihm mit einem Mal große Mühe und er musste fast alles erst wieder neu lernen.

      Doch dieser Junge erwies sich als einer der größten Kämpfer, den Mia je getroffen hatte.

      Mia war sehr gläubig, weshalb sie vermutete, dass auch Gott hier seine Finger im Spiel gehabt hatte. Denn seinen Namen hatte der Junge der großen Freude seiner Eltern über ihr erstes und einziges Kind zu verdanken, die es Matthis, „das Geschenk Gottes“.

      Das Geschenk Gottes wurde damals mit einem Schlag – einem ultimativ harten Schlag – erwachsen.

      Er zeigte seiner Familie, wie sehr er sie liebte und er gab sein Bestes, so selbstständig zu werden und fröhlich zu sein, wie es ihm nur möglich war. Das Rollstuhlfahren lernte er rasch und auch für die vielen kleinen Dinge des Alltags, die ihm schwer zu schaffen machten, fand er nach und nach Lösungswege. Auch wenn er nun bei vielen Dingen auf die Hilfe anderer angewiesen war, versuchte er mit eisernem Willen zunächst alles selbst zu erledigen und bat erst im letzten Moment – mitunter auch beschämt – um Hilfe.

      Matthis großer Traum wurde es, an den Paralympics teilzunehmen. Da er, als er noch gesund war, mit Begeisterung Basketball gespielt hatte, war es das Natürlichste auf der Welt für ich, einem Basketballklub für Rollstuhlfahrer beizutreten. Nach einem halben Jahr wurde er zum internen Teamleader.

      Mia hielt es für eine großartige Sache, dass seit 1960 auch Rollstuhlbasketball eine anerkannte Disziplin bei den paralympischen Sommerspielen war.

      Da Mia Matthis Familie kannte und gelegentlich seine Mutter im Ort traf, wusste sie, dass er vor kurzem seinen sechzehnten Geburtstag mit einer großen Party gefeiert hatte und es gar nicht mehr abwarten konnte, bis er endlich achtzehn Jahre alt war und seinen Führerschein machen konnte. Ja, er hatte sich von verschiedenen Ärzten die Bestätigung geben lassen: Er würde später mit einem speziellen Auto für Behinderte fahren dürfen! Und wenn er erst zwanzig wäre, würde er an dem Paralympics 2020 teilnehmen.

      Bis dahin trainierte er weiter verbissen.

      Durch Matthis hatte Mia eine wichtige Lektion fürs Leben gelernt: Menschen brauchen Ziele im Leben, Dinge, die sie antreiben und natürlich auch Erfolgserlebnisse, für die es sich lohnt zu kämpfen.

      Matthis wusste es nicht, und es war völlig egal, dass er jünger war, als sie selbst: er war Mias Vorbild. Immer wenn sie ihre positive Einstellung zu verlieren drohte und, gerade zur dunklen Jahreszeit, wenn sie, wie so viele Bewohner des hohen Nordens, drohte, in depressive Stimmungen zu verfallen, dachte sie an diesen lebenslustigen Jungen.

      Matthis, dieser bedauernswerte Junge, konnte allem etwas Positives abgewinnen und er wurde dem Namen gerecht, den seine Eltern für ihn gewählt hatten.

      Er hatte gelernt, sich selbst, ganz ohne Arroganz, als das zu sehen, was jeder Mensch ist:

      Ein Geschenk Gottes.

      Dabei war es ihm völlig egal, ob oder von welchem Gott. Ein Lächeln huschte über Mias Gesicht, als sie daran dachte, wie sie einmal versucht hatte, Matthis Gott nahezubringen. Er hatte ihren Schilderungen von Jesus Christus aufmerksam zugehört. Dann hatte dieser Junge im Rollstuhl ihr geantwortet, dass er sich über Religion nie große Gedanken gemacht hatte.

      Ihm ging es einzig und allein darum, dass jeder Mensch in der Lage war, Dinge zu tun, die kein Tier vermochte. Sein Glaube bezog sich auf die Macht in seinem Inneren ...

      „Hallo?“

      Der eindringliche Ruf riss Mia jäh in die Wirklichkeit zurück. Sie war so in ihre Gedanken vertieft gewesen, dass sie gar nicht mitbekommen hatte, wie ihre Patientin erwacht war.

      Janina hatte lange und tief geschlafen und als sie mit brennendem Hals erwachte, verspürte sie den sehnlichen Wunsch, alles wäre nur ein Traum gewesen. Doch so viel Glück war ihr leider nicht vergönnt.

      Wenigstens brachte sie nicht den Klassiker „wo bin ich?“ zu fragen, denn dass dies hier ein Krankenzimmer sein musste, drang sogar in ihr benebeltes Gehirn hinein.

      „Bitte etwas zu trinken“, krächzte sie und Mia reichte ihr rasch ein bereitgestelltes Glas Wasser. Janina leerte es in einem Zug und hielt es ihr bittend erneut hin. Mia füllte nach.

      Als der größte Durst gelöscht war und ihr Magen vernehmlich knurrte, erinnerte sie sich daran, wo und vor allem, warum sie hier war. Ein Wasserfall an Fragen sprudelte aus ihrem Mund. Alle körperlichen Bedürfnisse waren vergessen, sie brauchte Antworten!

      Sie brauchte, wollte, sehnte sich nach ihrem Hendrik.

      Mia