Leben verboten!. Maria Lazar

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Название Leben verboten!
Автор произведения Maria Lazar
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754174296



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Da geht sie aus, sich zu suchen. Sie schleicht, sie kriecht fast durch die Zimmer. Sie betastet die Stühle mit den verbogenen Füßen, die überflüssigen Vasen, den Samt der Vorhänge. Überall war Mutter. Und noch Richards Bücher. Und ein paar gestopfte Handschuhe von Martha. Aber Ruth war nirgends.

      Da überfiel sie eine Qual, die sie zu Boden schlug, sich wie ein Strick um ihren Hals legte und würgte ...

      Mutter kam von Lohengrin und war entzückt, wie immer. Sie liebte derbe Romantik und laute Musik. Dann sang sie den Hochzeitsmarsch mit ihrer kräftigen Stimme. Ruth sah sie an wie eine Fremde.

       Richard war zufrieden, wie nach einer gut überstandenen Prüfung. Und Martha jammerte, daß ihr Schal ein Loch bekommen hatte. Ruth war nur ganz verwundert.

      Aber dann setzte sie sich auf Mutters Bett, tief hinein. Sie starrte in das schläferige Weiß des Linnens und wünschte sich klein zu sein und Fieber zu haben.

      Mutter sagte: – Aber jetzt geh schlafen. Und warum bist du heute so blaß? Was hast du denn? Geh nur schlafen und gib mir noch vorher meinen Roman.

      Richard meinte gähnend: – Möchte nur wissen, warum du deinen Sitz hast verfallen lassen. So was Dummes.

      Ruth wußte nur: – Wenn ich den Kasten aufmachen muß, werde ich wahnsinnig. Da ist ein Abgrund drinnen, der stürzt über mich, der erdrückt mich durch seine Leere. Und dann wissen sie alles. Oh, die Schande. Dann bin ich ausgezogen. Nackt vor allen. Auf der Straße. Mein Körper ist voll eiternder Wunden, oh, die Schande.

      Der liebe, lichte Kirschholzkasten stand glatt in ihrem dunklen Zimmer.

      Nach zwei Tagen sagte das Stubenmädchen: – Wenn Fräulein Ruth nicht den Kasten aufmachen, kann ich den grauen Mantel nicht zum Putzen tragen.

      Die Schande.

      Und Mutter sagte: – Wenn du den Schlüssel verloren hast, lasse ich den Schlosser holen.

      Die Schande.

      Sie weinte heraus: – Ich will nicht.

      – Ich glaube wirklich, du bist krank, meinte Mutter.

       Aber Richard rief aus dem Nebenzimmer: – Geh, mach dich nur nicht interessant.

      Oh, die entsetzliche Schande.

      Und sie wird sich zwingen lassen.

      Was tut sie nur den ganzen Tag. Sie geht herum und erklärt es ihm, ihm, zu dem sie nie mehr kommen wird. Sie macht ihm alles begreiflich, er versteht es, er weiß es, er weiß ja alles. Wie kommt es nur, daß er ihr so ähnlich ist. Oder sie ihm –

      Sie nimmt zum zehntenmal ein neues Staubtuch und wischt alle Möbel ihres Zimmers ab. Damit sein Duft doch endlich weggehe. Und wäscht sich dann die Hände mit kochend heißem Wasser.

      Am nächsten Abend sagte die Mutter: – Wenn du dir morgen nicht ein anderes Kleid anziehst und den Kasten aufsperrst, so hol ich den Schlosser. Also überleg es dir.

      Ruth stand an ihrem Fenster und sah in die schmutziglaue Sommernacht hinunter und fühlte: Warum kann Mutter, die den Lohengrin so gern hat, die so nobel ist, wenn Gäste kommen, so zu mir sein? Warum stehe ich hier und schau auf eine staubige Straße, wo doch draußen die vielen Felder sind mit den endlosen Schienen – in die Ferne gleiten – und warum –

      – Ich muß jetzt Bett machen, sagte das Stubenmädchen und zündete das grelle elektrische Licht an. Ruth sah auf sie. Auf ihre kräftigen Arme, die fast aus der Bluse quollen, ihre übermütig starken Hüften, ihre brennend heißen Wangen. – Hören sie, Agnes, sagte sie heiser und ging ganz nahe zu ihr ... Sie waren jetzt unten, da beim Haustor und er war dabei, o bitte, sagen Sie nicht nein, ich habe Sie ja gesehen ... Nein, Sie müssen nicht schreien, aber sagen Sie mir doch bitte, war es der selbe, mit dem ich Ihnen begegnet bin, damals, Sie wissen schon, wie ich im Konzert war, aber so sagen Sie doch. – Nein, sagte Agnes, mehr verblüfft als verlegen. – Aber eines, Agnes, müssen Sie mir noch sagen. War es schön, unten jetzt, meine ich, war das schön – Oh Gott, sagte Agnes, nein, das ist nichts für Sie, Fräulein. – Hören Sie, Agnes, und Ruth kämpfte mit ihrem Atem, Sie haben so starke Arme. Agnes, liebe Agnes, ich habe meinen Kastenschlüssel verloren. Mama ist sehr böse. Nehmen Sie das Küchenmesser, das große, und machen Sie mir den Kasten auf, nicht wahr, Sie tun es. Aber leise, ich geh einstweilen in das Speisezimmer. Und kein Wort davon, Agnes, Sie verstehen. Die Kleider hängen Sie über Nacht ins Vorzimmer, aber es darf niemand davon wissen, und zeitlich früh wieder herein, o ja, Agnes, Sie verstehen, sie tun es gleich –

      – Ich verstehe schon, Fräulein Ruth, sagte Agnes mit blödem Lachen.

       Die Mutter

      Ich liebe Mutter, dachte Ruth. Kein Mensch weiß, wie groß sie ist und stolz. Es ist schade, daß das niemand weiß. Aber ich kann es ja auch nicht vertragen, daß sie die Türen zuwirft und durch die Zimmer läuft. Daß sie mit dem Mädchen schreit.

      Sie flüchtete in Gärten. In kleine, engbrüstige Vorstadtgärten mit zerrauften Büschen und wackligen Bänken. Mit großen Sandhaufen voll schmutziger Kinder.

      Sie ging hin, weil sie dort noch niemals, niemals gewesen war. Und saß brutheiße Sommernachmittage durch und versuchte nur an Mutter zu denken und ihn zu vergessen.

      Denn noch immer verfolgte sie sein Blick wie ein dunkles Band, das so weich war, wie das Innere seiner Hand, so daß man nichts wünscht, als sich hineinlegen zu können und nichts mehr weiß von Steinen und Bergen. Wie im Sand vor dem Meer.

      Als sie einmal so saß, den Kopf in den Händen, mitten unter Proletarierfrauen und Ladenmädchen, setzte sich jemand ganz nahe neben sie. Sie fühlte nur immer den Blick, das Band, wie es sich um ihre Stirne legte und alle Nerven, den Rücken hinunter strich. Jemand sagte zu ihr: – Fräulein, gestatten, daß ich mich zu Ihnen setze. Neben ihr war ein Commis voyageur mit aufgewirbelten Schnurrbartspitzchen und rot geblümter Krawatte. Noch empfand sie den weichen Abgrund, der zu tief war, um zu duften und sah sich doch hier unter kleinen Leuten, im kleinen täglichen Leben, rundherum der graue Spielsand. Sie lachte ihrem Nachbarn ins Gesicht, laut und plötzlich, daß er zurückfuhr. Dann ging sie. Hinter ihr schimpften die Proletarierfrauen.

      Sie mußte immer von zuhause weggehen. Denn, wenn sie zuhause war, liebte sie Mutter nicht und das war doch schon ganz unmöglich.

      Mutter sagte zu Richard: – Man sollte doch sehen, wo das Kind sich herumtreibt. Sonst dachte sie nicht weiter an Ruth. Nur in der Nacht wachte sie manchmal auf und wurde unruhig. Sie meinte, das käme von ihren angegriffenen Nerven und nahm Schlafpulver.

      Daß etwas ihr Fremdes in Ruth vorging, wußte sie. Soweit sie überhaupt wissen konnte, was sie nicht wissen wollte. Und sie wollte nichts wissen, was sie nicht seit ihrem zwölften Jahr kannte und besaß. Das beleidigte sie schon durch seine bloße Existenz.

      Für sie war Ruth das Kind. Das etwas verträumte Kind, das sie unbedingt liebte, weil es ihr Kind war, das sie bemitleidete, weil es das Kind ihres Mannes war. Und das sie deshalb schützen zu müssen glaubte.

      Solange Ruth klein war, sagte sie mit Stolz zu allen Verwandten: – Das Kind wird ganz wie ich. Und Ruth war fast ebenso angesehen im Hause wie Richard. Aber mit zehn Jahren enttäuschte sie ihre Mutter zum erstenmal. Von da an immer wieder.

      Sie ging mit Mutter an einem naßkalten Novembertag durch die Stadt, Einkäufe machen. Sie war traurig, weil alle Leute in den Geschäften unfreundlich waren, die Herren dicke Tröpfchen im Bart hatten und die Damen in zu kleinen Schuhen gingen, die sicher weh taten. Weil sie eine erfrorene Nase hatte und einen häßlichen Hut. Deshalb dachte sie an ein Schloß im Hochsommer und zerbrach sich den Kopf, wie sie dort Rosensträucher und Marmorbrunnen verteilen sollte. Da kam ein Bettler. Er war so wie alle anderen Bettler auf der Welt. Die selbe verkrüppelte Demut, die Geschäfte macht und ihre Krücken schwingt. Schamloses Elend. Mutter sagte: – Gib ihm zwei Kreuzer. – Nein, erwiderte das Kind, ich mag nicht. – Was, rief die Mutter entsetzt, warum? Oh, du bist schlecht. – Ja, sagte sie, ich bin nicht gut, ich kann alle Bettler nicht leiden.

      Damals