Leben verboten!. Maria Lazar

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Название Leben verboten!
Автор произведения Maria Lazar
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754174296



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sie verzweifeln ließ und dem sie nun entflieht, von heute an.

      Es ist merkwürdig, dachte Ruth, daß ich die ganze Nacht geschlafen habe. Es ist überhaupt merkwürdig, daß man bei einem großen Unglück doch ganz bleibt, wie sonst. Nur alles andere wird anders.

      Und wieder sieht sie auf den hellen freundlichen Kasten. Und vergleicht ihn mit dem lieben Gott. Sie möchte die Hände falten, ganz wie damals. Und kann es nicht mehr. Und fürchtet sich, ganz wie damals.

      Denn da ist sie wieder, die alte Kinderangst, über die sie schon hinweggegangen zu sein glaubte mit hochmütig erwachsenem Schritt. Die Angst, die die Nacht fürchtet und die blasse Frühlingsdämmerung. Die sich krümmt unter der Eintönigkeit des Mittags. Die Angst, die auf der Schulbank hockt neben dem patzenschwarzen Tintenfaß, den strengen Scheitel der Lehrerin streift, die nach zerkauten Federstielen schmeckt und liniertem Papier, die Angst, die aufschreit in einsamen Nächten und keinen Ausweg findet durch den fest verschlossenen Mund. Die von Leichenzügen träumt und alle Pest und Hungersnot der Jugendbüchereien durchlebt hat.

      Wer ist sie heute? Was war sie seit der Zeit, als sie in kurzen Röcken über die Gassen lief und das Zopfband verlor? Ist sie bestohlen, beraubt?

      Nein, Ruth wußte es, sie war mißhandelt worden. Eine zarte Hülle blieb übrig, die leben wollte. Und was war in ihr? Was roch wie die lebendig gewordene Wissenschaft? Was klebte an ihren Händen, in ihren Haaren, in ihren Kleidern? Was füllte den lieben, alten Kasten?

      Da wird sie sich einer furchtbaren Gefahr bewußt: Leer werden. Leer – was heißt das, was ist das? Leer – das sind die Augen in Totenschädeln.

      Sie will nach der goldenen Fülle greifen. Und das Licht kann nicht herein und dahinter steht das Nichts, das Leere.

      Leer – das heißt ihn verlieren, ihn verloren haben. Und die Wucht seiner Schmerzen, die Qualen seiner Einsamkeit.

      Hoch aufgerichtet steht sie vor dem Bett. Sie sieht an sich herunter. Bis zu den schlanken, braunen Knöcheln. Und haßt sich.

       Leer – das ist das Stück vom Fenster hinab bis zu dem harten Pflaster. Worauf die Menschen ihren grünen Schleim spucken und das die Hunde beschmutzen.

      Frei sein und leer sein und weniger als elend sein –

      – Fräulein Ruth sollen zum Frühstück kommen. – Ruth sah das große überkräftige Stubenmädchen mit der hohen vergnügten Stimme. Und wußte: heute abends geht sie aus, da wartet einer unten auf sie, vielleicht der vom letztenmal oder auch ein anderer.

      – Ruth, rief die Mutter aus dem Nebenzimmer. – Ich komme, antwortete sie mit einer Stimme, die voll Musik und Jubel war.

      Mutter stand in der Sonne. Und Mutter war lebendigstes Gewesensein.

      Mutter ging alle Morgen nachsehen, ob das Mädchen gut aufgeräumt habe. Sie ließ keinen Stuhl so stehen, wie diese ihn gestellt hatte. Mutter wollte ein eigenes Haus haben, wie sie sagte. Ob dieses Haus besser war, als alle anderen, ist nicht bestimmt. Aber daß es anders war als alle anderen, daß es ihr eigen war und nur durchtränkt von der kindhaften Unruhe ihrer zu langen Finger, die niemals jung gewesen sein konnten, daß ihr Haus fremd und versperrt war allen, die nicht ihres Blutes waren, das hatte sie erreicht. Und Ruth empfand es mit einem Stolz, der sich selbst nicht anerkennen will.

      Mutter küßte Ruth, wie man ein Stück Eigentum küßt oder ein Stück von sich selbst. Und Ruth fühlte die Schmerzen der vergangenen Nacht ganz klein werden und wollte weinen.

      Mutter frühstückte nicht mit. Sie war nie imstande eine Mahlzeit durch sitzen zu bleiben. Sie mußte immer rasch noch etwas anderes tun.

      Mutter war groß. Aber nicht groß genug für das, was sie der Welt zeigen wollte. Deshalb schien sie fast klein.

      Und auch ihre Wohnung war groß. Aber zu klein, um sich vor allen zurückziehen zu können. Denn das wollte sie. Deshalb waren die hohen Räume eng und drückend.

      Als Ruth mit dem schmalen, silbernen Brotmesser das Brot schnitt, empfand sie einen seltsamen Besitzerstolz und dachte: zuhause sein.

      Sie hatte keinen anderen Wunsch, als Mutters Kleid zwischen beide Hände fassen zu können, ganz, ganz fest. Wie gut war es, daß Mutter immer so alte Kleider trug. Und schon wollte sie aufspringen und Mutter alles sagen –

      Da kam Richard herein. Nein, sie konnte nicht. Richard war zu klug. Und Richard war Mutters Sohn. Von so etwas konnte sie nie zu Mutter sprechen.

      Und Martha war Mutters Tochter. Martha war häßlich und verbittert. Wenn sie die Tür aufmachte, war das Zimmer voll Lärm. Da konnte Ruth von so etwas doch nie zu Mutter sprechen.

      Ruth wußte nicht, daß Mutters Leben nur Enttäuschung war, die nicht eingestanden werden durfte. Und daß Mutter so grenzenlos arm war, weil sie nie den Mut gehabt hatte, das zu erkennen.

      Mutter war so klug, daß sie die Dinge nicht wirklich sah, sondern in Karikatur auf dem Hintergrund ihrer Wünsche und Vorurteile. Aber sie sah sie alle bis auf eines: Das war sie selbst. Sie wußte so wenig von ihrer eigenen Existenz wie ein ganz kleines Kind. Und ahnte nicht, daß sie selber auch etwas beigetragen habe in der Symphonie der Ereignisse, die ihr enges, tiefes Dasein bildeten.

      In ihrer Jugend hatte sie nur eines gekannt: Die Pose. Die Verwandten und Freunde, ja selbst der Kutscher ihres väterlichen Hauses sprachen mit Handbewegungen, wie Schauspieler in ihren Rollen. Das hatten sie von ihrem Vater gelernt. Dessen ganzes Leben ein großer Faltenwurf war. Hinter dem steckte nichts als Jagd und Rausch und etwas Verwesung. Aber ihre Mutter war träge.

      Sie hatte nie den Mann gefunden, den sie lieben konnte. Das wäre auch nicht so nötig gewesen, nur hätte sie sich Zeit nehmen sollen, ihn zu suchen. Denn nur dann hätte sie sich entwickeln können.

      Aber sie zerschnitt sich alle Möglichkeit weiterzukommen, indem sie in früher Jugend einen Mann heiratete, der vielleicht ein Heiliger geworden wäre, wenn sie ihn unter Menschen gelassen hätte. Denn er liebte die Welt mit der zarten, naiven Freude junger Knaben, die an einem Frühlingstag ein blühendes Tal durchstreifen. Aber sie hielt ihn als Eigentum, wie ihr Vater Pferde und Bediente gehalten hatte. Sie sperrte ihn ein in Räume, die von ihren Atemzügen übersättigt waren. Daß seine weiche Menschlichkeit zur Seite treten mußte und sein säurenscharfer Verstand allein ihn beherrschte. Er rechnete Tage und Monate und Jahre. Als seine große Erfindung fast fertig war, starb er. Aber noch eine Stunde vor seinem Tod erzählte er das Märchen vom Schneewittchen. Denn er hatte immer Königstöchter geliebt, die eigentlich kleine Mädchen waren und in rote Äpfel bissen. Die ein bißchen Puppentheater an sich hatten.

      Ruth hatte Vater gegenüber ein schlechtes Gewissen. Weil Mutter alles war, weil Mutters große, vielgliedrige Hände auf ihren Augen gelegen waren, wenn sie zu Vaters Schreibtisch sehen wollte.

      Als sie noch ganz klein war, hatte er sie einmal in eine Konditorei geführt. Es war ein schneidend kalter Wintertag und ein elendes Geschäftchen in der Vorstadt. Dort kaufte er Bonbons, einen großen Sack voll großer, dicker, gelber, malziger Bonbons. Und gab sie ihr mit dem vergessen gütigen Lächeln, mit dem Christus das Brot an die Zehntausenden verteilt. Da wurde sie traurig. Am Abend saß er an seinem Schreibtisch und Mutter schalt mit der Köchin. Ruth ging in das dunkle Vorzimmer, steckte den Kopf in seinen Winterrock und küßte, küßte das weiche, kalte Tuch. Später sagte Richard: – Gib mir davon. – Sie hielt den Sack fest zu. – Du bist geizig, sagte Richard. – Gib! – Sie preßte den Sack an sich. Da schlug er sie. Sie weinte. Er zerriß das Papier. Aber sie kämpfte um jedes einzelne Bonbon. Und legte alle unter ihren Kopfpolster. So war Vater. Aber Richard konnte das nie verstehen. Und sie hatte viel Respekt vor Richard. Fast noch mehr als vor Mutter.

      Am Abend sagte Mutter: – Warum bist du noch nicht angezogen. In einer Stunde müssen wir im Theater sein.

      Ruth dachte an den Kleiderkasten. An den dunklen Duft, der aus ihm herausströmen soll. Und sie empfindet das dunkle Band, das von weither kommt und sich um alle ihre Glieder legt, schmiegt, sich einschneidet in die furchtsame Haut.

      Und sie weiß, wenn sie