RETROGRAD. Paul Datura

Читать онлайн.
Название RETROGRAD
Автор произведения Paul Datura
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742754875



Скачать книгу

suchte einen Ausweg. Er musste von diesem Weg abbiegen und irgendwo untertauchen. Sich verstecken? Oder lieber rennen? Er konnte die Kondition seiner Verfolger nicht einschätzen. Vorher hatte der Mann mit dem Messer allerdings keinen erschöpften Eindruck hinterlassen. Also verstecken? Bloß wo? Wo kann man sich in einer Wohnsiedlung vor Verfolgern, die einem vermutlich das Messer rein rammen wollten, am Besten verstecken? So langsam geriet er in Panik. Er wagte es, sich um zu drehen und sah drei Männer den schlecht beleuchteten Spielplatz überqueren. An der Wegkreuzung unterhalb der Reihenhäuser blieben sie stehen. P. versteckte sich schnell hinter einem Mülleimerschrank aus Waschbeton. Schwer atmend sah er, wie sich die Männer kurz berieten und sich dann aufteilten. Bea hatte Recht gehabt. Wenn sich die verfolgten zukünftigen Opfer aufteilten, erhöhten sich die individuellen Chancen des Einzelnen. Allerdings lief jetzt ein Mann schnell und suchend um sich blickend den Weg in seine Richtung. Er versuchte sich tiefer hinter den steinernen Schrank zurückzuziehen. Dabei stieß er mehrere Gegenstände um. Mit einem schnellen Griff fing er den größten Gegenstand gerade noch rechtzeitig auf, bevor er lärmend auf sein Versteck aufmerksam machen konnte.

      Er blickte zur Seite und sah in ein grinsendes Gesicht. Ein Gesicht mit aufgemalten Bart und mit Zipfelmütze. Er hatte einen großen Gartenzwerg aus Ton in der Hand. Da er sich gerade in der Hocke kauernd hinter dem Schrank versteckte, war der Zwerg Auge in Auge mit ihm und grinste ihn an. Wenn er mehr Zeit gehabt hätte, wäre das ganz schön gruselig gewesen. Oder lustig. So etwas könnte man an einem dunklen Lagerfeuer den Kindern als Gruselgeschichte erzählen. Viel gruseliger fand er, dass der Verfolger inzwischen näher gekommen war. Er hinkte leicht und bewegte sich auch nicht besonders schnell. Entweder hatte dieser Mann Probleme beim Gehen oder er wusste das P. die Flucht aufgegeben hatte und sich versteckte. Ersteres könnte er ausnutzen. Ein langsamer Verfolger wäre seine Chance. Durch die lichte niedrige Hecke geschützt, konnte P. seinen Verfolger beobachten. Das war einer der Gangster, der vorher mehrmals in Gesicht geschlagen worden war. Und den Tritt in die Hoden hatte er noch nicht ganz verdaut. Man konnte ihm ansehen, dass er Schmerzen hatte. Jetzt griff sich der Mann in die Jacke und holte etwas Glänzendes aus der Innentasche. Eine Schusswaffe. Das warf die Fluchtplanung von P. über den Haufen. Gerade hatte er sich gut vorstellen können, dem Gangster einfach davon zu laufen. Jetzt waren die Vorteile wieder bei dem Verfolger. Er würde ihn mit einer Schusswaffe auf jeden Fall erledigen. P. hatte zu lange gewartet. Der Mann kam immer näher. Seine Chance der schnellen Flucht war vorbei.

      Der Verfolger sprach leise fluchend mit sich selber: »Wenn ich diese Mistbande kriege, werde ich erst dem einen die Eier wegtreten und dann die Tussie schön langsam...«

      Der Mann kam immer näher. P. war verzweifelt. Er würde ihn hier hinter diesem eher schlechten Versteck auf jeden Fall entdecken. Als hätte der Mann gerochen, daß P. in der Nähe sein musste, ging er ein wenig in die Knie und zielte mit seiner Waffe mit beiden Händen in alle Richtungen.

      ›Das ist ja wie in einem schlechten Film‹, stöhnte P. für sich. Als er dann in das grinsende Gesicht des schweren Gartenzwerges schaute, keimte in ihm ein verzweifelter Rettungsplan. ›Das könnte klappen‹, machte er sich selbst Mut.

      Der Mann war auf der Höhe seines Verstecks. Er war inzwischen noch weiter in die Knie gegangen. Und ging sehr langsam vorwärts.

      P. stand auf und sagte: »Hey!«.

      Der Gangster sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Er hatte blutige Lippen. Er war trotz seiner militärähnlichen Vorgehensweise überrascht worden. P. holte leicht seitwärts mit dem schweren Tongartenzwerg aus. Mit voller Geschwindigkeit traf er mit der ungefähr einen Meter großen Tonfigur die Seite des Kopfes seines Verfolgers. Ein lautes tönernes Geräusch klang auf.

      ›Wie eine buddhistische Glocke‹, schoss es P. durch den Kopf. Er mochte den Buddhismus. Doch was er gerade machte, würde sein Karma nicht verbessern.

      Der überraschte Schrei des Mannes brach plötzlich ab. Wie von einem Blitz getroffen fiel der Mann rückwärts zu Boden und blieb still auf dem Rücken liegen. Er rührte sich nicht, streckte alle Gliedmaßen weit von sich und gab auch keinen Ton von sich. Die Waffe rutschte in die Garageneinfahrt des Reihenhauses.

      ›Hoffentlich ist der nicht tot‹, dachte sich P., bevor er sah, wie sich sein Opfer langsam und stöhnend bewegte.

      ›Der kommt ja schon wieder hoch! Wie war das immer in den Horrorfilmen? Auch wenn der Sieg sicher scheint. Lieber noch einmal draufhauen auf das Monster!‹

      Er nahm Anlauf und trat dem am Boden liegenden Mann mit einem langen Schwung zwischen die beiden Bundfaltenoberschenkel. Der Mann ließ sofort seinen Kopf, den er gerade ein wenig gehoben hatte, fallen und blieb bewegungslos liegen. P. schnappte sich die Waffe, die in der Einfahrt lag und warf sie in einem hohen Bogen auf das Dach des Hauses. Sie rutschte auf den Dachziegeln herunter und blieb mit einem metallischen Klappern in der Dachrinne liegen. Er zuckte mit den Achseln, wandte sich um und rannte schnell den Weg entlang. Ohne zurückzuschauen, bog er nach rechts in einen zweiten Weg ein und verschwand zwischen den Häusern.

      P. betrat das Café und blieb am Eingang stehen. Am Türrahmen waren einige Glöckchen befestigt, die melodisch klingelten und seinen Besuch wem auch immer ankündigten. Er war hier noch nicht so oft gewesen. Deshalb musste er sich erst mal orientieren. Außerdem konnte er seit kurzem sowieso nirgends mehr hineingehen, ohne sich mit einem Rundumblick zu überzeugen, dass keine Gefahren vorlagen. Irgendwelche Typen, die einem an den Kragen wollten oder ihre scharfen Dinge an ihm ausprobieren wollten. Das Café war ein ehemaliges Freak Café. Oder eher ein Frauen Café. Er war hier schon einmal einfach hineingegangen und hatte sich an einen Tisch gesetzt. Als er etwas bestellen wollte, sagte die Bedienung nur schnippisch: »Heute ist Frauentag. Männer werden heute nicht bedient« Das war jetzt zwar ewig her, aber seitdem war er nicht wieder hier reingegangen. Aber heute wollte er es wieder versuchen. In diesem Laden konnte er sich keinen Killer mit Lederjacke und Bundfaltenhose vorstellen. Hier würde er sich sicher fühlen können. Und vor allem würde hier jeder einigermaßen gewaltbereite Mann wie ein bunter Hund auffallen. Zufrieden fand er einen freien Tisch am Fenster. Dicke Vorhänge verhinderten den Blick nach draußen auf die Straße. Auf dem Tisch lag die Taz, eine Zeitung, die er gerne ab und zu las. Das war genau das, was er jetzt brauchte. Seine Ruhe hinter einer Zeitung. Die Bedienung war eine junge Frau mit Rastalocken und einem Sweatshirt mit abgerissenen Ärmeln und einem sehr großen Ausschnitt. Dadurch konnte er den Hals, die Schulter und den Oberarm mit der kleinen Tätowierung besser sehen. Er hatte aber kein Interesse. Er warf ihr nur einen kurzen Blick in die Augen und bestellte einen doppelten Espresso und ein großes Bier. Die Mischung würde ihn gleichzeitig aufmuntern und beruhigen. Er hatte in letzter Zeit zu wenig Schlaf. Eindeutig zu wenig. Er hatte sich gestern Abend, vermutlich im Schockzustand, mit mehreren Umwegen und Zwischenstopps nach Hause geschlichen. Einmal hatte er sich sogar in einer dunklen Tiefgarageneinfahrt versteckt und gewartet, ob ihm jemand folgte. Voll die Paranoia! Wenn er LSD oder so etwas genommen hätte, würde er vermuten er hätte einen Horrortrip. Bis auf den schönen Zwischenteil mit Bea war dieser Abend total beängstigend gewesen. Wobei er keine Angst empfand, sondern nichts. Einfach nichts. Er war nur vorsichtig. Deshalb würde trotzdem jeder Unbeteiligte, der ihn gestern Nacht heimgehen sah, ganz sicher behaupten, er habe einen total paranoiden Drogenheini mit Horrortrip gesehen. Er hatte sich immer wieder nach allen Richtungen umgesehen und war praktisch von Schatten zu Schatten gehuscht. Daheim angekommen hatte er erst einmal einen großen Cognac gekippt und danach noch einen großen Cognac. Und das ging dann so weiter bis seine Zigaretten aus waren und er versuchte zu schlafen. An Zigaretten holen war wegen der Paranoia nicht zu denken. Er zermarterte sich den Kopf, was die beste Strategie wäre, mit dieser Sache umzugehen. Kam aber auf keinen grünen Zweig. Und so fing er wieder von vorne an. Wer war Bea? Hatte der Typ, der umgebracht wurde, Bea gekannt? Und was wollten die Killer von ihm? Und was von Bea? Und was hatte es mit diesem Lederbuch auf sich und was mit dem Schlüssel? Er würde warten müssen. Und Bea treffen. Im Vogue. Und er hätte dann echt viel zu fragen. Und Bea hoffentlich viel zu erzählen. Um sechs Uhr morgens war er in seinem Sessel eingenickt. Da die Vögel schon entnervend laut zwitscherten, wachte er später wieder auf und schleppte sich ins Bett. Viel später hatte dann das Telefon geklingelt. Er war aber nicht dran gegangen, obwohl er sich ein Telefon in Form einer grüne Gurke auf