RETROGRAD. Paul Datura

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Название RETROGRAD
Автор произведения Paul Datura
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742754875



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auch jetzt keine Luft mehr.

      ›Jetzt ist Schluss!‹, dachte er panisch. ›War's das schon?‹

      Ihm wurden schlagartig die Beine unter dem Körper weggezogen. Er wankte um die Kurve auf den Menschenstrom zu und fiel haltlos auf den Rasen. Er schlug hart mit dem Jochbein auf den trockenen Boden unter dem kurz geschnittenen Rasen auf. Und krampfte sich zu einer schmerzverzerrten Figur am Boden zusammen. Er spürte warme Flüssigkeit an seinen Oberschenkeln. Die Grashalme waren ganz groß, einer stach in sein Auge.

      Und jetzt fiel es ihm alles wieder ein! Bea und das Buch! Tubes! Joe Jackson! Und King Crimson! Moonchild!

      Mehrere Menschen kamen zu ihm gelaufen. Ihm schwanden die Sinne. Er fühlte sich wie ein alter Fernseher. Wenn die Bildröhre versagte. Und alles auf einen kleinen Punkt in der Mitte des Schirmes zusammenschrumpfte. Ihm wurde kalt. Sehr kalt. Und der kleine weiße Punkt auf dem Bildschirm verschwand ganz.

      Schwarz.

      Er lehnte sich an die Theke der Bar »Bei Toni« und hatte gerade seinen zweiten Carajillo ziemlich schnell nach dem ersten getrunken. Mit seinen einmeterneunzig musste er sich ein wenig rund machen, um sich müde auf die Theke stützen zu können. Er sah mit den kräftigen breiten Schultern und seinen braunen Haaren ganz gut aus. Um die braunen Augen waren jedoch dunkle Ringe zu sehen. Offensichtlich total übernächtigt sah P. trotz seiner nur 25 Lenze eher zehn Jahre älter aus.

      ›Kaltstart‹, dachte er und hatte ein bisschen weiche Knie, als ihm das Koffein und der Alkohol so durch die Blutbahn flutete. Er hatte eine ziemlich harte Woche hinter sich. Jeden Tag unterwegs bis in die Puppen. Das Aufstehen, um zur Arbeit zu gehen war hart. Heimkommen und tot auf dem Sofa verenden wollte er auf keinen Fall. Deshalb war er heute hier und hatte diese kleinen Muntermacher bestellt. Espresso mit Cognac.

      Er wollte auch seinen Urlaub feiern. Er hatte jetzt drei Wochen frei! Geplant hatte er noch nichts. Aber bisher hatte sich ihm anstatt einer Urlaubsplanung immer irgendetwas aufgedrängt. Spontan an das Mittelmeer fahren oder etwas in der Art. Zur Not konnte er auch hier in der Bar Urlaub machen. Insgesamt musste er vielleicht auch deshalb noch ziemlich an seiner Feierlaune arbeiten. Eigentlich war er schlecht gelaunt und müde.

      Die Bar war mäßig besucht. Hinter der Theke war Christoph am Arbeiten. Christoph konnte wunderbare Drinks mischen. Mit der Mischerei und dem ganzen Drumherum machte er die Mädels ganz wuschig. Christoph könnte niemals einen Drink normal einschenken. Er musste die ganze Rezeptur aus zerstoßenen Eis mit verschiedenen Zitrusfrüchten und irgendwelchen aromatischen Blättern immer mit großem Hallo durch das Edelstahlsieb in die dekorierten Gläser gießen. Dabei hatte er ziemlich Spaß. Und die Mädels auch. Der Chef der Bar war Toni. In solchen Bars hießen die Chefs eigentlich immer Toni oder Luigi. Manchmal auch Hakan, aber diese Bars waren seltener. Dieser hier hieß Toni und überzeugte durch eine überhebliche Blasiertheit neue Gäste davon, dass sie echt bevorzugt behandelt wurden, wenn er sie überhaupt bemerkte. Naja egal. Auf jeden Fall war er hier und würde nicht nach Hause gehen.

      Die nette Dunkelhaarige mit den braunen Augen war ihm schon beim Hereinkommen aufgefallen. Sie hatte sich sofort von Christoph vereinnahmen lassen und einen exotischen Drink mit Kokosrand und Hütchen vor sich stehen. Allerdings konnte der goldlockige Christoph ihre Aufmerksamkeit nicht lange auf sich ziehen. Sie hatte sich umgedreht und saß mit dem Rücken an die Theke gelehnt auf dem Barhocker. Christoph machte sich mit einer professionellen Fröhlichkeit an die üblichen Arbeiten hinter der Theke. Und drehte die Musik um einiges lauter. Guter Sound eigentlich. Schade nur, dass man sich so nicht ein kleines Bisschen unterhalten konnte. Bei seiner Laune wäre eine Unterhaltung aber sowieso zu viel verlangt. Oder für andere schwer zu ertragen. Als er sich wieder umdrehte und nach der netten Braunäugigen schauen wollte, war sie weg. Es stand nur noch ein halbvolles Glas auf der Theke. Hütchen und Röhrchen lagen daneben. ›Also hat sich dieses Thema ja wieder von alleine erledigt‹, dachte er bitter und wandte sich wieder seinem Getränk zu. Außerdem zündete er sich eine Zigarette an und blies den Rauch an die Decke. Und bestellte sich einen schönen Gingrapefruit, der sofort - und ohne besondere Show - von Christoph vor ihn hingestellt wurde.

      Doch dann ging die Tür auf und die braunhaarige Frau kam wieder herein, ging zur Theke und fragte Christoph irgendwas. Er zuckte entschuldigend mit der Schulter und wies lächelnd zu P. hinüber. Sie sah ihn fragend an und kam dann zu ihm rüber. »Hallo Großer, ich möchte dich etwas fragen!« P. fragte sich, wie lange er seine müde und schlechtgelaunte Verfassung noch durchhalten konnte, als er in die schönen braunen Augen blickte. Er überlegte blitzartig, ob er seinen charmanten Modus einlegen sollte. Aber bevor er eine Strategie erarbeiten konnte, hörte er sich schon ruppig sagen: »Was gibt es denn?«

      ›Mist, so wird das nie was mit dem Casanova!‹ Allerdings konnte er sich anrechnen, dass er wenigstens immer ehrlich geblieben alleine nach Hause ging. Na egal.

      »Geht's dir nicht so gut heute?« Sie schaute immer noch ziemlich interessiert. Er hasste so einen Blick. Wenn er nur mal den Zynismus für fünf Minuten ablegen könnte, würde er diesen Moment genießen können. Eine wunderschöne Frau, die alles was ihm wichtig war an den richtigen Stellen hatte, wollte sich freiwillig und ohne alkoholisiert zu sein mit ihm unterhalten. Nicht das er keine Frauen kennen lernen würde. Aber meistens kamen diese Kontakte im Rahmen einer mindestens ausgelassenen, wenn nicht ausschweifenden Feierlaune zustande. Meistens, wenn der Alkohol und anderes die bei ihm wohl fest verdrahteten misstrauischen Gedanken wegblies. Das Denken insgesamt war oft ziemlich lästig.

      »Ich habe nur ein hartes Jahr hinter mir und bin ein bisschen ausgepowert.« Schon wieder so ein Spruch, den er sich hätte sparen können. Er fing an, sich über sich zu ärgern, was zu seiner miesen Laune passte. Seltsamerweise ließ sich die Frau nicht abschrecken.

      »Mein Name ist Bea. Hi! Haben wir uns nicht neulich schon mal im Vogue gesehen. An der Tanzfläche?«

      Oh, dieser Spruch hätte auch von ihm sein können. War das jetzt echt eine Anmache? Von einer Frau? Im Vogue war er regelmäßig bis 2 oder 3 Uhr nachts und stand vor den Basslautsprechern. Er mochte den Bass. Wenn er die Bassbeats im Magen und in der Lunge spüren konnte. So ließ er sich aufladen. Und manchmal tanzte er sogar. Er fand, seine Art zu tanzen war nicht schlecht. Allerdings tanzte er nur für sich. Frauen beobachteten ihn zwar. Das hatte er immer bemerkt. Es kümmerte ihn aber nicht sonderlich. Was er in diesen Momenten brauchte, war nur der Bass und der Rhythmus. Alles andere war ihm zu viel. So wie jetzt. Er wollt eigentlich nur seine Ruhe haben und ein paar Gläser trinken.

      »Hi! Das kann gut sein. Das Vogue ist fast mein zweites Wohnzimmer.« Er brachte ein kleines Lächeln zustande, drehte sich jetzt doch zu Bea um und sah ihr in die Augen. ›Braun‹, dachte er. »P. Ist mein Name. Kann ich dir irgendwie helfen?«

      ›OK, jetzt wird das doch eine Unterhaltung, streng dich an, sie ist echt nett‹.

      »Du warst doch schon weg, oder?« Sie hatte eine enge schwarze Lederjacke über ihrem Netzshirt an. Enge Hosen und schwarze Pumps. Sie sah gut aus. Eigentlich jedes mal, wenn er sie anschaute, gefiel sie ihm besser.

      »Mein Wagen springt nicht an. Er macht keinen Mucks. Und jetzt suche ich jemanden, der ein Starthilfekabel hat. Kannst du mir Starthilfe geben?«

      Oh Mann. Sein Wagen hatte auch oft Startprobleme. Deshalb hatte er im Kofferraum immer die Kabel liegen. Er hatte aber keine Lust jetzt an irgendeinem Dreckswagen herumzuschrauben. Allerdings blieb ihm nach einem Blick in ihre Augen, die sie perfekt komplett unschuldig nach oben zu ihm aufschlug, keine andere Möglichkeit.

      »Klar kann ich das. Wo steht denn der Wagen?« Er nahm einen großen Schluck von seinem Gingrapefruit. Macht frisch im Mund das Getränk! Seine Laune besserte sich ein wenig. Würde er eben den Held geben. Da ergibt sich doch bestimmt was! Jeder hier, außer Toni, würde sich darum reißen, dieser netten Maus Starthilfe geben zu dürfen. Am Ende wird's doch ein schöner Abend. Zumindest würde er irgendwas tun und nicht nur die Theke anstarren.

      »Gleich hier unten auf dem Parkplatz. Ein alter Peugeot. Der lässt mich dauernd im Stich. Eigentlich mein Lieblingswagen, aber wenn das so weitergeht...Ich lade dich auch gerne zu deinem Drink ein.«

      Er leerte