Germinal. Emile Zola

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Название Germinal
Автор произведения Emile Zola
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754175019



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nicht zwei Sous; denn es sei bekannt, daß ein armer Mensch, sobald er zwei Sous besitze, sie vertrinke. Ihr Almosen bestand stets in Naturalartikeln, besonders in warmen Kleidern, die zur Winterszeit an die armen Kinder verteilt wurden.

      »O, die armen Kleinen!« rief Cäcilie; »wie bleich sie von der Kälte sind! ... Honorine, hole das Bündel aus dem Schrank!«

      Auch die Mägde betrachteten die Unglücklichen mit Erbarmen und mit der Unruhe von Mädchen, die wegen ihres Mittagessens keine Sorge haben. Während das Stubenmädchen hinaufging, vergaß sich die Köchin, stellte den Rest des Kuchens wieder auf den Tisch hin und stand mit hängenden Armen da.

      »Ich habe gerade noch zwei wollene Kleider und zwei Tücher«, sagte Cäcilie. »Sie werden sehen, wie gut warm die armen Kleinen angekleidet werden.«

      Endlich fand die Maheu die Sprache wieder.

      »Vielen Dank, mein Fräulein«, stammelte sie. »Sie alle sind sehr gütig ...«

      Tränen füllten ihre Augen; sie glaubte sich der hundert Sous sicher und dachte nur an die Art und Weise, wie sie diese verlangen sollte, wenn man ihr sie nicht anbieten werde. Die Kammerfrau kam nicht sogleich zurück; es trat ein Augenblick verlegenen Schweigens ein. Die Kleinen hingen an den Röcken der Mutter und machten große Augen auf den Kuchen.

      »Sie haben nur diese zwei?« fragte Frau Grégoire, um das Stillschweigen zu brechen.

      »0, Madame, ich habe sieben.«

      Herr Grégoire, der sich wieder in seine Zeitung vertieft hatte, fuhr entrüstet auf.

      »Sieben Kinder! Aber warum denn, lieber Gott!«

      »Das ist unklug«, murmelte die alte Dame.

      Die Maheu machte eine unbestimmte Gebärde der Entschuldigung. Mein Gott, das kommt von selbst, man denkt gar nicht daran. Und dann: wenn die Kinder einmal größer werden, helfen sie mit erwerben und das Haus erhalten. Auch sie könnten sich ganz gut fortbringen, wenn der Großvater nicht wäre, der schon kaum mehr arbeiten könne, und wenn von den vielen Kindern nicht bloß drei so weit wären, zur Grube anzufahren, zwei Söhne und ihre älteste Tochter. Man müsse aber auch die Kleinen ernähren, die noch nichts leisten können.

      »Arbeiten Sie schon lange in den Gruben?« fragte Frau Grégoire weiter.

      Ein stummes Lachen erhellte das bleiche Antlitz der Maheu.

      »O ja, o ja .... Ich bin bis zu meinem zwanzigsten Jahre angefahren. Als ich mein zweites Kind hatte, sagte der Arzt, ich müsse zugrunde gehen, wenn ich noch länger in den Gruben arbeitete. Es schien mir die Knochen zu verderben. Übrigens heiratete ich damals und hatte in meiner Haushaltung genug zu tun .... Aber die Familie meines Mannes arbeitet seit einer Ewigkeit in den Gruben; der Großvater des Großvaters war schon dabei; sie taten mit bei dem ersten Spatenstich im Réquillartschachte.

      Herr Grégoire betrachtete sinnend diese Frau und ihre bedauernswerten Kinder mit ihrem wachsbleichen Fleische, ihren farblosen Haaren, die Entartung, in der sie verkümmerten, von Blutlosigkeit verzehrt, von der traurigen Häßlichkeit der Hungerleider. Es war wieder still geworden in dem Gemach; man hörte nur die Kohle knistern, von der ein Gasqualm aufstieg. Das warme Gemach hatte jene schwere Luft, in der die spießbürgerliche Wohlhabenheit schlummert.

      »Wo bleibt sie denn so lange?« rief Cäcilie ungeduldig. »Melanie, geh hinauf und sage ihr, das Bündel liege im Schranke unten links.«

      Herr Grégoire schloß inzwischen laut die Betrachtungen, welche der Anblick dieser Hungerleider in ihm angeregt hatte.

      »Es gibt viel Ungemach hienieden, das ist wahr; allein, gute Frau, es muß auch gesagt werden, daß die Arbeiter nicht sehr vernünftig leben ... Anstatt einen Spargroschen beiseite zu legen wie unsere Bauern, trinken die Grubenarbeiter, machen Schulden und haben schließlich kein Brot für Weib und Kinder.«

      »Der gnädige Herr hat recht«, antwortete Frau Maheu ernst. »Man geht nicht immer den richtigen Weg. Das sage ich immer den Taugenichtsen, wenn sie sich beklagen ... Ich habe es noch gut getroffen, mein Mann trinkt nicht. Dennoch geschieht es an lustigen Sonntagen, daß er über den Durst trinkt. Das ist aber auch alles. Das ist von ihm um so löblicher, als er vor unserer Heirat soff wie ein Schwein, -- mit Respekt sei es gesagt ... Trotz seiner vernünftigen Lebensführung kommen wir zu nichts. Es gibt Tage, -- wie heute wieder -- wo Sie alle unsere Schubfächer umkehren können, ohne einen Heller darin zu finden.

      Sie wollte ihnen die Sache mit den hundert Sous beibringen und fuhr fort, mit ihrer weichen Stimme von der verhängnisvollen Schuld zu sprechen, anfänglich schüchtern, dann immer breiter und drängender. Sie bezahlten längere Zeit regelmäßig ihre Halbmonatsraten; aber eines Tages blieb man damit im Rückstande, und dann war's aus, sie konnten den Rückstand nicht mehr nachholen. Das Loch ward immer größer; die Männer wurden von einer Arbeit angewidert, die ihnen nicht soviel einbrachte, daß sie ihre Schulden bezahlen konnten. Es war alles vergebens, man saß im Quark bis an sein Lebensende. Man müsse übrigens alles begreifen: ein Grubenarbeiter muß einen Schoppen trinken, um den Kohlenstaub hinabzuschwemmen. Damit fängt er an, und wenn dann der Jammer kommt, sitzt er Tag und Nacht im Wirtshause. Möglich auch -- und dies soll gegen niemanden eine Klage sein --, daß die Arbeiter nicht genug erwerben.

      »Ich glaubte,« sprach. Frau Grégoire, »daß die Gesellschaft euch Wohnung und Heizung gibt.«

      Frau Maheu schielte nach der Kohle, die im Kamin brannte.

      »Ja, ja, man gibt uns Kohle; sie ist nicht sehr gut. aber sie brennt doch .... Was die Wohnung betrifft, so haben wir dafür nur sechs Franken monatlich zu zahlen; das scheint sehr wenig, und dennoch fällt es uns schwer, diese Miete zu bezahlen .... Wenn man mich heute in Stücke schnitte, brächte man nicht zwei Sous aus mir heraus. Wo nichts ist, da ist nichts.«

      Der Herr und die Dame schwiegen, behaglich in ihren Lehnsesseln liegend und allmählich gelangweilt und verdrießlich gemacht durch das Auskramen dieser Jammergeschichten. Sie fürchtete, sie verletzt zu haben, und fügte mit der ruhigen Miene einer praktischen Frau hinzu:

      »Ach, ich sage es nicht, um mich zu beklagen. Die Lage ist einmal so, man muß sich damit abfinden, um so mehr, als wir uns vergebens dagegen wehren würden; es würde uns doch nichts helfen. Es bleibt das Beste, sein Leben ehrlich durchzubringen dort, wohin der liebe Gott uns gestellt hat. Nicht wahr, gnädiger Herr und gnädige Frau?«

      Herr Gregoire stimmte ihr lebhaft zu.

      »Liebe Frau,« sagte er, »mit solchen Gesinnungen ist man über jedes Unglück erhaben.«

      Honorine und Melanie brachten endlich das Bündel. Cäcilie öffnete es und holte die zwei Kleider hervor; sie legte noch Tücher dazu, auch Strümpfe und Fäustlinge. All dies wird vorzüglich passen, meinte sie. Sie beeilte sich und ließ die ausgewählten Kleidungsstücke durch die Mägde rasch einpacken. Ihre Klavierlehrerin war angekommen, und darum schob sie die Grubenarbeiterin mit ihren zwei Kindern zur Türe.

      »Wir sind ganz mittellos,« stammelte Frau Maheu; »wenn wir wenigstens ein Hundertsousstück hätten ...«

      Sie blieb mitten im Satze stecken, denn die Maheus waren stolz und bettelten nicht. Cäcilie blickte unruhig auf ihren Vater; doch dieser schlug die Bitte rundweg ab mit einer Miene, als erfülle er eine Pflicht.

      »Nein, das liegt nicht in unseren Gewohnheiten. Wir können nicht.«

      Das Mädchen, von dem verstörten Gesichte der Mutter bewegt, wollte die Kinder wenigstens erfreuen. Diese schauten noch immer starr auf den Kuchen; sie brach zwei Stücke davon ab und gab sie ihnen.

      »Hier, das ist für euch.«

      Dann nahm sie die Kuchenstücke wieder zurück und wickelte sie in ein altes Zeitungsblatt, indem sie sagte:

      »Teilt das zu Hause mit euren Geschwistern.«

      Unter den zärtlichen Blicken ihrer Eltern schob sie die Kinder zur Türe hinaus. Die armen Kleinen, die kein Brot hatten, gingen von dannen, respektvoll den Kuchen in ihren starrkalten Händchen heimtragend.

      Die