Kleine Frau im Mond. Stefan Boucher

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Название Kleine Frau im Mond
Автор произведения Stefan Boucher
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754174128



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altmodisch und monoton gekleidet. Auch der Professor wurde seinem Stand gerecht: Zerstreut, mit einer dicken Brille versehen, glatt fallendes Haar in einem Topfschnitt geschnitten und eigenwillig, da er sich permanent weigerte, bei Alarm den Keller aufzusuchen.

      Die Wohnung in der Mitte des Hauses stand leer, schon seit sie hier wohnten. Warum, wusste niemand. Man sprach nicht über die Mieter. Nicht einmal Gerüchte wurden weitergetragen. Vielleicht war es eine Familie im Auslandseinsatz, oder Geheimagenten, die ständig an wechselnden Orten arbeiteten. Als sie bei den Winklers im vierten Stock ankam, lief sie schneller. Die Alte stand zwar unten, aber Mara hatte es sich angewöhnt, hier schnell vorbeizuhuschen. Urplötzlich konnte sich nämlich die Tür öffnen und die olle Schrapnelle verwickelte sie in ein sinnloses Gespräch. Eine nervige Angewohnheit, sozusagen.

      Nun schnaufte sie doch ein wenig. Vier Stockwerke musste sie klettern, dann war sie endlich oben. Auf dem Treppenabsatz der fünften Etage unter dem Dach angekommen hörte sie bereits Musik. Kirchenmusik. Unschlüssig blieb sie stehen. Das war ein untrügliches Zeichen dafür, dass ihr Vater missgelaunt war oder traurig … nicht selten traf beides gleichzeitig zu.

      Die Tür wurde von innen geöffnet und einen Spalt aufgezogen. Sie sah einen Schatten davon schlurfen und im Wohnzimmer verschwinden.

      »Komm gefälligst rein. Du bist viel zu spät. Essen macht sich nicht von alleine!«, seine Stimme war schwer und lallte ein wenig. Kirchenmusik und keine Umarmung – dann musste Vater schlecht gelaunt und wohl auch angetrunken sein. Nach weiterem Alkohol- und Musikgenuss würde er irgendwann anfangen, lauthals mitzusingen.

      »Ich mache sofort Reibekuchen«, rief Mara mit aufgesetzter guter Laune. Bloß es jetzt nicht verschlimmern. Sie ging erst gar nicht in ihr Zimmer. Zog lediglich die Uniformjacke aus und hängte sie an die Garderobe, bevor sie die Schuhe abstreifte. Ihre Tasche lehnte sie an die Wand und betrat die Küche. Ein leiser Seufzer entfuhr ihr. Es sah aus wie gestern. Natürlich sah es das. Wer sollte aufräumen, wenn sie es nicht täte?

      Sie setzte den Herd unter Feuer und schnitt ein kleines Eckchen Butter in eine Pfanne. Das musste reichen. Kartoffelbrei hatte sie noch vom letzten Abend. Der wäre brauchbar. Ihr Vater mochte Reibekuchen, das war schön, denn die waren leicht herzustellen und es ging schnell. Leider stank danach alles nach Fett, aber sie hielt die Tür zu ihrem Zimmer immer geschlossen und dahin würde sie sich alsbald zurückziehen.

      Kurze Zeit später brutzelte es in der Pfanne. Ihr Vater rief irgendwas, viel zu laut. Das war typisch. Wenn er getrunken hatte und Musik hörte, saß er in seinem dicken Sessel und konnte die Lautstärke seiner Stimme nicht mehr einschätzen. Er lallte nicht nur, sondern lallte brüllend – oder umgekehrt. Gleichmütig ertrug sie es, denn es ging keine weitere Gefahr von ihm aus. Soeben lancierte sie die Plinsen aus der Pfanne auf einen Teller, als die Küchentür aufgestoßen wurde.

      »Hast du es nicht mehr nötig, mir zu antworten?«, keifte er, sich am Türpfosten festhaltend.

      Sie schichtete die fettigen Scheiben säuberlich auf einen Stapel und hielt ihm den Teller hin.

      »Hier. Lass es dir schmecken. Ich habe dich nicht gehört. Das Fett spritzt und knistert.«

      Ohne ein Wort nahm er das Essen und ging wieder zurück in das Wohnzimmer. Mara balancierte den zweiten Teller und folgte ihm.

      Die gute Stube war nur so groß, wie es ein kleines Refugium unter dem Dach zuließ. Ein schmales Wandregal, ein Tisch, vier Stühle, ein Sofa, der Volksempfänger und das alte Grammophon. Die anderen Wohnungen im Haus waren geräumiger, bis auf die vom Butzke ganz unten, die dürfte wegen des Hausflurs ebenso winzig sein. Aber er hatte ja die Werkstatt nebenan.

      Die Musik war verstummt. Die Nadel lag noch auf dem Plattenteller, der aufgezogene Motor war schlicht abgelaufen und ihr Vater hatte sich nicht die Mühe gemacht, das Getriebe wieder aufzuziehen. Dann muss er die letzten Minuten das Geleier einer ständig langsamer laufenden Platte ertragen haben. Schrecklich.

      Er brummte anerkennend, als er hungrig die ersten drei Reibekuchen fast gleichzeitig verschlang. Mara aß nur einen, den sie sich selber genommen hatte. Während sie an diesem mümmelte, vertilgte ihr Vater die anderen. Einen halben ließ er übrig und lehnte sich zurück. Er sah sie an, offenbar sanfter gestimmt. Sie hatte keinen Appetit mehr, aber aß trotzdem auf. Man durfte nichts verkommen lassen in diesen Tagen. Mit Bezugsscheinen einkaufen zu gehen bereitete schon nur wenig Freude. Da musste man erst recht Reste vermeiden.

      »Das Fahrkartengeschäft macht dir keinen Spaß, wie?«, fragte er unvermittelt. Mara steckte sich das letzte Stück in den Mund und kaute langsamer. Wie meinte er das? Warum wollte er das wissen?

      »Ich habe ein gutes Wort eingelegt für dich, damit du bei der Reichsbahn unterkommst. Das ist nicht leicht in diesen Zeiten.«

      Sie schluckte und nickte. »Danke Paps.«

      »Wenn du dankbar wärest, würdest du keinen Anlass zu Beschwerden geben.«

      »Was? Ich … warum Beschw…«, weiter kam sie nicht.

      »Herbert hat angerufen. Er sagt, du seist nicht bei der Sache. Würdest lesen am Arbeitsplatz anstatt dich nützlich zu machen.«

      »Nützlich machen? Da ist …«, hob sie an, aber Vater fiel ihr ins Wort.

      »Und du behandelst die Fahrgäste schlecht. Du ignorierst sie.«

      »Paps, das ist nicht wahr. Es …«

      »Leugne nicht«, wurde er lauter und bedrohlicher. »Herbert hat angerufen. Mich beinahe herbeizitiert. Paul Butzke rief mich runter zu seinem Apparat und hat alles mit angehört. Peinlich war das. Ausgerechnet. Ich habe mein gutes Wort für dich bei ihm eingelegt. Und du enttäuscht mich so. Als wir 1917 im Argonnerwald ganz alleine …«

      Jetzt war es an ihr, ihn zu unterbrechen. Sie kannte die alten Kriegsgeschichten. Die ihres Vaters, die von Bahnhofsvorsteher Bommel – immer die gleichen. Sie unterschieden sich nur in der Anzahl der Feinde, die herangestürmt und von ihnen besiegt worden waren.

      »Ich arbeite gut da, aber es passiert oft lange gar nichts. Und es ist auch nichts zu tun. Ich werde nicht noch die Gleise blank putzen.«

      »Eine Frechheit«, fuhr ihr Vater hoch. »Du könntest dir wenigstens mal anhören, was Herbert …«

      »Vorsteher Bommel, Paps. Er hört den ganzen Tag Musik und lässt sich nie blicken, außer um mal die Abfahrtspfeife zu blasen und bei der Einfahrt eines Zuges kurz dem Triebwagenführer zuzuwinken. Und sonst …«, sie wollte den Rest ungesagt lassen, aber ihr Vater war angriffslustig.

      »Was ist sonst? Herbert hat viel Verantwortung, die auf seinen Schultern ruht. Innerhalb des Bahnhofsbereiches ist der Bahnhofsvorsteher auch gleichzeitig der örtliche Luftschutzleiter. Daneben ist er für alle Maßnahmen des Warn- und Meldedienstes, der Verdunkelung und des Feuerschutzes verantwortlich. Und für die Reisenden! Und …«

      »Er kümmert sich aber mehr um sein doofes Grammophon und Frollein Hanisch als um seine Arbeit.«

      Jetzt erhob er sich, leicht schwankend. Daher hielt er sich gebeugt an der Armlehne fest.

      »Es steht dir nicht zu, seine privaten Angelegenheiten zu kommentieren. Er hat sich für das Vaterland verdient gemacht und wenn er auf seine alten Tage … junges Blut …«, mehr sagte er nicht, die Worte fehlten ihm. Aber sie hatte genug, nahm Besteck und Teller und trug sie in die Küche, um abzuwaschen.

      »Ich möchte, dass du dich am Montag bei ihm entschuldigst und dass das nicht mehr vorkommt«, rief er von hinten. Das Plumpsen und Knarren von Sprungfedern verriet, dass er wieder in den Sessel gefallen war.

      »Ich habe dich auch lieb, Paps«, sagte sie halblaut vor sich hin, erledigte den Abwasch und ging für den Rest des Abends auf ihr Zimmer. Ob sie sich rechtfertigen würde, war überhaupt nicht raus. Nun freute sie sich erst einmal auf das Wochenmagazin vom Darburg und den Artikel über die Sternwarte. Damit würde sie genüsslich die Zeit verbringen. Und vielleicht noch eines der alten amerikanischen Hefte durchblättern, die sie sorgfältig hinter dem Kleiderschrank versteckt hatte. Ihr Vater brauchte von deren Existenz nichts