Kleine Frau im Mond. Stefan Boucher

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Название Kleine Frau im Mond
Автор произведения Stefan Boucher
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754174128



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Raumhafen, so wie sie es auf Bildern in dem Sonderheft zu dem Mond-Film von Fritz Lang gesehen hatte? Zu gern hätte sie ihn einmal angeschaut, aber der durfte seit 1937 angeblich nicht mehr gezeigt werden. Warum, wusste niemand.

      Leider, und es überraschte sie immer aufs Neue, wenn die Bahn auf die Zielgerade des Bahnhofes einschwenkte, gerieten die Türme plötzlich aus dem Blick und Mara war enttäuscht. Sie hatte sogar Personen ganz oben erkannt. Sie schienen so klein, verletzlich und waren doch sicher wie nirgendwo sonst in Berlin. Es musste großartig sein, dort Dienst zu tun … Mit diesem Gedanken erhob sie sich von ihrem Platz und reihte sich ein in die Menge der Menschen, die ebenfalls am Bahnhof Zoo aussteigen wollten.

      Die kühle Luft floss durch den Spalt der sich öffnenden Türen. Der Bahnsteig, der sie empfing, war mindestens ebenso gedrängt wie zuvor die S-Bahn.

      Sie schob sich nach unten. Schnell, vor den anderen. Aber die Treppe war verstopft und sie musste warten. Mancher sah sie interessiert an und musterte ihre Uniform. Doch nein, so wichtig erschien sie wohl nicht, denn niemand machte ihr Platz.

      Unten in dem Durchgang sah es nicht besser aus. Von allen Richtungen her strömten die Menschen und Mara mit ihnen.

      Es waren nur wenige Meter zurückzulegen, aber sie fühlte sich wie eine Sardine auf Bezugsschein. Viele trugen dicke Kleidung und wirkten dadurch breiter. Verständlich. Da man nicht wusste, wann der nächste Fliegeralarm käme und wie lange man in irgendeinem Bunker ausharren musste und wie kompliziert danach der Heimweg wäre, wollte man auf alle Eventualitäten vorbereitet sein.

      Sie nutzte eine Lücke und warf sich voran. Den überraschten und wütenden Schrei von jemandem überhörte sie, denn sie war da! Wilhelm Darburgs Zeitungsladen!

      Nur ein kleiner Verkaufsraum am Südausgang der breiten Fußgängerpassage des Bahnhofes unterhalb der Bahnsteige. Aber wie man das Geschäft auch nennen mochte, hierher kam Mara gern. Der Inhaber war ein alter und höflicher Mann. Schweigsam, doch immer auskunftsfreudig, wenn sie fragte. Und vor allem gab es nichts, was er nicht hatte oder besorgen konnte.

      Er bot all die großen Tageszeitungen feil. Sie hingen vor dem Schaufenster. Durch dieses fiel fahles Licht, geputzt wurde es so gut wie nie. Draußen hatte er bloß Schnüre gespannt, die ganze Wand entlang. Und darüber die Zeitungen ausgebreitet. Aber der billige Aushang war effektvoll, denn die meisten Menschen fanden dort vor der Tür, was sie brauchten und hielten sich im Inneren nicht lange auf.

      In seinem Zeitschriftenladen gab es aber viel mehr. Bücher, Abenteuerromane, Reiseberichte. Echte und fiktive. Hier hatte ihr Vater für Mara das erste Buch von Jules Verne gekauft – als Mutter noch lebte. Und weil er selbst gerne phantastische Geschichten las.

      Hier fand sie aber vor allem die Groschenhefte, die sie auf ihren Bahnfahrten verschlang. Ein buntes Kaleidoskop der Welten und Schicksale. Sie bekam nicht genug davon. Der Zeitungsstand war wie eine Kraftquelle für sie, als wirkte von hier aus eine Energie, die sie anzog und gestärkt wieder entließ.

      Herr Darburg war da, aber doch nicht da. Er unterhielt sich angestrengt mit einem Herrn. Für dieses Gespräch hatte er sich in den rückwärtigen Teil des kleinen Kabuffs zurückgezogen und obwohl sie kaum einige Meter von den beiden Männern entfernt stand, konnte sie nicht hören, was besprochen wurde. Sie schienen erfahren darin, sich für andere unhörbar zu unterhalten. Aber so ganz blieben ihr die Inhalte nicht verborgen. Auch sie hatte Übung in gewissen Dingen.

      »In Wien? Was will denn von Weichs in Wien? Hält der nicht die Stellung in Belgrad?«, fragte der Händler den Unbekannten plötzlich laut und erschrocken, während Mara die Hefte durchblätterte. Sie wollte nicht stören, daher hielt sie ihre Tasche mit dem ausgeliehenen Magazin fest im Arm. Die beiden älteren Herren bemerkten sie und ihr blieb nicht verborgen, dass bei ihrem Anblick ein schmales Lächeln über die Lippen des Zeitungsverkäufers huschte, aber sofort kümmerte er sich wieder um seinen Gast.

      Unter den Tageszeitungen und Journalen fand sie nichts, was sie interessierte. Unschlüssig beobachtete sie einen Jungen, der sich auffällig unauffällig direkt gegenüber an einem Stand vor dem Laden von Obsthändler Bramme herumdrückte. Plötzlich griff er sich einen Apfel und rannte davon. Der dicke Inhaber war gar nicht weit entfernt, aber er schaute hilflos, blies seine Backen rund und ließ die Luft ab, als pumpe er seinen Kopf auf und gleichzeitig lief er rot an. Mara konnte ein lautes Lachen nicht unterdrücken.

      Neugierig unterbrachen die Herren ihr Gespräch. »Kann ich helfen?«, fragte der alte Darburg freundlich, er trug einen gezwirbelten Schnauzbart wie sein Gegenüber und beider Haltung war ähnlich. So wie Wilhelm Darburg stand der andere hoch aufgerichtet, als seien sie es gewöhnt, sich repräsentativ zu bewegen – wie von hohem Rang.

      Mara schüttelte ihren Kopf, dass die rote Mähne nur so flog und ihre Dienstmütze beinahe hinterher, noch immer grinsend. »Ich möchte nur das Heft zurückbringen.«

      Der Händler nickte, als wollte er ihr bedeuten, einen Moment zu warten.

      Der Fremde legte vertraut einen Arm um Darburgs Schulter. »Um Ungarn geht´s doch. Der Generalfeldmarschall soll sich in Wien bereit halten …«, hörte sie den Mann sagen. Langsam arbeitete sie sich zu den Wochenmagazinen vor. Er sprach weiter. »… zum Verzweifeln. Als redete man gegen eine Wand! Schlimmer als damals in Moskau.«

      »Ich weiß, Friedrich-Werner, ich weiß.«

      »Aber das Unglaublichste ist, dass alle bei uns ratlos sind. Wenn …«, der ›Friedrich-Werner‹ genannte sah sich um und senkte seinen Ton. Aus einem merkwürdigen Zufall heraus nahm plötzlich der Menschenstrom vor dem Schaufenster ab und es wurde stiller, so dass Mara jedes Wort verstehen konnte. »… Horthy hat doch keine Ahnung, was ihn erwartet. Und die … das Amt 500 lässt sich am Gängelband führen. Man kann es doch gar nicht anders ausdrücken.« Den Rest sagte er nicht. Weiter senkte er die Stimme. »Wir sollten ein andermal weitersprechen. Nur soviel noch: Horthy und Kállay können machen, was sie wollen. Sie hätten Keresztes-Fischer nicht Jud Süss verbieten lassen sollen. Die Ungarn sind nicht dumm, sie hätten an der Kinokasse entschieden. Aber der Doktor vergibt sowas doch nicht. Das war der letzte Tropfen.«

      Darburg räusperte sich. »Ja, vermutlich. Aufhetzen kann er sie alle. Wie vor einem Jahr. Im Sportpalast«, flüsterte er.

      »Eben. Niemand widerspricht. Und ich stehe daneben. Händeringend. Machtlos. Schon wieder. Wie damals, als … als mir versprochen wurde, versprochen Wilhelm, dass nichts gegen Moskau läuft. Es ist zum wahnsinnig werden. Wenn ich nicht reden könnte, mit Leuten wie dir … auf Burg Falkenberg werde ich erst recht verrückt!«

      Der Fernzug nach Breslau wurde angesagt und augenblicklich setzte draußen ein Laufen und Eilen ein, als führe ein Wirbelwind durch den Bahnhof. »Und sie wollen das Unternehmen Margarethe nennen«, sagte der Fremde ärgerlich. »Ausgerechnet«.

      »Deine Mutter würde sich im Grabe rumdrehen, Fritz«, nickte der Händler.

      Mara hörte nichts weiter, aber die Informationshappen sagten ihr ohnehin nichts. Die beiden Männer hielten sich an den Unterarmen, als gäben sie sich ein geheimes Zeichen. Dann verabschiedeten sie sich.

      »Genieß die Ruhe auf deiner Burg, mein Guter. Du hast es dir verdient.«

      Von der Schulenburg nickte ernst. »Von wegen Burg. Ich werde in Krummhübel erwartet. Wir haben zwar nichts mehr zu tun, aber mussten unbedingt noch ins Riesengebirge verlegt werden. Dass ich die Burg in Falkenberg überhaupt meine Heimat nennen kann, verdanke ich Alwine. Sie hat mir sehr viel Arbeit abgenommen. Leider haben die Eingeborenen dort die Gräfin von Duberg, wie sie sie nennen, in Ungnade genommen. Ich war einfach zu selten dort und habe Alla alleine gelassen. Sie schiebt es auf Christa, ausgerechnet.«

      »Deine Tochter? Wie denn das?«

      Der große kahle Mann nickte. »Absurd, nicht wahr? Alwine trinkt wieder sehr viel. Und das gefährdet auch ihre Stellung als Übersetzerin beim OKW. Sie ist jetzt in ihrer Wohnung in der Nassauischen Straße. Da nutze ich gern jede Gelegenheit, einen Umweg über Berlin zu machen. Gerade wenn es ihr schlecht geht.«

      Als der Fremde an