Kleine Frau im Mond. Stefan Boucher

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Название Kleine Frau im Mond
Автор произведения Stefan Boucher
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754174128



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- und als am nächsten Tage die letzte Seite erreicht war, fing ich von vorn an. Seitdem habe ich ihn viermal gelesen und habe viermal Abbitte geleistet für meine ….

      »… schlechten Erwartungen zu Anfang, Fräulein Prager«.

      Sie hielt inne. Irritiert, als erwache sie aus einem Nickerchen. Vor ihrem Fahrkartenschalter hatte sich Vorsteher Bommel aufgebaut. Wichtig, wie so oft. Aufgeplustert neben einer freundlichen schmächtigen Frau. Seine Glatze strahlte und sein perfekt rasiertes Gesicht war leicht gerötet durch die Kälte, die von außen in die Halle zog. Erschrocken schob sie die Hände unter ihr schmales Pult und verbarg hastig das alte Sonderheft des Film-Kurier zum Start des letzten großen Stummfilmes Frau im Mond Ende 1929. Es gelang nicht ganz. Sie hatte ihn nicht bemerkt. Augenblicklich schrumpfte sie buchstäblich hinter der Durchreiche.

      »Wie oft habe ich Ihnen gesagt, dass Sie sich um die Fahrgäste kümmern sollen. Stattdessen lesen Sie, lesen …«, feine Speicheltropfen trafen auf das hochgezogene Fensterchen. »Sowas da!«, er zeigte auf das Magazin und seine Finger reichten durch die Öffnung auf ihre Seite der Glasscheibe. »Was ist das überhaupt?«

      Mara errötete, fast so rot wie ihre leuchtende Haarpracht.

      »Ein Filmmagazin, ich habe es geliehen bekommen und …«

      »Ist mir egal wo Sie es herhaben. Die Frau hier steht seit Minuten vor Ihrem Schalter und wird nicht bedient.«

      Hätte sie was gesagt, dachte Mara, doch sie hütete sich, das zu erwähnen.

      »Selbstverständlich, Herr Vorsteher Bommel, es tut mir leid, ich habe die Dame nicht bemerkt.«

      »Ich habe Sie Ihrem Vater zuliebe eingestellt. Bruno und ich ... Menschenskinder. Sie sind bald sechzehn. Beinahe erwachsen.« Er sagte nichts weiter, vielleicht weil nach wie vor die Frau neben ihm stand. Natürlich kannte sie die vielen Kriegsgeschichten, als Bommel und ihr Paps den Argonnerwald fast alleine gegen die Franzmänner verteidigt hatten. »Aber ich hatte schlechte Erwartungen zu Beginn, schlechte Erwartungen!« Dann wandte er sich an die Kundin. »Es geht sofort weiter!« Mit diesen Worten verschwand er wieder humpelnd in seinem Büro, die Tür fiel laut klappernd in den Rahmen und die Musik begann von vorne.

      »Nicht ärgern lassen«, flüsterte die Frau. »Ich hab‘s nicht eilig. Ich hätte gewartet, bis Sie mich bemerken.«

      Mara lächelte dankbar, hörte das Fahrziel und riss eine entsprechende Fahrkarte ab. Mit leisem Dank nahm sie das Geld. »Sie müssen Linie 3 …«, begann sie, aber die Kundin winkte ab. Sie wusste Bescheid und ging.

      Dann las sie weiter:

      Denn »Frau im Mond« ist sicher der beste Raumfahrtroman, der bisher geschrieben worden ist. Und zu dem wahrscheinlich doch eine Frau die Feder ergreifen musste, damit er geschrieben wurde.

      Das Mädchen lehnte sich zurück und blickte in die Ferne. Die Soldaten hatten sich erhoben, lautes Surren und Rattern drang vom Bahnsteig heran, Quietschen erfüllte die Halle. Die elektrische S-Bahn war da. Bommels Tür gegenüber flog auf und der Vorsteher hastete an ihnen vorbei, fast zusammenstoßend mit dem jungen blonden Kerl in Uniform, der sie nach wie vor ansah und sich anscheinend gar nicht losreißen mochte von ihr.

      Mara beachtete ihn nicht, sondern streckte sich nur, als könne sie durch die Halle einen Blick auf die über ihr eingefahrene Bahn erhaschen. Sie liebte Züge, denn die durften die ganze Welt sehen. Natürlich würde diese S-Bahn niemals aus dem Großraum Berlin herauskommen, aber trotzdem! Sie selber sah tagein tagaus nur ihren Holzstuhl und die kleine Fahrkartenbude. Oder die Wohnung in der Fasanenstraße, die sie sich mit ihrem Vater teilte. Mit schnellen Schritten liefen die Soldaten zum Zug. Zuletzt der junge Blonde, der sich einen herrlich unpassenden Schal um den Hals warf und dabei gegen den Rahmen des Ausganges stieß, weil er nach wie vor den Blick nicht von ihr wenden wollte. Er kicherte und sie lächelte ihm hinterher.

      Sicher Mutters Weihnachtsgeschenk, dachte sie belustigt und augenblicklich wurde sie traurig. Die Schokolade fiel ihr ein, die sie selbst neulich unter dem Weihnachtsbaum vorgefunden hatte. Die Schachtel war zwar hübsch gewesen, ansehnliche Friedensware, aber die Tafeln des Winters 1943 waren nicht mehr in Wachspapier eingewickelt oder durch Seidenpapier getrennt. Die Plättchen wirkten beinahe durchsichtig, lagen lose in der Packung aus grobem Karton und sie waren auch nicht braun wie früher, sondern mausgrau. Der Geschmack war spröde, sogar etwas sandig. Sie hatte sie dennoch tapfer gegessen, weil sie wusste, dass ihr Vater einen großen Umweg genommen haben musste, um an Schokolade zu kommen. Doch Mara wettete jeden Betrag, dass darin weder Milch noch überhaupt Kakaobohnen enthalten waren.

      Als die Halle sich endlich geleert hatte, ließ sie sich zurück auf ihren Stuhl sinken. Die große Uhr im Wartesaal zeigte fünf vor zwei. Gleich würde Hulda kommen und sie ablösen. Dann wäre sie frei, gerade rechtzeitig, bevor es am Nachmittag wieder so richtig voll werden dürfte. Und in der Tat: Schuhsohlen klapperten auf den schwarz-weiß gemusterten Fliesen der Halle, die an vielen Stellen gesprungen und angebröselt waren. Wenn sie sich nicht täuschte, dann …

      Und sie irrte sich keineswegs, Vorsteher Bommels Tür flog auf und mit perfekt sitzender Dienstuniform hüpfte der kahlköpfige Mann nahezu aus seinem Kabuff, soweit seine Kriegsverletzung einen Hüpfer gestattete. Er trug die Lesebrille, die er sonst nur im Büro brauchte. Er musste wohl hoffen, dass sie ihn schlauer aussehen ließ.

      »Fräulein Hanisch! Gut, dass Sie kommen!«, balzte er das junge Mädchen an.

      Mara nahm das Heft und schob es in ihre schmale Tasche. Dann warf sie einen Blick in den kleinen Spiegel an der Holzwand und musterte sich selbst: Sie streckte sich die Zunge raus und ihr herzchenförmiges Gesicht mit den kecken Sommersprossen auf und neben der Nase zwang sie, zu schmunzeln. Mit den Taschenriemen über der Schulter erhob sie sich.

      »Tag Fräulein Hanisch«, grüßte sie ihre Ablösung und schritt an den beiden gurrenden Turteltäubchen vorbei. »Die Abrechnung liegt abgezeichnet auf dem Tisch. Es war ruhig heute.«

      Vorsteher Bommel beachtete sie nicht, die Kollegin grinste unbeholfen. Geheuer schien ihr das Verhalten des Vorgesetzten wohl auch nicht zu sein… andererseits tat sie nichts, um das zu beenden, im Gegenteil.

      Mit geübtem Griff schob Mara ihre Dienstmütze zurecht, so dass sie nicht wegflöge, falls draußen der Wind blies, doch es war bloß kalt. Eisig. Höchstens drei Grad. Bedächtig stieg sie zu den Gleisen hinauf. In den Ecken und zwischen den Bäumen auf der anderen Seite der Strecke lagen Reste von Schnee. Es war ruhig, fast schon still für einen frühen Freitagnachmittag in der Reichshauptstadt. Aber das kam hier manchmal vor, ihre Station lag nicht an einer der Hauptlinien, dadurch wurde der Tag oft langweilig und die Stunden zogen sich. Andererseits hatte sie Zeit zum Träumen, solange nicht Herr Bommel hin und wieder glaubte, er müsste sie kontrollieren. Wenn er selber beschäftigt war, einerlei ob mit seinen Schallplatten oder mit Fräulein Hanisch, konnte Mara nach Herzenslust lesen. Schmökern und Grübeln. Sie las, soviel sie konnte, aber am liebsten verschlang sie alles, was mit dem Weltraum zu tun hatte, mit Luftschiffen und Raketen.

      Wie sie sich doch wünschte, eines Tages selber zu den Sternen zu fliegen. Dabei zu sein, wenn aus den Raketenträumen der Wissenschaftler und Pioniere irgendwann einmal ein Mondflug würde. Sie atmete tief die kalte Luft ein. Sie roch nach Holzbrand, dessen Qualm aus dem Schornstein der kleinen Bahnstation quoll und sich in der Windstille gemächlich herabsenkte.

      Die Gleise glänzten im kühlen Sonnenlicht. Stahl, der von hier aus überall hin auf der Welt führte. Bis Kairo, China, nur nach Amerika natürlich nicht, dachte sie. Guter deutscher Stahl, doch zu schwer, als dass man damit fliegen könnte. Dafür wurde schon Duralumin benötigt, wie man es im Flugzeugbau verwendete. Sie kannte sich aus.

      Fest hielt sie ihre Tasche gepackt und drehte sich langsam auf dem Bahnsteig. Kleine Wölkchen tauchten im Takt der Atemzüge vor ihrem Gesicht auf und verschwanden wieder. Es wurde Zeit, dass der Sommer käme … ja, der Sommer. Aber sie hatte keine Pläne und würde doch hier sitzen. Warum wollte sie überhaupt auf ihn warten?

      Mit dem Herannahen der gelb-rot lackierten elektrischen Triebwagen vom Typ ET 169 verloren sich ihre trüben Gedanken.