Späte Begegnung. Milla Burckhardt

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Название Späte Begegnung
Автор произведения Milla Burckhardt
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783752903492



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freute sich, wenn ihr Kind sie anlächelte, nach ihrer Hand griff, wenn sie die Berührungen und das Streicheln offensichtlich genoss. Wollte die Kleine aber mit der Mutter spielen, verweigerte sich Annita und beendete die glücklichen Momente – sie konnte nicht spielen. In Claras Liebe fand sie für kurze Zeit die Bestätigung, die sie brauchte. Immer wieder war sie in Gefahr, in depressive Stimmungen abzugleiten. Clara erlebte die seelische Abwesenheit der Mutter als Distanzierung und fühlte sich dann allein. Sie war sich bald bewusst, dass sie nicht im Zentrum der Interessen ihrer Mutter stand.

      Zum Glück für Annita fand sie bei einem ihrer Ausflüge nach Wien einen Mann, mit dem sich eine Liebesgeschichte entwickelte. Sie ließ Leon wissen, dass sie nun auch einen Liebhaber hatte. Er war nicht eifersüchtig, sondern beruhigt, dass er nun ohne Rücksicht auf Annitas Empfindungen sein Liebesleben gestalten konnte. Erneut war Annita gekränkt und die einzige Gegenmaßnahme, die ihr blieb, war die Ausgestaltung der Beziehung zu Robert, der sie bat, sich scheiden zu lassen, um ihn zu heiraten. Eine Scheidung im Krieg von Österreich aus in die Wege zu leiten, war Annita in der gegebenen Situation nicht möglich, aber sie fand den Gedanken einer Alternative zur Ehe mit Leon durchaus tröstlich. Und Wien, wo sie sich mit Robert traf, war ein Ort, an dem sie alle ihre Sehnsüchte nach kulturellen Events, schönen Restaurants und schicken Geschäften befriedigen konnte. Dies alles mit einem Mann an ihrer Seite, der bemüht war, jeden ihrer Wünsche zu erfüllen. Ein Kind störte da eher.

      Eine Kinderfrau nahm sich Claras an, wenn die Mutter fortfuhr. Clara mochte die Frau nicht. Sie war grob, unfreundlich, wenn die Mutter nicht da war, und überfreundlich, wenn sie sich im Haus befand. Clara verstand die Mutter nicht, die zu dieser Frau Vertrauen hatte. Der leise Protest der Dreijährigen gegen das Wegfahren der Mutter blieb ungehört.

      Ihren Vater erlebte Clara nur bei seltenen Besuchen. Leon kam nach einem Jahr das erste Mal, um seine Familie, die er großzügig unterstützte, zu sehen und ein paar Tage in den Bergen auszuspannen. Annita kündigte Clara den Besuch an, aber Clara konnte noch nicht begreifen, dass nun der Erzeuger im Anflug war. „Vater“ war ein Fremdwort ohne Bedeutung für sie. Das änderte sich, als Vater und Tochter sich begegneten. Für Leon war die Begegnung mit seinem Kind eine Offenbarung. Er merkte, wie das kleine Mädchen sich freute, wenn er es in den Arm nahm und mit ihm sprach. Er nahm wahr, wie aufmerksam sie lauschte und die Arme nach ihm ausstreckte, sein Streicheln genoss. Annita sah die beginnende Liebesbeziehung zwischen Vater und Tochter mit gespaltener Seele. Auf der einen Seite war die Zuneigung Leons zu Clara eine Bestätigung für sie als Mutter, auf der anderen aber spürte sie Eifersucht auf die vorbehaltlose Liebe, die das Kind von ihrem Mann erhielt und die er ihr vorenthielt.

      Leon reiste nach wenigen Tagen ab, kam aber nun jedes halbe Jahr, um seine Tochter zu besuchen. Jedes Mal blühte Clara auf, wenn er sie in den Arm nahm, wenn er mit seiner wunderbaren Stimme mit ihr sprach oder sie streichelte. Oft hörte sie, wie die Eltern stritten. Einmal, Clara lag schon in ihrem Bett, hörte sie Annita im Nebenzimmer weinen: „Wo bleibt deine Verantwortung für deine Familie? Dass du zahlst reicht mir nicht. Du bist doch mein Mann.“ Das sah Leon anders. Er hatte Annita einen Gefallen getan, sie zu heiraten, so dachte er. Und sie konnte wirklich froh sein über die finanzielle Sorglosigkeit, in der sie während des Krieges mit ihrem Kind leben konnte. Clara musste hinnehmen, dass der Vater nie blieb. Die Eltern erklärten ihr, er müsse arbeiten und könne Geld nur an einem anderen Ort verdienen.

      Eines Tages kam der Vater und blieb länger. Er musste nicht arbeiten gehen, und die Eltern stritten sich nicht mehr. Es war kurz vor Ende des Krieges und die Wehrmacht zog alle Männer ein, die noch verfügbar waren. Das traf auch Leon, den man ebenfalls zum Dienst an der Waffe verpflichtete. Aber Leon hatte sich geschworen, nie im Krieg eine Waffe auf ihm völlig unbekannte Menschen zu richten. Für die Deutschen und ihren Führer zu kämpfen kam von daher nicht in Frage für ihn, erst recht nicht, sein Leben für das kriminelle Unternehmen „Weltkrieg“ zu riskieren. Er desertierte und setzte sich nach Österreich ab. Dort konnte er sich an Annita wenden: Er brauchte ihre Hilfe, um unterzutauchen.

      Es war eine Genugtuung für Annita, dass Leon zu ihr flüchtete. Sie versteckte ihn und richtete sich ihren Alltag so ein, dass die Familie nicht durch Denunzianten gefährdet war. Ein Raum in der Wohnung wurde für Leon eingerichtet und Annita organisierte den Alltag zu dritt, ohne dass Leon nach außen in Erscheinung trat. Robert musste warten, Leon war wichtiger. Zu dritt konnten sie von dem Geld leben, dass Leon Annita immer geschickt und auch noch mitgebracht hatte. Aber es blieb nicht viel Zeit, denn die Deutschen kämpften weiter, obwohl das Ende in Sicht war. Die Gefahr, dass ein Deserteur von deutschfreundlichen Nachbarn verraten wurde, bestand nach wie vor. Sie mussten schnellstmöglich nach Wien, wo die Russen schon Einzug gehalten hatten. Annita packte die Koffer. Zentral für sie waren neben ein paar Kleidungsstücken und Hygieneartikeln die Bettdecken – wer weiß, wie lange sie auf der Flucht sein würden. Die Einigkeit der Eltern in der Vorbereitung der Flucht gab Clara das Gefühl von Ruhe und Geborgenheit.

      Mit ihrer fünfjährigen Tochter, zwei Koffern und zwei Taschen verließen die Eltern die kleine Wohnung am späten Abend. Es war dunkel und nach mehreren Stunden erreichten sie den Wald. Dort schienen sie sicher zu sein. Die Bettdecken wurden auf dem Boden ausgebreitet; Clara durfte zwischen den Eltern liegen. Sie schaute zum Nachthimmel auf, den Flugzeuge erhellten. Endlich war sie mit ihren Eltern zusammen. Leon wie Annita gaben ihr einen Gutenacht-Kuss und sagten „Gute Nacht“. Das war der Himmel auf Erden.

      Morgens packten die Eltern die Sachen wieder zusammen. Annita hatte ein wenig zu trinken und zu essen mitgenommen, so dass sie nicht ganz ohne Frühstück den zweiten Teil ihrer Wanderung antraten. Nach zwei Stunden erreichten sie das besetzte Wien.8 Leon gelang es, zur sowjetischen Kommandantur vorzudringen und sich als Antifaschisten und Deserteur auszuweisen. Die Familie erhielt Quartier und wurde mit Mahlzeiten versorgt. Wenig später ging es in einem Lastwagen ab nach Berlin in den russischen Sektor, wo Leon eine neue Karriere als Verleger begann. Die frühere Nähe zu den Kommunisten half ihm dabei. Die russische Sektorenverwaltung gab ihm den Auftrag, einen Verlag für die russische Zone aufzubauen, und er nahm das Angebot freudig an. Dankesbriefe von Verfolgten des Nazi-Regimes waren eine Hilfe, um das Vertrauen der Russen zu gewinnen.

      Im Gegensatz zur Mehrheit der Berliner Bevölkerung ging es der kleinen Familie gut. Sie erhielten eine große Wohnung, aus der Nazis vertrieben worden waren, und mussten nicht Hunger leiden. Clara kam schnell in Kontakt mit einem Mädchen aus dem Nebenhaus. Die beiden Kinder spielten auf der Straße miteinander - es wurde Sommer. Eines Tages zeigte Gisela Clara einen offen stehenden Keller und Clara ging mit hinein. Gisela sagte: „Ich kenne ein schönes Spiel, aber du musst die Hose dafür ausziehen.“ Clara war ein wenig unsicher, und erwiderte: „Und du?“ „Ich ziehe auch die Hose aus,“ antwortete Gisela, und beide Mädchen taten wie besprochen. Gisela gab Clara die Anweisung, sich zu bücken und hantierte dann mit einem kleinen Stock an Claras Po. Clara mochte das Gefühl. Natürlich wollte auch Gisela, dass Clara ihr dieses Gefühl verschaffte und Clara erfüllte den Wunsch. Gisela wusste, dass sie etwas Verbotenes taten. Clara war sich nicht sicher, aber sie sprach zu Hause nicht darüber.

      Zum ersten Mal bestand Claras Alltag im Zusammenleben mit beiden Eltern. Sie war fünf Jahre alt und betete ihren Vater an. Er genoss ihre Bewunderung, manchmal spielte er mit ihr. Zu ihrem Entzücken auch einmal im Bett, wo sie auf seinen Händen als Flugkörper balancierte. Sie blickte von oben in sein Gesicht und sah, wie auch er sich freute. Dann brach er das Spiel unversehens ab, senkte die Arme und liess sie aufs Bett fallen. Sie dachte, sie habe etwas falsch gemacht. Aber er beruhigte sie und sprach davon, dass er jetzt arbeiten müsse. Erst viel später konnte sie sein Verhalten verstehen: Er wollte sich gegen eigene Übergriffe auf das jauchzende Kind schützen. In diesem Moment jedoch war er ihr ein Rätsel, und sie konnte ihn nicht verstehen.

      Das Verhältnis der Eltern verschlechterte sich – es gab wieder Streitereien. Leon hatte wieder eine Geliebte neben seiner Frau gefunden, und Annita litt erneut Qualen der Eifersucht. Im Gegensatz zu Leon, der in seinem Job viel Anerkennung erhielt, hatte sie nur den häuslichen Bereich zu bestimmen und sie war nur sehr ungerne Hausfrau. Dass Clara und Leon ein sehr inniges Verhältnis hatten, Leon offenbar auch Clara näher war als ihrer Mutter, verstärkte die Unzufriedenheit. Ihre Kränkung durch die Bindung von Vater und Tochter ging so weit, dass sie Clara einmal wegen einer Kleinigkeit bei