Späte Begegnung. Milla Burckhardt

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Название Späte Begegnung
Автор произведения Milla Burckhardt
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783752903492



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Sie traten nur als minderwertige Objekte in Erzählungen oder Berichten in Erscheinung. Björn nahm diese Überheblichkeit mit Erstaunen zur Kenntnis, denn Finn und Louise hatten ihm vermittelt, dass alle Menschen ohne Ansehen der Hautfarbe oder Religion ein Recht auf Glück hatten. Praktiziert wurde ihre Einstellung täglich, wenn sie respektvoll mit ihrem schwarzen Dienstmädchen die Alltagsprobleme und -aufgaben besprachen. Björn merkte, dass die Prinzipien, an die seine Eltern glaubten, nicht überall galten. Insofern erweiterte die Enge des Kindergartens seinen Gesichtskreis.

      Björn hatte Vera geliebt. Die Fragen, die er in der Begegnung mit ihr hatte, waren durch den Abbruch der Beziehung nicht beantwortet worden. In der Begegnung mit Mädchen im Kindergarten stellten sie sich neu. Wie sah ein Mädchen aus im Vergleich zu ihm? Welches waren die Unterschiede? Wie reagierte es auf eine Berührung hier oder dort? Manchmal versuchte er, Mädchen auszuziehen, um ihren Körper zu bewundern. Drei der kleinen Mädchen ließen das gerne geschehen. Hier war es eher sein Forscherdrang, der ihn antrieb, nicht die Sehnsucht nach Nähe. Aber die Mädchen erzählten, was geschehen war, den Erzieherinnen, die empört reagierten. Rosina sah ihn böse an und sagte: „Wie kannst du solche Schweinereien machen?“ Gretel, die zweite Erzieherin, sah ihn ebenfalls vorwurfsvoll an und sagte: „Was du da tust ist unkeusch.“ Der kleine Björn war niedergeschmettert. Schweinereien? Unkeusch? Was ist das? Er begriff die Worte für sein Tun nicht und konnte nichts zu seiner Verteidigung vorbringen. Für die professionellen Erzieherinnen war er ein perverser Junge, sie kündigten den Vertrag mit seinen Eltern. Finn und Louise, denen Freud nicht unbekannt war, konnten an Björns Verhalten nichts Schlimmes finden und nahmen sein Verhalten als Ausdruck von Entdeckungslust, vielleicht auch früher sexueller Neugierde wahr. Das war nichts Schlimmes, wie sie wussten. Es war nicht das einzige Mal, dass ihnen Amerika rückständig vorkam. Aber sie sprachen nicht mit ihm, um ihm die unterschiedlichen Normen im Kindergarten und zu Hause verständlich zu machen. Björn behielt im Ohr, wie empört die Erzieherinnen mit ihm und über ihn sprachen. Er durfte nicht mehr in den Kindergarten gehen und fühlte sich ausgestoßen. Seine Unsicherheit im Umgang mit Mädchen wurde verstärkt. Was war richtig, was falsch? Musste man sich generell fern von diesen Geschöpfen halten, die er doch so gerne mochte? Er wusste es nicht und erhielt auch keine Antwort.

      Zu Hause machte Björn ein störendes Leiden zu schaffen. Wie in den USA üblich, war er als Neugeborener beschnitten worden. Die Operation wurde fehlerhaft durchgeführt und der Junge erlitt bleibende Schäden. Er hatte Schwierigkeiten, die Kontrolle über die Blase zu behalten, und nässte immer wieder nachts ein. Der Vater weckte ihn nachts, um das Bett trocken zu halten und Björn entwickelte große Ängste. Er wollte doch alles richtig machen! Die nächtlichen Überfälle durch warmen Urin jagten ihm immer wieder Schrecken ein – Schrecken vor sich selbst, der nicht in der Lage war, sein Pipi zu halten. Der Vater verzog sein Gesicht in leichtem Ekel, wenn er das Bettzeug wechseln musste. Die Mutter sprang in diesen Situationen nur ein, wenn Finn nicht anwesend war. Auch ihr war diese Entwicklungsverzögerung ihres Sohnes peinlich. Tagsüber wurde nicht darüber gesprochen, und das Schweigen verstärkte die Angst Björns vor der nächsten Nacht, wenn „es“ denn wieder einmal passiert war. Beide Eltern wussten nicht, dass die Blasenschwäche eine besondere körperliche Ursache hatte und behandelten ihn in diesem Punkt als Versager. Erst als Schulkind hatte er die Kontrolle über die Blase, aber auch dann versagte sie manchmal in Stresssituationen.

      Bei all diesen Unsicherheiten waren seine Eltern doch ein sicherer Boden, von dem aus er neue Erfahrungen machen konnte. Aber dieser Boden begann zu schwanken. Finn war weichherzig und seine Familie bedeutete für ihn sein ganzes Glück. Kam es zu Konflikten im Alltag, gab er Louise eher recht, als sich zu streiten. Diese Nachgiebigkeit wertete sie als Schwäche. Je weniger er Louise entgegentrat, umso mehr fühlte sie sich zu „starken“ Männern hingezogen. Sie hätte jetzt lieber einen anderen Mann gehabt. Nicht nur war ihr die Beziehung zu ihrem Mann lästig, auch mit ihrem Hausfrauendasein war sie unzufrieden. Finn hatte eine Professur in Lawrence/Kansas bekommen, Louises Karriere machte keine Fortschritte. Der Krieg kam ihren Trennungsabsichten in gewisser Weise zu Hilfe, weil er das Auseinanderbrechen der Familie beschleunigte.

      Nach dem Überfall Japans auf Pearl Harbour traten die USA in den Krieg ein4, der nachträglich der Zweite Weltkrieg genannt wurde. Das Erste, was die Familie davon merkte, war die Zuteilung von Lebensmittelkarten. Sein Leben lang erinnerte sich Björn daran, dass er während des Krieges nicht mehr so viel Fleisch bekam, wie er es gewohnt war. Seinem Vater gab der Krieg eine Chance, seine Solidarität mit der neuen Heimat und seinen Abscheu gegenüber dem Hitler-Regime zum Ausdruck zu bringen. Unmittelbar nach der Kriegserklärung meldete er sich zum Militär. Aufgrund seiner norwegischen Herkunft erhielt er das Angebot, eine Ausbildung als Spion in Europa zu absolvieren. Er nahm das Angebot gerne an. Diese Ausbildung fand an verschiedenen Orten und in unterschiedlichen Ländern statt, so dass er nur selten bei seiner Familie lebte.

      Seine Abwesenheit nutzte Louise, sich um die eigene Karriere zu kümmern. Sie nahm einen Lehrauftrag an einem College in Winfield/Kansas an; so kam es zum nächsten Umzug. Björn vermisste den Vater, aber der Wechsel der Umgebung machte ihm keine Probleme.

      Um ihm Kontakte zu anderen Kindern zu ermöglichen, aber vor allem, um einige Stunden für sich zu haben, schickte ihn Louise in eine Sonntagsschule. Björn hörte erstaunliche Geschichten von Gott und Jesus – seine Eltern hatten nie mit ihm über die Religion gesprochen und er hatte Gott nie vermisst. In der Sonntagsschule litt er nicht darunter, dass die anderen Kinder ihn für dumm hielten, weil er von ihrer Religion nichts wusste. Er wunderte sich nur über die so anderen Gewissheiten seiner peers.

      Die Lehrerin erwartete fraglosen Gehorsam und der war nicht seine Art. Sie erzählte, wie Gott die Welt geschaffen hatte und die Kinder erhielten die Aufgabe, auf einem Blatt Papier den Schöpfungsprozess darzustellen. Den Anfang machte die Lehrerin mit der Erschaffung von Tag und Nacht. Die Kinder sollten dieses große Ereignis auf ein Papier malen, indem sie auf der einen Seite den Tag weiß und auf der anderen die Nacht schwarz ausmalten. Björn sagte: „Aber das Papier ist doch schon weiß, dann muss man es doch nicht weiter bemalen“. „Nun tu, was ich dir gesagt habe“, antwortete die Lehrerin und ihr Tonfall verriet eine aufsteigende Wut. Die Kinder lachten ihn aus, weil ihnen schien, er hätte die simple Anweisung nicht verstanden. Björn gehorchte schließlich, um seine Ruhe zu haben. Beim Abschied von der Lehrerin zeigte diese auf ein Jesusbild an der Wand und mahnte ihn mit erhobenem Zeigefinger, er müsse Jesus immer bei sich tragen. Björn gehorchte diesmal ohne zu zögern und überzeugt, das Richtige zu tun: Er hängte das Bild ab, um es mit nach Hause zu nehmen. Die Lehrerin wertete das Missverständnis als Frechheit und schimpfte. Björn hatte die Regeln der Schule, die in Anpassung bestanden, nicht begriffen, eine Auswirkung seines Asperger-Syndroms. Auch später geschah ihm dies immer wieder. Von zu Hause war er in diesem Punkt mehr Verständnis und keine Schimpfereien gewöhnt. Als er Louise erzählte, wie es ihm ergangen war, verzichtete sie darauf, ihn wieder in die Sonntagsschule zu schicken.

      Louises Lehrauftrag wurde nicht verlängert, die akademische Karriere blieb aus. Sie war enttäuscht und zog mit ihrem Sohn nach Washington. Dort, so glaubte sie, würde es leichter sein, eine Stelle zu finden. Außerdem bot diese Stadt auch Finn die Möglichkeit, seinen Sohn zu sehen, da seine Ausbildung teilweise dort stattfand. Finn war es wichtig, Frau und Kind so häufig wie möglich zu besuchen.

      Louise fand eine Anstellung als Volkswirtin in einem Ministerium. Sie war glücklich, endlich ihr eigenes Geld verdienen zu können und unabhängiger von Finn zu sein. Auch als Frau blühte sie in Washington auf. Finn war häufig abwesend und sie hatte die Gelegenheit, auszugehen. Sie lernte zunächst bei ihrer Arbeit, dann auch in der Freizeit Männer kennen, die sich für sie interessierten. Manchmal, wenn Finn nicht anwesend war, brachte sie tagsüber auch einen Mann nach Hause. Björn nahm die Veränderungen zur Kenntnis und genoss es, wenn sie über Nacht fort blieb und ihn alleine ließ. Dann fand er Geld auf dem Tisch, von dem er sich zu essen kaufen konnte, was er wollte. Das häufige Alleinsein tat ihm gut, er konnte sich gut allein beschäftigen.

      Als Finn wieder einmal kam, war Louise im Haus beschäftigt. Er rief nach ihr, wer kam, war der kleine Björn, der sich über alle Maßen freute, den Vater wiederzusehen. Finn nahm den Jungen in den Arm, warf ihn hoch, Björn jauchzte. Dann betrat Louise das Wohnzimmer. Finn wollte sie in den Arm nehmen, aber ihr Körper versteifte