Späte Begegnung. Milla Burckhardt

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Название Späte Begegnung
Автор произведения Milla Burckhardt
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783752903492



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war sie entsetzt: das Baby hatte sich wider Erwarten bis zum Ende des Bettes gerollt und war hinunter gefallen. Louise dachte, ihr Sohn sei tot, bis sie merkte, dass er nach dem Sturz ruhig weiter geschlafen hatte. Sie war unendlich erleichtert. Ansonsten befand sich das Kind nicht im Zentrum ihres Denkens und Fühlens.

      Bei ihrer Abfahrt hatten sich alle am Bahnhof eingefunden, um ihr Adieu zu sagen. Louise stieg in den Zug, der Zug fuhr los. Louise stand am Fenster und winkte. Erschrocken hörte sie ihre Großmutter schreien. „Louise, Louise!“ Sie sah ihr Kind in den Armen der Tante und nun fiel ihr auf, dass sie es vergessen hatte. Der Schaffner zog die Notbremse und so kamen Mutter und Kind wieder zusammen. Louise war der Vorfall peinlich – dass eine Frau ihr Kind vergaß stand nicht im Guide zur erfolgreichen Mutterschaft. Finn konnte sie die Geschichte schon amüsiert erzählen und er, der immer noch begeistert war von ihr, fand sie ebenfalls lustig.

      Wenn Louise Björn ansah, ihn wickelte, sein Lächeln wahrnahm, wenn sie ihn, etwas später, beim Spielen beobachtete, fühlte sie nicht nur Stolz, sondern auch Zärtlichkeit. Wie war es möglich, dass sie ein solches Wesen auf die Welt gebracht hatte! Er war nicht nur ein sehr hübsches Kind, das anzusehen ihr Freude bereitete. Er reagierte sensibel auf alle Reize seiner Umgebung, auch auf jede ihrer Stimmungen. So war er oft ein Gefährte für sie, der ihr die eigene Befindlichkeit widerspiegelte.

      Sobald er sprechen konnte, stellte er Fragen zum Zustand der Welt und allem, was er um sich herum wahrnahm. Er lernte schnell und ließ sich in seinem Tun nicht leicht beirren – Misserfolge bei der Lösung einer Aufgabe, sei es beim Spielen, sei es im Haushalt, entmutigten ihn nicht. Er bemerkte die stolzen Blicke seiner Eltern. Sie konnten beide nicht mit ihm spielen, über diese Gabe verfügten sie nicht, aber sie erklärten ihm sehr früh den unbefriedigenden Zustand der Welt und die täglichen Herausforderungen, ohne Druck auszuüben.

      Mit dem kleinen Elefanten, den Louise ihm zum zweiten Geburtstag schenkte, hatte Björn zum ersten Mal in seinem Leben einen Freund. Das Stofftier war fast so groß wie der kleine Junge und wurde zu seinem ständigen Begleiter. Louise fragte nicht lange, wie er das Tier nennen wolle, sondern gab ihm den Namen Aloysius. Mit diesem Namen verband Björn mit der Zeit die Nähe und Wärme, die er manchmal bei beiden Eltern vermisste. Beide waren zeitlich sehr eingebunden. Finn musste sich anstrengen, im Wettbewerb der akademischen Welt zu bestehen. Louise strebte ebenfalls eine akademische Karriere an, so war die Zeit für das Kind knapp. Dafür war der Elefant immer da, er war der Gefährte, der aufmerksam Björns Vorträgen lauschte. Und darauf verstand sich der Dreijährige. Er nahm Inhalte schnell auf und konnte sie auch wiedergeben. Seine Eltern hatten ihm erklärt, dass sie mit Volkswirtschaft ihr Geld verdienten, und Volkswirtschaft, so lernte er, befasste sich mit der Verteilung knapper Güter. Björn zitierte seine Eltern, obwohl er nicht alles verstand und hielt Aloysius Vorträge auch zu diesem Thema. Er war beglückt über den interessierten Zuhörer.

      Aber er verlor seinen Freund. Bei einem Ausflug ins Gebirge kurvte der Bus hin und her und Björn wurde so schlecht, dass er sowohl auf seinen Elefanten wie auch auf den Sitz erbrach. Der Busfahrer, wütend über die nun verdreckten Sitzkissen und den ihm drohenden Ärger, riss Aloysius aus Björns Armen und warf ihn den Abhang hinunter. Björn war verzweifelt, schrie und wollte seinem Freund hinterher springen, um ihn zu retten. Das konnten die Eltern verhindern. Nicht aber den Schmerz über den verlorenen Freund.

      Als Ersatz für Aloysius kauften sie einen lebendigen Hund für ihren Sohn. Der Hund kam seiner Aufgabe nach, den Schmerz Björns zu lindern. Björn war glücklich, wenn Bobby schwanzwedelnd auf ihn zukam, sich zu seinen Füßen legte, seine Hände oder auch das Gesicht leckte. Mit diesem Freund konnte er reden und bekam auch eine Antwort, was nicht hieß, dass der Hund immer folgte. Aber er achtete auf das, was Björn zu ihm sagte. Immer wenn Björn ihn liebevoll, auffordernd oder strafend ansah oder ansprach, reagierte er unterschiedlich. Er war lebendig. Björn hatte nun wieder einen Gefährten, der ihn überallhin begleitete, wo ein Hund erlaubt war. Bobby war ein richtiges Familientier und freute sich auch, mit den Eltern oder einem von ihnen zusammen zu sein.

      Eines Tages, als Björn noch im Kindergarten war, fuhr der Vater in die Garage. Bobby kannte den Wagen und freute sich dermaßen, dass er ihm ins Auto lief. Finn hatte den kleinen Hund nicht bemerkt und überfuhr ihn. Der Hund war nur noch ein blutiges Etwas und starb vor seinen Augen. Entsetzt berichtete er seiner Frau, was passiert war. Als Björn nach Hause kam, fragte er als Erstes: „Wo ist Bobby?“ Denn er war es gewohnt, dass der Hund ihm entgegen sprang. Finn war gerade nicht im Raum, Louise senkte kurz die Augen und sagte ihm dann, sie hätten den Hund in eine Klinik bringen müssen, er sei schwer krank. Björn brach in Tränen aus, wollte in die Klinik, aber seine Mutter sagte, der Hund müsse sich erholen. Und Bobby kam nicht wieder. Damit der Schmerz um den Hund, der nicht wiederkommen würde, abgemildert würde, kaufte Finn einen Bruder von Bobby. Der solle nun so lange bleiben, bis Bobby wieder käme, sagten er seinem kleinen Jungen. Aber Björn konnte sich an den neuen Hund nicht gewöhnen – er war doch ganz anders als Bobby. Bobby kam nicht wieder, und Björns Schmerz war noch schlimmer als die Trauer um Aloysius. Wieder war der nun Vierjährige alleine.

      Die Eltern spürten, dass es bei Björn ein großes Bedürfnis nach Nähe und Zärtlichkeit gab. Sie hatten selbst in ihrer Kindheit nicht genug davon bekommen und waren von daher nicht ausreichend in der Lage, seine Bedürfnisse zu erfüllen. Weitere Kinder, die ein Gegengewicht gebildet hätten, vermieden sie. Louise hatte schon mit einem Kind genug zu kämpfen, um in der Arbeitswelt Fuß zu fasen. Manchmal nahm sie Björn in den Arm und küsste ihn. Aber das war nicht oft, und immer, wenn er anfing, die körperliche Nähe zu genießen, setzte sie ihn ab und wandte sich ihren anderen Interessen zu. Seine Sehnsucht wurde nie ganz erfüllt.

      Mit vier Jahren verliebte sich Björn in Vera, ein gleichaltriges Mädchen aus der Nachbarschaft. Er wollte ihr nahe sein, ihren Körper berühren und sich an sie schmiegen. Später würde er sie heiraten. Er zog das Mädchen liebevoll und voller Neugier auf den Mädchenkörper aus. Sie sagte: „Was machst du da?“, unterbrach ihn aber nicht. Sie genoss, dass er sie streichelte und beide Kinder dachten sich nichts Böses. Nachdem Vera zu Hause erzählt hatte, was Björn mit ihr spielte, verboten ihre Eltern den Umgang mit ihm – für Björn ein Schlag in das Gestrüpp seiner Sehnsüchte. Hatte er etwas Schlechtes getan? Er verstand Veras Eltern nicht. Louise verurteilte ihn zwar nicht, sie ließ den Vorfall auf sich beruhen. Aber sie versäumte, mit ihm darüber zu sprechen, so dass sich bei dem kleinen Jungen eine gewisse Unsicherheit festsetzte. Wenn er nun Vera sah, vermied er ein Näherkommen, um nicht noch einmal enttäuscht zu werden.

      Andere Jungen erlebte er als aggressiv und gewalttätig. Ein Junge, kleiner als er, war langsamer als die anderen Kinder und einige der Jungen verspotteten ihn. Wenn es Streit gab, waren zwei Jungen, Ronald und Herbert, auch gleich zu Schlägen bereit – man musste sich vorsehen. Björn hatte Angst, selbst die Rolle des gedemütigten Jungen übernehmen zu müssen. Und er gab den aggressiven Kindern Anlässe. Er war gesichtsblind3, ohne es zu wissen. Wenn er ein Gesicht sah, das ihm eigentlich bekannt war, konnte er sein Gegenüber nicht erkennen. So hielt sein Gegenüber – Kind oder Erwachsener – ihn häufig für unhöflich oder dumm. Freunde fand er nicht.

      Seine Position in der Hierarchie der Kindergruppe wurde durch eine weitere körperliche Schwäche beeinträchtigt. Die Kinder im Kindergarten und später in der Grundschule nutzten die Gelegenheit, ihn auszulachen, denn seine Beine konnten auf Druck nicht standhalten. Björn konnte nicht mehr aufrecht stehen, wenn ein Kind ihn von hinten schubste, er fiel sofort auf die Knie, und die waren immer lädiert. Diese Unfähigkeit wurde als Schwäche betrachtet. Die Kinder machten sich über ihn lustig, auch die Erwachsenen hielten ihn für einen Schwächling. Sie kümmerten sich nur dann um ihn, wenn die Knie bluteten und ein Pflaster nötig war. Seine Schwäche gab ihm immer wieder das Gefühl, nicht so stark und leistungsfähig wie die anderen zu sein. Jahre später, als die stärkeren Beschwerden schon fast der Vergangenheit angehörten, wurde die Auffälligkeit als Morbus Ollier diagnostiziert. Als er das erfuhr, dachte er: Vielleicht war es ein Glück, dass im Kindesalter keine Diagnostik stattfand – man hätte ihn möglicherweise operiert, was nicht erforderlich war, weil das Leiden sich meistens auswächst.

      Verhielten sich manche Kinder im Kindergarten Björn gegenüber unduldsam und unfreundlich, so waren sie gegenüber jenen, die den Kindergarten