Späte Begegnung. Milla Burckhardt

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Название Späte Begegnung
Автор произведения Milla Burckhardt
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783752903492



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und nicht gut gelaunt war, musste seine häufige Abwesenheit sein. Da er Louise liebte, hatte er kein Bedürfnis nach einer anderen Frau und konnte sich auch nicht vorstellen, dass sie andere Bedürfnisse hatte als mit ihm zu leben. Björn registrierte die Zurückhaltung seiner Mutter und war traurig, dass die Eltern nicht mehr so liebevoll und freundlich miteinander waren wie in den ersten Jahren seiner Kindheit. Eine Scheidung gab es in seinem Kinderkosmos nicht.

       Clara

      Claras Vater Leon wuchs als Sohn eines preußischen Offiziers in Schlesien auf. Seine Mutter hielt sich nicht an die militärischen und auch sonst gültigen Normen – sie betrog ihn, verließ Mann und Sohn und reichte die Scheidung ein. Daraufhin war die Karriere des Vaters beendet, er wurde als Leiter eines Gefängnisses eingesetzt. Im ersten Weltkrieg musste er als Soldat „dienen“ und fiel in Frankreich. Leon hatte nun mit acht Jahren Mutter und Vater verloren. Seine Verwandten wollten ihm eine militärische Karriere ermöglichen und steckten ihn in eine Kadettenanstalt. Die dort praktizierte Erziehung für das Militär bedeutete Zwang zur Männlichkeit mit der Betonung von Zucht und Disziplin auf der einen, der Verdrängung von Emotionalität und Sensibilität auf der anderen Seite.5 Leon war unglücklich in der Anstalt, seine Eltern hatten ihm mehr Entwicklungsmöglichkeiten eingeräumt.

      Auch in den Ferien bei seinen Verwandten ging es ihm nicht gut. Diese Menschen waren ihm fremd und vertraten Ansichten, die er nicht teilte: Anerkennung autoritärer Systeme, Verteufelung von Sexualität außerhalb der Ehe, Antisemitismus. Von Vater und Mutter hatte er in den ersten Jahren seines Lebens eine gewisse Freizügigkeit im Denken erlernt. Die Schule, die er verachtete, verließ er ohne Abschluss. Er machte eine Ausbildung als Buchhändler und fand eine Anstellung in einem Verlag.

      Sein eigentliches Leben fand außerhalb des Broterwerbs statt. Lesen, denken, diskutieren, eine eigene Meinung zum Sinn des Lebens, zur Gesellschaft, zur Politik zu entwickeln – das machte ihm Freude. Das Berlin der 20erJahre war abenteuerlich und er war politisch überaus interessiert. Er schloss sich den Kommunisten an und verfolgte die politische Entwicklung ab 1930 mit großer Sorge. In Annita, die er auf einem Ball kennen lernte, fand er eine Gesinnungsgenossin. Sie kam aus einem kleinbürgerlichen Elternhaus, in dem sie neben ihrer angeblich schöneren Schwester immer die Zweite war. Mit ihrer Neugier auf geistige Anregungen war sie dort recht alleine gewesen. Wie Leon hatte sie Freude am Lesen und Diskutieren über den Zustand der Welt. Sie erlebte Leon als Befreiung von den Fesseln des Kleinbürgertums. Beide fanden sich im Interesse für neue Strömungen wie der Psychoanalyse und in der Wut auf die beginnende Naziherrschaft. Nie konnten sie begreifen, dass die Deutschen von Hitlers Absichten angeblich nichts gewusst hatten.6 Beide wussten, dass sie ihre Ansichten nun nicht mehr öffentlich äußern durften.

      Leon brauchte die Bestätigung durch immer neue Geliebte, das führte zu Spannungen. Sie heirateten trotzdem. Beide planten keine Kinder. Leon lehnte Kondome ab und „sah sich vor“. So aufgeklärt er sich fühlte, so weit war er in diesem Punkt hinter seiner Zeit zurück. Aber Sex mit Kondom widersprach ihm, und die Folgen zeigten sich. Eines Abends, Annita hatte wie meistens etwas zu essen vorbereitet, saßen sie sich gegenüber. „Ich bin schwanger“, sagte sie und sah ihm ernst in die Augen. Leon blickte zurück und war zunächst einmal sprachlos. Dann fragte er: „Bist du sicher?“ Annita, die schon beim Frauenarzt gewesen war, nickte. „Willst du das Kind denn bekommen?“ fragte er, in der Hoffnung, sie würde abtreiben. Aber Annita bejahte und so fand er sich mit seinem Schicksal ab, Vater zu werden. Es war ja noch lange hin bis zur Geburt.

      Die Freude der werdenden Eltern hielt sich in engen Grenzen. Ihre Beziehung war nicht stabil, immer wieder fühlte sich Annita von Leons Eskapaden verletzt, der grössten Wert auf seine Freiheit legte. Annita hingegen liebte ihn und konnte ihn nicht verlassen. Schon gar nicht nun, da sie schwanger war. Hinzu kamen die Vorboten und der Ausbruch des Krieges.7 Sie hatten Grund zur Angst vor dem Kommenden, denn dass dieser Krieg auf Dauer nicht mit einem Sieg für Deutschland enden würde, war ihnen klar. Es galt, Überlebensstrategien zu entwickeln.

      Zunächst sah alles gut aus. Es gab noch keine großen Dokumentationszentren, wo verzeichnet war, dass Leon einmal Kommunist gewesen war. Er war in der Lage, seine Lebensgeschichte zu „frisieren“ und bekam unter den Nazis eine Anstellung bei einem großen Verlag, den er in besetzten Ländern vertreten sollte. In Dänemark, dann in Brüssel hatte er die Aufgabe, deutsche Literatur zu vertreiben und Propaganda für die Besetzer zu machen. Nebenbei konnte er in seltenen Fällen auch Juden und anderen Gefährdeten helfen, unterzutauchen oder das Land zu verlassen. Aber die Möglichkeiten, seiner Überzeugung gemäß zu leben, waren begrenzt.

      Obwohl Annita schwanger war, wollte er sie nicht in seiner Nähe haben, er ließ sie in Berlin alleine. Kurz vor der Geburt des Kindes setzte sie sich in ein Flugzeug und flog zu ihrem Mann nach Kopenhagen. Leon kümmerte sich um ein Krankenhaus, wo Clara zur Welt kam. Er besuchte sie im Krankenhaus und schaute erstaunt auf den Säugling, den er mit ihr gemeinsam in die Welt gesetzt hatte. Einen Bezug dazu hatte er nicht. Clara war Annitas Anhängsel und hatte mit seinem Leben nichts zu tun, außer dass er für die Zeugung verantwortlich war. Annita war enttäuscht und deprimiert: Bedeutete es gar nichts für ihn, dass sie ein Kind geboren hatte, ein Kind, das nun die Fürsorge beider Eltern brauchte? Offensichtlich nicht. Immerhin übernahm Leon finanzielle Verantwortung.

      Nach der Entbindung buchte er ein gutes Hotel, in dem sie mit dem Baby ein paar Tage bleiben würde. Annita bat Leon um ein Gespräch. Bei einem abendlichen Treffen im Hotel sprachen sie über die Zukunft. Sie sagte bittend: „Wir haben jetzt ein Kind, wir sind eine Familie. Wir müssten doch zusammenleben.“ Leon senkte den Kopf. Er wusste um ihre Erwartungen. Aber Familie – das war kein Wert, der in seinem Leben eine große Rolle spielte. Der Säugling, den er gezeugt hatte, gehörte zu Annita. „Es tut mir leid, aber ich habe eine Freundin. Du passt nicht mehr in mein Leben.“ Annita hatte es geahnt, aber Freundinnen hatte Leon schon viele gehabt. Sie war schließlich mit ihm verheiratet und nun auch Mutter seines Kindes. Dieses Pfund hatte sie in die Waagschale geworfen, aber umsonst. „Ich möchte nicht mit dir zusammenleben“, sagte er leise, aber bestimmt. „Ich werde für dich und das Kind sorgen, aber leben möchte ich nicht mit dir.“ Annita sah, dass er seinen Standpunkt nicht verändern würde. Sie versuchte gar nicht erst, ihn umzustimmen – es wäre verlorene Liebesmüh (!) gewesen. Sie war zu stolz, um zu weinen oder gar zu betteln und fügte sich seinen Wünschen. Sie trat die Rückreise nach Deutschland an. Von dort zog es sie nach Österreich, wo sie eine Freundin hatte. Leon zahlte ihr genug Unterhalt für ein finanziell sorgenfreies Leben mit ihrem gemeinsamen Kind.

      Die junge Mutter konnte allerdings mit einem Kleinkind nicht viel anfangen. Sie selbst war aufgrund einer tiefen Unsicherheit über ihren Wert von dem Bemühen durchdrungen, über Schönheit und Leistung die Anerkennung ihrer Umwelt, besonders von Männern, zu erringen. Sie hatte keine Lust, mit ihrem Kind zu spielen, zu basteln, zu malen – sie wollte selbst mehr Aufmerksamkeit haben. Sie wäre froh gewesen, wenn Clara sich als Überfliegerin entpuppt, wenn sie alles von alleine gekonnt hätte. Aber Clara war wie die meisten Kinder darauf angewiesen, dass eine Person ihr zeigte und mit ihr erprobte, wie die Welt auseinander- und wieder zusammenzusetzen war. Sie brauchte ein wenig Hilfestellung um zu erfahren, was sie selbst mit Bewegung und Fingerfertigkeit erreichen konnte. Dazu war Annita nicht in der Lage: Sie hatte selbst keine solche Person in ihrer Kindheit gehabt. Immerhin hatte Clara einen wachen Verstand, nahm schnell auf und richtete sich nach den Erwartungen der Mutter. Annita liebte ihre Tochter, weil das Kind sie liebte und ihre Hilfsbereitschaft anfeuerte. Aber die erwartungsvollen Augen, mit denen Clara sie anschaute, ihre unausgesprochenen Bitten, immer wieder Aufmerksamkeit von der Mutter zu erhalten, das Bewusstsein, dass Clara mit ihr spielen wollte, das alles stresste ihre Mutter. Und dennoch versuchte das kleine Mädchen so zu sein, wie die Mutter es wünschte: liebevoll, aufmerksam, hilfsbereit, soweit es ihrem Alter möglich war. Aber die Anerkennung der Tochter zählte nicht für Annita, solange sie nicht die Anerkennung ihres Mannes erhielt. Und die blieb aus.

      Die kleine Clara spürte die Ambivalenz der Mutter und tat alles, um ihre Liebe zu gewinnen. Da die Mutter ihre Bedürfnisse nach Zärtlichkeit auch mit Clara teilweise befriedigen konnte, gab es Momente der Übereinstimmung und Verbundenheit. Das Wickeln und Waschen des Säuglings, dann die Körperpflege des Kleinkindes waren solche