Der kleine Mordratgeber. Michael Nolden

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Название Der kleine Mordratgeber
Автор произведения Michael Nolden
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738002799



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gequatscht. Ein paar Mal. Nachher haben wir Telefonnummern ausgetauscht. Wir sind beide nicht gut zu Fuß. Und der Kaffee im Café ist zu teuer. Jetzt vielleicht gerade nicht, aber, ja, er muss es ja nicht wissen. Auch sonst keiner.« Er machte eine Pause. »Du sagst es doch auch keinem?«

      Emilie lehnte sich zurück, merkte, wie die Anspannung aus den Muskeln wich, alles weicher wurde, gegen die hohe Lehne gedrückt. »Wem sollte ich es sagen?«

      »So ganz aus der Welt bist du nicht.« In der Tat gab es mehr Menschen, die mit Emilie sprachen als mit ihm. Max traf diese Feststellung neidlos. Sie hatte den Mitleidsbonus, der andere anzog. Sein Stock, so beschloss er, galt anderen als zu wichtigtuerisch und stieß ab. Offene Zeichen der Schwäche kamen nie gut an, fand er, sie vermittelten ein unbegründetes Gefühl der Ansteckungsgefahr. Im Sinne einer körperlichen Behinderung war das selbstverständlich ausgemachter Blödsinn. Emilies Blindheit hingegen, gepaart mit ihrem elegant alten Aussehen, der leichten aristokratischen Hilflosigkeit, lockte andere Menschen an, als schauten sie ein Orakel einer vergangenen Epoche.

      »Ich sag nichts«, meinte Emilie. Ihre hellen Augen sahen an ihm vorbei, zum Fenster, wo die Lichter funkelten.

      Er wünschte, sie könnte die bunten Farben sehen. Ein Wunsch, der niemals wahr werden konnte. Er wünschte, ihre Verwirrtheit kehrte nie mehr zurück und die Entrückungen aus der Gegenwart blieben vereinzelte Ausrutscher. Die Prognose der Ärzte widersprach diesem Wunsch. Es würde schlimmer werden. Wie sehr oder wann, das konnte oder wollte ihm niemand sagen. Max griff nach ihrer Hand, er bedeckte sanft ihre Finger, so runzelig, fleckig, so zart wie eh und je, wenn er die Augen selbst schloss und in die Vergangenheit reiste, an die verschiedenen wichtigen Punkte ihrer Zweisamkeit, die länger und länger geraten war. Ein Jahr, noch ein Jahr, bis zum zehnten, dem zwanzigsten, dreißigsten, vierzigsten Hochzeitstag, und wie die Zahl schier unglaublich war, betrachtete man sie von der Warte eines jungen Max Heiliger aus. Wie die Zahl am Ende zu einem gigantischen Geschenk anwuchs, dem Gefühl nach unverdient und derart mit Liebe angefüllt, dass die Brust bei dem Gedanken an sie zu platzen drohte und Tränen das Herz überfluteten, gejagt von dem Gedanken, diese Zeit, so ewig sie schien, werde einst enden.

      »Ist doch nur Spaß«, sagte Max. »Mein ich. Aber wir müssen auch vorsichtig sein. Es hat sich so viel geändert. Und Leute werden für weniger überfallen.« Und getötet, fügte er in Gedanken hinzu. Der Tod war es auch, der dem Weihnachtsnachmittag den Zauber nahm, denn Tod war das hauptsächliche Thema von »Der kleine Mordratgeber« vor ihm auf dem Tisch.

      »Willst du mir etwas aus dem Buch vorlesen?«

      »Bitte?«, fragte Max, vollkommen aus den Gedanken gerissen.

      »Das Buch? Hast du das auch neu? Ich höre dich täglich darin blättern. Und es ist dick. Hab ich gefühlt. 1000 Seiten?« Emilies Hand tastete nach den Butterplätzchen.

      »Mehr. Etwas mehr als 1000«, antwortete Max langsam. »Ist ein Fachbuch. Deshalb so dick. Das wird dich nicht interessieren. Ist übers Lkw–Fahren. Heutzutage.« Er seufzte theatralisch. »Ich vermisse das.«

      Emilie schmunzelte. »Tust du nicht.« Dann lächelte sie breit. »Nein, tust du nicht. Du vermisst das nicht.« Nach drei Sekunden fragte sie mit ängstlichem Timbre: »Was steht in dem Buch? Wirklich?«

      »Wie man den blöden Schwager loswird«, erwiderte Max lapidar. Seinem Ton war nicht anzumerken, ob er es ernst meinte oder nicht.

      Sie erkannte, dass er ihre Frage nicht zu beantworten gedachte. »Ich weiß, du magst ihn nicht.« Ihre Stimmung schlug um. Weihnachten war nur ein Geruch. Eine Temperatur draußen. Weihnachten war kein Gefühl mehr. »Ich will mich hinlegen. Ich bin müde«, quengelte sie plötzlich. Sie stand vom Tisch auf, sicherer als in jener Nacht, in der er sich mit Maria Deller getroffen hatte. Jeder Handgriff saß. An der Tischkante entlang hinüber zur Küchenzeile waren die einzelnen Schritte genau bemessen, die Bewegungen präzise in den wachen Momenten memoriert. Emilie blieb an der Küchentür stehen. »Du sagst mir noch, was in dem Buch steht? Oder?«

      Max seufzte. »Es ist über Haushaltsführung. Und Geldanlagen, Schatz. Nichts Weltbewegendes. Das bisschen Geld, das soll wenigstens nicht durch – irgendwie blöd verloren gehen.«

      Emilie nickte, den Kopf in seine Richtung gewandt und beinahe glaubte Max, sie könne ihn doch sehen. Der bleiche Schimmer in ihren Augen machte das kurze Wunschbild zunichte.

      In den folgenden Tagen telefonierte Max Heiliger ein ums andere Mal mit Jordan Ganter. Er fand, eine persönliche Aussprache, wenn auch fernmündlich, sei für sein Anliegen die Methode, die den anderen Mann am ehesten überzeugen helfen konnte. »Ich bürge für Ihre Sicherheit«, flüsterte Max sich selbst zu, wie ein Schlangenbeschwörer, der sein wiegendes Gegenüber zu hypnotisieren gedachte. »Ich bürge für Ihre Sicherheit.« Wie das anzustellen sei, in diesem konkreten Fall, vermochte er nicht zu sagen. Sein Plan war noch nicht so ausgereift, wie er es gerne zu diesem Zeitpunkt seiner kleinen Präsentation – fachmännisch ausgedrückt – gehabt hätte. Während ihrer langen Gespräche hatte Max seinen Auftraggeber Ganter um außergewöhnliche und wiederkehrende Veranstaltungen des Altenheims gebeten, solche, die nicht nur Abwechslung mit sich brachten, vielmehr auch eine Veränderung des Standortes.

      Jordan Ganter konnte nur mit drei Gelegenheiten aufwarten. Max freute sich, hatte er nicht einmal mit einer gerechnet. Die Drangsalierungen im Heim, derer Ganter nicht müde wurde aufzuzählen und deren Einzelheiten stets dazu gewannen, hatten nicht den Anschein irgendwelcher Vergünstigungen erweckt. Dennoch gehörten drei Ausflüge im Jahr zum Standardrepertoire der Aktivitäten, und solange Ganter und seine Kumpanei in Sachen Auftragsmord Zwangsgäste im Heim waren, hatte es nie Ausnahmen dieser Regeln gegeben. Grundsätzlich in den Nebensaisons verschiedener Landstriche – es war billiger, außerdem waren Sonderpreise ausgehandelt worden – fuhr das gesamte Heim in eine wenig ausgelastete Unterkunft in der Nähe eines ganz normalen Urlaubsortes. In zwei Fällen war es ein mehrtägiger Ausflug, im letzteren Fall transportierte man die alten Herrschaften morgens an die See und abends wieder zurück. Handelte es sich um einen dringend gewünschten Tapetenwechsel, wurde er trotzdem von vielen Heimbewohnern verabscheut, da man sie auf der langen und für sie pausenlosen Fahrt gegen ihren Willen mit Windeln bewehrte, ob nun inkontinent oder nicht. Die erduldete Erniedrigung, getarnt als Zuwendung für mehr Lebensqualität, empfanden viele als grauenhafte Schmach. Manche versuchten sich sogar mit vorgetäuschter Bettlägerigkeit davor zu drücken und gerieten so in Verhaltensweisen lang vergangener, ängstlich gefürchteter Tage zurück, da dieses Verhalten geholfen hatte, eine drohende Klassenarbeit nicht schreiben zu müssen. Für Max Heiliger schied der Tag an der See für seine Zwecke aus. Die anderen beiden Aktivitäten, die sich über ein ganzes Wochenende im einen Fall, eine Kurzwoche im anderen Fall – weil finanziell noch günstiger im Aufenthalt – erstreckten, waren besser für die Umsetzung seiner Ideen geeignet. Das Wochenende entführte die Rentner auf ein umgebautes Kasernengelände in der Nähe von Münster. Die ehemaligen Gebäude der Bundeswehr boten Mehrbettzimmer und Tagesausflüge ins benachbarte Umland – ohne Windelzwang – mit Kaffee und Kuchen und – weil im Sommer gelegen, einer Jahreszeit, in der Rucksacktouristen einen Bogen um dieses Gebiet machten – einem Grillabend, der von einem örtlichen Werbeverband unterstützt wurde, weil man zeitgleich Artikel wie Heizdecken und Katzenfelle vorausschauend für die kalte Jahreszeit anpries.

      »Ich habe schon zwei Katzenfelle und drei Heizdecken«, empörte sich Jordan Ganter hinter vorgehaltener Hand über diesen Umgang mit ihnen. Diese Verquickung von Ausflug und Verkaufsveranstaltung war bei den Folterprüfern gleichfalls auf taube Ohren gestoßen, die Regierungsbeamten – Zitat: Wir nehmen das trotzdem sehr ernst. – hatten indes versprochen, die Beschwerden der Heimbewohner an die Verbraucherzentrale weiterzuleiten. Hier sah man eher eine Zuständigkeit gegeben. »Zwei Katzenfelle«, sprach Jordan Ganter weiter, »von Viechern, deren Felle so aussehen wie von räudigen Straßenkatern.« Er schüttelte fassungslos den Kopf. »Niemand hört uns zu.«

      »Ich schon«, erwiderte Max. Aber wer lässt sich heutzutage noch Katzenfelle andrehen, dachte er bei sich. Die können doch nicht echt sein? Max Heiliger meinte sich zu erinnern, von einem Verkaufsverbot von Katzenfellen gelesen zu haben.

      Nun handelte es sich um ein früheres Kasernengelände,