Zeitenwandel. Ingrid Mayer A.

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Название Zeitenwandel
Автор произведения Ingrid Mayer A.
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847676058



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fast gänzlich, sodass er beschloss, sich nun doch flatternd seinen Weg zu bahnen. Seine Füße schmerzten ohnehin schon sehr und würden es ihm danken. Als Gershwin etwa die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatte, kamen die Raben.

      Durchdringende Schreie verschreckten den Papagei, der sich duckte und ängstlich gen Himmel blickte, als zöge dort ein schreckliches Unwetter auf. Doch statt Gewitterwolken tauchten dort schwarze Schatten auf, zunächst nur wenige, die sich jedoch schnell mehrten, bis dutzende, ja schließlich hunderte finstere Wesen das Firmament verdunkelten. Als sich einige davon auf einer nahen Fichte niederließen, konnte er sie näher begutachten. Was für sonderbare Vögel, dachte Gershwin. Im Gegensatz zu seinem in edlem Grau gehaltenen Federkleid wies das ihre ein strenges Schwarz auf, das sich sogar in den Schnäbeln und Krallen fortsetzte. Ihre Gestalt wirkte eher grob, wie von niederer Herkunft, vermutete er. Doch als er wieder nach oben sah, fiel ihm sofort die behände Beweglichkeit der Tiere auf. Geschickt glitten sie auf den Windströmen dahin, ließen sich ohne auch nur einen Flügelschlag treiben als koste sie das nicht die geringste Mühe. Eine ganze Weile sah er ihnen zu, wie sie in Scharen über das Feld zogen und lauschte ihren mystisch anmutenden Rufen.

      Schließlich setzte er schwerfällig seinen Weg fort. Nach scheinbar endloser Zeit erreichte Gershwin den Waldrand und blieb schwer atmend vor einer Tanne stehen. Für einen Moment freute er sich, da die größten Strapazen nun wohl überstanden waren, doch als er seinen Kopf in den Nacken legte und am Stamm entlang nach oben blickte, verließ ihn beinahe der Mut. Trotz seiner Erschöpfung wagte er den Sprung auf einen der unteren Zweige. Dem Ziel so nahe zu sein, verlieh ihm außergewöhnliche Kräfte. Ast für Ast kämpfte er sich nun auf diese Weise vorwärts und kletterte immer weiter den Baum hinauf.

      Ein Stück unterhalb des Wipfels beschloss Gershwin, dass diese Höhe nun genügte. Der Blick nach unten ließ ihn schwindeln, doch als er in die Ferne blickte, nahm ihm die grandiose Aussicht seine Angst. Davon hatte er immer geträumt. Die Erfüllung seines langgehegten Wunsches lag nur noch einen Schritt weit entfernt. Vom Nachbarbaum löste sich eine dunkle Silhouette. Der Rabe flog auf ihn zu und umkreiste die Tanne, als wollte er ihn damit ermuntern, es ihm gleichzutun. Gershwin nahm all seinen Mut zusammen und stieß sich ab. Mit weit ausgebreiteten Schwingen stürzte er sich in die Tiefe. Er würde fallen. Es war Unsinn gewesen, zu glauben, die Fähigkeit zu Fliegen wäre ihm angeboren. Nie hätte er hierher kommen dürfen. Der Boden kam näher. Verzweifelt schlugen Gershwins Flügel auf und nieder, bis er sich schließlich seinem Schicksal überließ. Der Wind fuhr jäh unter seine Federn und trug ihn nach oben. Er schwebte hoch über der Erde, segelte über die Wiesen und sah aus den Augenwinkeln einen schwarzen Vogel, mit dem er sich eigenartig verbunden fühlte. Gershwin flog! Immer neue Kreise zog er über den Wald und schwelgte in grenzenloser Freiheit, bis die Dämmerung einsetzte.

      Zurück am Boden schloss Gershwin die Augen, um im Gedanken noch ein wenig seinem wahr gewordenen Traum nachzuspüren. Noch einmal sah er die Wipfel unter sich hinweg gleiten und empfand dabei erneut ein ungeheures Glücksgefühl. Er war zufrieden wie noch nie zuvor in seinem Leben. Doch so sehr er den Flug genossen hatte, wurde ihm auch bewusst, wie ermattet ihn die Ereignisse des letzten Tages hatten. Der Schwindel erfasste ihn plötzlich. Er taumelte und versuchte vergebens, sein Gleichgewicht wieder zu finden. Die schemenhaften Umrisse der Bäume verschwammen zu einer grauen Masse, die ihm die Orientierung nahm. Gershwin stieß gegen eine hervorstehende Wurzel, fühlte, wie seine Beine nachgaben und sank ins weiche Moos.

      Die Nacht bedeckte seinen erschöpften Leib mit Dunkelheit.

      Zeitenwandel

      Der Auftrag war äußerst ungewöhnlich, doch Lisa konnte es sich nicht leisten, einen Job abzulehnen. Nicht in ihrer momentanen finanziellen Lage.

      Im Abteil war es still. Ihre Mitreisenden lasen oder blickten stumm auf die vorbeifliegende Landschaft. Regentropfen benetzten das Zugfenster und liefen in langen Spuren über das Glas hinab. Lisa dachte an das Ziel ihrer Reise. Paris. Stadt der Mode. Im Geiste sah sie sich in einem mondänen Abendkleid über den Laufsteg schreiten, hörte bereits den aufbrandenden Applaus. Aber daraus würde nichts werden. Die Agentur, die sie gebucht hatte, wollte etwas ganz anderes.

      Paris empfing sie mit tristem, konturenlosem Grau, das anscheinend auch dem missgelaunten Taxifahrer aufs Gemüt drückte. Schnell und fluchend wechselte er die Spuren auf der Champs-Elysèes, über die sich ein unaufhörlicher Strom aus Blech und Lichtern wälzte.

      Als sie endlich am Hotel ankamen, dämmerte es bereits. Während Lisa langsam ihre Sachen auspackte, fragte sie sich, mit welchen Menschen sie morgen zusammenarbeiten würde. Ihre bisherigen Auftraggeber waren oft etwas schwierig gewesen, selten konnte Lisa es ihnen Recht machen obwohl sie sich immer bemüht hatte. Lisa war müde und wollte nur noch ein wenig fernsehen und dann früh ins Bett gehen, damit sie morgen ausgeschlafen war. Sie griff nach der Fernbedienung. Im selben Moment klopfte es an der Tür.

      Als sie öffnete, stand vor ihr ein freundlich lächelnder junger Mann.

      “Hi, ich bin Jim.“

      Verwirrt starrte Lisa ihn an.

      “Ich bin morgen dein Fotograf“, fügte er hinzu. „Dachte, wir könnten zusammen essen gehen, dann können wir uns schon mal aneinander gewöhnen.“

      Der Gedanke, mit einem ihr bis dahin unbekannten Mann in einer fremden Stadt ein Restaurant zu besuchen bereitete ihr zunächst Unbehagen. Aber da sie nichts anderes vorhatte und ein bisschen Ablenkung gut gebrauchen konnte, sagte sie schließlich zu.

      Später war sie froh darüber, denn so erfuhr sie ein wenig mehr über das morgige Projekt. Jim erzählte ihr, dass eine Firma, die mittelalterliche Kleidung und Zubehör verkaufte und die dazu passenden Veranstaltungen organisierte, Fotos für den neuen Katalog brauchte.

      “Du hast absolut das Gesicht dazu“, schwärmte Jim. Lisa wusste nicht, ob es erstrebenswert war, ein mittelalterlich anmutendes Aussehen zu besitzen, doch ihr war klar, dass der Fotograf nur ein Kompliment machen wollte. Jim bemerkte seinen Fauxpas wohl an ihrer zweifelnden Miene und wirkte auf einmal schuldbewusst.

      “So habe ich das nicht gemeint. Ich meinte nur, du weißt schon...“

      “Ist schon gut“, beschwichtigte Lisa, woraufhin Jim nur noch betretener schaute. Doch schließlich mussten sie beide lachen.

      Als Jim sie zum Hotel brachte standen sie sich für einen Moment wortlos gegenüber.

      “Dann hoffen wir mal, dass morgen das Wetter ein bisschen besser wird“, brach Jim schließlich das Schweigen und hauchte ihr zum Abschied einen Kuss auf die Wange.

      Am nächsten Morgen schien die Sonne. Der Stylist kam zu Lisa ins Hotel und verwandelte sie binnen einer Stunde in eine Art Hofdame, mit bunten Bändern im Haar und blassem, beinahe farblosem Make-up.

      Sie fuhr mit Jim und seinem Assistenten Victor quer durch Paris. Einen Set gab es nicht, es war einfach geplant, an verschiedenen Stationen zu halten und Lisa dort aufzunehmen.

      Ihre erste Station war das Moulin Rouge, wo sich sofort Schaulustige um das Geschehen scharten. Lisa deutete auf die Windmühlenflügel.

      “Was hat das hier mit dem Mittelalter zu tun?“, wollte sie wissen.

      “Eigentlich nichts“, gab Jim zu. „Aber das ist halt so ein Spleen von diesen Leuten. Die wollen eben die bekannten Sachen im Hintergrund haben.“

      Während Victor hektisch ein paar Lampen aufstellte, zog sich Lisa hinten im Lieferwagen um. Es war ein wenig merkwürdig, in diesem Aufzug auf die Straße zu gehen, doch als Model war Lisa daran gewohnt, dass die Menschen sie anstarrten. Jim war sehr freundlich zu ihr, und Victor machte alberne Späße. Zwischen den Aufnahmen lobte Jim sie immer wieder und stand sehr oft vor ihr, um vorsichtig ihr Kinn ein wenig mehr nach oben zu rücken oder ihren Arm in die richtige Position zu schieben.

      Später ging es auf den Innenhof des Louvres, wo Lisa vor der Glaspyramide posierte, anschließend zum Eiffelturm. Sie genoss es immer mehr, die Stadt auf diese Weise kennenzulernen. Von den Treppen des Montmartre aus strahlte Lisa in die Kamera, während Jim alles tat, damit sie sich wohl fühlte und optimal