Zeitenwandel. Ingrid Mayer A.

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Название Zeitenwandel
Автор произведения Ingrid Mayer A.
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847676058



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und mindestens zehn Jahre jünger als Inge. Als Peter ohne Reue seine Affäre gestand, reichte sie die Scheidung ein. Sie hatte noch mehrere Männer kennen gelernt, doch eine Beziehung war nie mehr zustande gekommen.

      Dass Herbert nun in solch erbärmlichen Verhältnissen leben musste, bestürzte sie zutiefst. Anscheinend hatte er weder Freunde noch Angehörige, die sich um ihn kümmerten. Er hatte er das nicht verdient. Doch wie konnte sie ihm helfen?

      Inge hatte von solchen Leuten wie Herbert gehört. Ohne fremde Hilfe würde er es nicht schaffen. Wenn sie sich später keine Vorwürfe machen wollte, musste sie jetzt handeln. Sie durfte ihn nicht allein seinem Schicksal überlassen.

      Am nächsten Tag hatte Inge frisches Brot, Käse und Obst gekauft sowie einige Reinigungsmittel. Als sie begann, ein wenig aufzuräumen, trat ein ängstlicher Ausdruck auf Herberts Gesicht, und er stellte sich breitbeinig vor seine Habseligkeiten, als wollte er diese beschützen.

      “Kein Sorge, Herbert“, versicherte Inge, die ihren Fehler sofort bemerkt hatte. „Ich will dir nichts wegnehmen.“

      Er nickte benommen und ließ sie gewähren. Scheinbar hilflos beobachtete er, wie seine alte Schulfreundin die Spüle in seiner Küche frei räumte, um sie zu putzen, während sie beruhigend auf Herbert einredete.

      Nach einiger Zeit zog er sich ins Wohnzimmer zurück. Diese Gelegenheit nutzte Inge, um rasch vergammeltes Obst, rostige Konservendosen und anderen Unrat einzusammeln und alles in einer Tüte zu verstauen, die sie fest zuknotete. Sie wusste, wie schwer es Herbert fiel, sich von diesen Dingen zu trennen. Deshalb öffnete sie kurzerhand das Fenster, vergewisserte sich, dass sich niemand auf der Straße befand und warf den Müll hinunter. In fünf Minuten würde sie unten sein und den Abfall von dort entfernen. Das schien ihr die einzige Möglichkeit zu sein, irgendetwas aus dieser Wohnung hinauszuschaffen.

      Mit ihm zu reden war schwierig. Sie versuchte es wieder und wieder, doch stets erschien ihr Herbert unzugänglich und ängstlich. Ihren Trick mit dem Fenster hatte er bald herausbekommen. Als Folge davon ließ er sie nicht mehr allein, sondern begutachtete skeptisch ihr Treiben, als könnte sie jeden Moment etwas kaputt machen, wenn er nicht auf sie aufpasste. Gerne hätte sie ihn von seinen stinkenden Kleidern befreit und ihn gewaschen, doch er schlug wild um sich, als sie versuchte, ihm die Jacke auszuziehen.

      Der Gang zum Sozialamt fiel ihr schwer. Doch sie selbst hatte nichts bewirken können, und die Zeit drängte, denn ihr Aufenthalt in dieser Stadt war bald beendet. Auf sie würde er niemals hören. Er wollte nichts ändern an seinem Leben. Doch was wäre, wenn er krank würde? Vielleicht war Herbert es bereits, denn er sah erbärmlich aus und brauchte professionelle Hilfe. Auch wenn es ihm nicht gefallen würde, musste sich jemand um ihn kümmern.

      Es war der letzte Tag vor ihrer Abreise. Sie klingelte am späten Vormittag mehrmals bei ihm, doch Herbert öffnete nicht.

      “Herbert?“ Niemand antwortete. Besorgt ging sie schließlich wieder fort. Als am Nachmittag immer noch keiner aufmachte, wandte sie sich an den Hausmeister, der schließlich mit dem Generalschlüssel aufsperrte.

      “Ach du Schande!“, rief er, als ihnen bereits im Flur der Gestank entgegenschlug. Ungläubig besah er sich das Chaos, das hier herrschte.

      “Herbert?“ Inge trat ins Wohnzimmer und blieb nach wenigen Schritten abrupt stehen. „Oh Herbert. Bitte nicht.“

      Herbert Rosemann saß reglos auf seiner Couch und starrte mit stumpfen Blick ins Leere. Als Inge ihn berührte, sackte sein Kopf nach vorne. Sie tastete nach seinem Puls und fand ihn nicht.

      “Schnell, einen Notarzt!“, schrie der Hausmeister, als er den leblosen Mann sah.

      “Den werden wir nicht mehr brauchen“, entgegnete Inge und schloss sanft Herberts Lider.

      Auf seinem Schoß lag ein verschlissenes Kleidungsstück, das er mit beiden Händen fest umklammert hielt. Es war eine Knabenhose, die ihm vor sehr langer Zeit einmal gepasst haben musste.

      Summertime

      Die Nadel kratzte quer über den Plattenteller und erzeugte dabei ein hässliches Geräusch, das die melancholische Melodie jäh unterbrach. Der Arm des Mannes schrammte über das alte Grammophon; er versuchte sich an dem Gerät festzuhalten und riss es schließlich mit sich zu Boden. Regungslos blieb er dort liegen. In dem lichtdurchfluteten Foyer, das vor kurzem noch voller Musik und Leben gewesen war, herrschte nun Stille.

      Gershwins Federn plusterten sich unwillkürlich auf. Von seinem Gehege aus hatte er die Geschehnisse beobachtet, und was er nun sah, gefiel ihm nicht. Der Mensch lag zusammengekrümmt wie eine schlafende Katze zu Füßen des Käfigs und bewegte sich nicht.

      Für den Fall, dass er tatsächlich nur schlief, stieß Gershwin einen schrillen Pfiff aus, doch es gelang ihm nicht, ihn zu wecken. Unruhig sprang Gershwin auf den Stangen seines Geheges umher und wartete, dass sich der Mann endlich wieder aufrichtete. Schließlich hatte dieser ärgerliche Vorfall die Musikstunde unterbrochen. Von Zeit zu Zeit spielte der Mann ihm Aufnahmen seines Lieblingskomponisten vor. Manchmal folgten darauf leidenschaftlich vorgetragene Gedichte, doch heute hoffte Gershwin vergeblich auf eine derartige Zerstreuung.

      Endlos zog sich die Zeit dahin. Die ungewohnte Ruhe im Haus erschien dem Vogel unheimlich. Er wünschte sich, jemand würde ein Fenster öffnen, denn die Luft im Raum wurde zunehmend heißer und stickiger. Wenn Gershwin dicht an die Gitterstangen herantrat und zwischen ihnen hindurchlugte, konnte er dem Menschen ins Gesicht schauen. Er erschrak, als er die offenen Augen und den starren Blick sah. Der Papagei wurde zunehmend nervöser, rückte doch die Essenszeit bald näher. Wer sollte ihm nun frische Leckereien in die leeren Schälchen füllen?

      In dem Moment, als der Schrei ertönte, war sein Hunger vergessen. Er kannte die Frau, die sehr leise das Haus betreten hatte. Das tat sie immer, um den Herrn nicht zu stören, falls dieser einmal länger im Bett blieb. Doch nun stand sie vor dem Mann und schlug die Hände vor dem Gesicht zusammen. Gespannt verfolgte Gershwin, wie sie einen kleinen Kasten aus ihrer Jackentasche herausnahm, mit den Fingern darauf herumdrückte und ihn schließlich an ihr Ohr legte. Ihre Stimme klang aufgeregt. Er wunderte sich darüber, dass sie nicht wie sonst begann, herumliegende Dinge an ihren richtigen Platz zu legen und anschließend den Besen holte, um damit zusammenzufegen. Vielleicht würde sie ihm später wenigstens ein kleines Mahl bereiten. Doch sie redete immer noch in das kleine Gerät, tippte zwischendurch darauf herum und würdigte Gershwin keines Blickes.

      Als die Männer kamen und den Mann auf einer Bahre forttrugen, überfiel Gershwin eine Ahnung. Nichts würde mehr sein wie zuvor. Der Mensch kehrte vielleicht nie mehr zurück. Die Frau trat nahe an den Käfig heran und sprach zu Gershwin wie zu einem kleinen Kind. Dann machte sie sich an der Verriegelung der Käfigtür zu schaffen, bis diese schließlich quietschend aufsprang. Er wartete darauf, dass sie die Näpfe herausnahm, um frisches Futter hineinzufüllen, doch stattdessen ließ sie die Tür auf und ging einfach weg. Ein Windstoß fuhr durch das ebenfalls offen stehende Eingangsportal ins Zimmer, der die Stange, auf der Gershwin saß, ein wenig schaukeln ließ. Ungläubig richteten sich Gershwins kreisrunde Äuglein auf die lockende Freiheit. Der Vogel hüpfte ein bisschen näher heran. Nicht, dass es ihm hier schlecht ergangen wäre. Im Lauf der Jahre hatte er sich an das gute Essen, die prunkvolle Umgebung und all die Musik und Lyrik gewöhnt. Es hätte ihm ein schlimmeres Schicksal beschert sein können. Nur ein Wunsch war ihm nie erfüllt worden.

      Sich außerhalb des Käfigs fortzubewegen erwies sich als mühsamer, als er gedacht hatte. Auf dem glatten Boden fanden seine Krallen kaum Halt. Als befände sich unter ihm eine Eisbahn, rutschte und stolperte er auf die Terrassentür zu. Einige Male probierte er ein Flattern, doch es kostete ihn zuviel Kraft auch nur einen halben Meter in die Höhe zu gelangen, bloß um kurz danach wieder abzustürzen. Kraft, die er später noch brauchen würde.

      Auf der Veranda empfing ihn frische, laue Abendluft, die er gierig einsaugte. Erleichtert stellte er fest, dass die Sonne bereits dem Horizont entgegen sank und nicht mehr auf sein Köpfchen brannte, wo sie seine spärlich gewordenen Federn hätte versengen können. Dennoch würde es für sein Vorhaben noch lange genug hell sein. Er blickte zum Waldrand