Zeitenwandel. Ingrid Mayer A.

Читать онлайн.
Название Zeitenwandel
Автор произведения Ingrid Mayer A.
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847676058



Скачать книгу

sechzig Jahren vergangen, und er trug eine Schlafanzughose aus Flanell.

      Immer wieder holte ihn die Vergangenheit im Traum ein, und jedes Mal fühlte es sich genauso an wie damals. Er stand auf und ging zu dem Eichenschrank, der neben seinem Bett wuchtig aufragte. Die Tür knarzte, als er sie öffnete. Von draußen fiel der Lichtkegel einer Straßenlampe herein und beleuchtete das Innere des Schranks, der vollgestopft war mit Kleidungsstücken. Herbert Rosemann zog eines davon heraus und faltete es auf. Es beruhigte ihn, dass sie immer noch in seinem Besitz war. Motten hatte markstückgroße Löcher in die Hose hineingefressen, und sie war ihm mittlerweile viel zu klein. Dennoch hatte er nie erwogen, sich von ihr zu trennen. So, wie er sich auch von keiner anderen Hose getrennt hatte, die er danach erworben hatte. Von keiner einzigen. Herbert Rosemann hatte alle aufgehoben. Sie lagerten nicht nur im Schrank, sondern auch im Keller, in der Kommode, im Wohnzimmer und auf der Eckbank in der Küche. Neben den Hosen stapelten sich Hemden, Jacken, Pullover und Schuhe. Fleckig und zerrissen, schäbig und stinkend. Sie waren sein ganzer Stolz. Was hätte der kleine Herbert von damals gesagt, wenn er all die Schätze gesehen hätte! Liebevoll streichelte Herr Rosemann noch einmal über den groben Wollstoff, bevor er wieder ins Bett ging.

      Herbert hatte einen geregelten Tagesablauf. Er stand immer um dieselbe Zeit auf, bereitete sich einen Kakao zu, indem er das Pulver in ein wenig Wasser einrührte und aß ein Stück trockenes Brot. Im Laufe der Zeit hatte er sich daran gewöhnt, allein zu leben. Obwohl er sich mehrere Male in seinem Leben verliebt hatte, war die Richtige nie dabei gewesen. Früher hatte er auch einige Freunde gehabt, die er gelegentlich besuchte, aber nach und nach waren diese Freundschaften eingeschlafen. Herbert tat nichts, um sie wiederzubeleben, denn eigentlich gefiel ihm das Alleinsein besser. So konnte er tun und lassen was er wollte.

      Am frühen Morgen ging er in die Stadt, wo er den ganzen Vormittag verbrachte. Er schob sein altes Fahrrad, an dessen Lenker viele bunte Plastiktüten hingen, über die Gehsteige. Die Sammelstellen für Abfall kannte er alle. Und beinahe an jeder fanden sich Gegenstände, die er brauchen konnte. Was die Leute alles wegwarfen! Zeitungen, die nur einen Tag alt waren, Schraubgläser, in denen man etwas aufbewahren konnte oder Regenschirme mit verbogenen Speichen. Als könnte ihm jemand die Sachen wegnehmen, inspizierte er die Container, schaute sich kurz um, ob ihn jemand beobachtete und sammelte dann seine Schätze ein. Aus dem Biomüll zog er einen Apfel, der nur auf einer Seite braun und sonst ganz in Ordnung war. Liebevoll betrachtete ihn Herbert einen Moment und steckte ihn anschließend in seine Hosentasche.

      Mit prall gefüllten Tüten kehrte er gegen Mittag heim. Wie immer verbrachte er den Nachmittag damit, seine Fundstücke zu ordnen und einen Platz für ein jedes davon zu finden. Als Herbert gerade die neu erworbenen Zeitungen auf die bereits vorhandenen Stapel legte, klingelte es an der Tür. Zunächst verharrte der alte Mann regungslos. Es musste einige Wochen her sein, dass jemand bei ihm geläutet hatte. Der Postbote wusste seit langem, dass er keine Pakete für die Nachbarn annahm. Vielleicht ein Neuer, dem das noch nicht bekannt war, vermutete Herbert. Während er noch überlegte, ob er überhaupt aufmachen sollte, schellte es erneut. Lautlos wie eine Katze schlich er zur Tür und spähte durch den Spion. Draußen stand eine ältere Frau mit blonden kurzen Haaren. Herbert legte die Kette vor und öffnete die Tür einen Spalt.

      “Herbert?“, fragte die Frau. Sie lächelte ihn freundlich an, was eine Menge Fältchen um ihre Augen entstehen ließ. Herbert sah sie verständnislos an.

      “Weißt du nicht mehr - ich bin Inge, wir sind zusammen zur Schule gegangen.“

      Inge. Ihr Haar war nicht mehr naturblond wie früher, und sie hatte ziemlich zugenommen. Aber ihr Blick war so fröhlich und unbeschwert wie damals, als er sie zum letzten Mal gesehen hatte. Die Stadt war nach dem Angriff in Schutt und Asche gelegen. Auch das Haus, in dem Inge wohnte, gab es nicht mehr.

      Nächtelang hatte er geweint und sich gewünscht, er wäre damals nicht nach Hause sondern mit ihr gegangen, um jetzt nicht diesen Schmerz ertragen zu müssen, der ihn so sehr quälte.

      “Darf ich reinkommen?“, fragte Inge. Herbert nestelte an der Kette herum, bis die Tür ganz aufsprang und trat zur Seite, um sie einzulassen. Während sie eintrat erzählte sie von ihrer älteren Schwester, die in einer anderen Stadt gewohnt hatte und zu der sie mit ihrer Mutter nach dem Angriff gezogen war. Vor einem Jahr hätte sie begonnen, nach alten Schulfreunden zu forschen und jetzt suche sie die ehemaligen Klassenkameraden auf, deren Adresse sie hatte ausfindig machen können. Ein Bekannter hatte ihr einen Tipp gegeben, wo sie ihn vielleicht finden könnte.

      Als Inge schließlich in seinem Wohnzimmer stand, hielt sie die Luft an. Der Unrat in der Wohnung stank fürchterlich. Auch von Herbert ging ein strenger Geruch aus, als hätte er sich lange nicht gewaschen.

      “Vielleicht solltest du mal lüften“, schlug sie vorsichtig vor. Herbert nickte benommen. Noch immer hatte er kein Wort gesagt. Seine letzte Unterhaltung lag schon so lange zurück, dass er sich nicht mehr daran erinnern konnte. Er beobachtete, wie Inge in seiner Wohnung herumging und alles betrachtete. Es war ihm unangenehm, dass sie so deutlich schockiert wirkte. Sie bahnte sich einen Weg durch die Müllberge bis in die Küche, wo überall Dosen herumstanden, deren Haltbarkeitsdatum um viele Jahre überschritten war und Küchenabfälle in großen blauen Tüten vor sich hinrotteten.

      “Herbert, du brauchst Hilfe.“

      Voller Mitgefühl betrachtete sie seine ausgemergelte Gestalt, an der die viel zu weite, schmutzige Kleidung traurig herabhing.

      “Ich komme morgen wieder, ja?“

      Herbert starrte ins Leere. Sie sollte jetzt gehen. Er wollte keinen Besuch. Schließlich kam er gut allein zurecht. Insgeheim fürchtete er, dass sie jemanden holen würde, der ihn nicht mehr hier leben ließ. Der alles wegräumte und seine ganze Arbeit, die er während der letzten Jahre in diese Wohnung gesteckt hatte, mit einem Schlag zunichte machte. Er ließ sich auf die Couch sinken, dort, wo er neben Kleiderstapeln ein Stück frei gelassen hatte, damit man sich setzen konnte.

      Als sie die Wohnung verlassen hatte, atmete Inge tief ein. In all den Jahren hatte sie sich oft gefragt, was aus ihrem alten Freund Herbert geworden war. Aus dem liebenswerten Jungen, der stets den Eindruck vermittelte, als müsse sie ihn beschützen. Früher hatte sie gerne mit ihm gespielt, meist allein, denn viele Kinder mieden den immer ein bisschen traurig wirkenden Herbert. Sie dagegen genoss die stillen Stunden, in denen sie vollkommen vertieft Löcher in das Erdreich gegraben hatten, um diese später mit Wasser zu fluten. Anstatt sich zu einem kleinen See aufzustauen, versickerte es natürlich sofort, doch das war ihnen egal gewesen. Alles um sich herum für eine Weile zu vergessen, versunken in ihre Aufgabe, das zählte mehr als das Ergebnis.

      Der Aufbruch damals kam überstürzt; es blieb keine Zeit zum Abschiednehmen. Zum Zeitpunkt des Angriffes waren Inge und ihre Mutter bei einer Bekannten zu Besuch. Das hatte ihnen das Leben gerettet. Der Weg aus der Stadt, hindurch zwischen Trümmern verlief still.

      Tage später kamen sie fast ohne Gepäck bei Inges Schwester an, die sie bei sich aufnahm.

      Nach der Schule hatte Inge eine Friseurlehre begonnen. Sie mochte den Geruch nach Shampoo und Haarspray und die Damen, die nach dem Föhnen so schön aussahen. All das gefiel Inge so sehr, dass sie später die Meisterschule besucht und einen eigenen Laden eröffnet hatte.

      Eines Tages hatte ein Mann vor Inge gestanden und um einen Haarschnitt gebeten.

      “Wir sind aber ein Damensalon“, hatte ihm Inge erklärt, doch er verhielt sich so freundlich, dass sie eine Ausnahme machte. Es war nicht das letzte Mal, dass Peter zu ihr zum Schneiden kam. Ein Jahr später heirateten sie.

      In ihrem wohlverdienten Ruhestand wollte Inge sich nun Dingen widmen, die ihr am Herzen lagen und für die sie früher nie Zeit gefunden hatte. Sie dachte an all ihre alten Schulfreunde, die sie später nie wieder gesehen hatte, und begann damit, die wenigen, von denen sie eine Adresse herausfand, zu besuchen. Zuerst rief sie dort natürlich an, aber als sie es bei Herbert versuchte, der sogar im Telefonbuch stand, war die Leitung tot. Inge erinnerte sich, im Wohnzimmer einen verstaubten grauen Apparat mit Wählscheibe gesehen zu haben, von dem ein Stück Kabel lose herunterhing.

      Inge hatte sich eine Freundschaft erhofft, insgeheim vielleicht auch ein bisschen mehr. Zu lange lebte sie nun