Nur ein Traum. Semira Sayer

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Название Nur ein Traum
Автор произведения Semira Sayer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738058734



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ich, nicht erst nach Hause zu fahren um die vergessenen Einladungsbriefe abzuholen, sondern zur Poststelle zu laufen, um wenigstens schon einmal die abzugeben, die ich bei mir trug.

      Fest entschlossen faltete ich die Tragtasche, steckte sie unter meinen Arm, um sie vor dem Nasswerden zu beschützen, wandte mich von der Traminsel ab und schickte mich an, in Richtung der engen, langen Gasse, die zur Post führte, zu gehen.

      Noch bevor ich mich einige Schritte in Bewegung gesetzt hatte, kam mir eine Menschenmenge aus dem Bahnhof um Punkt fünf Uhr Nachmittag entgegen und bewegte sich in gleicher Richtung. So hatte ich Mühe, meinen Weg beizubehalten und gegen den Strom zu laufen.

      Es waren viele Menschen, meistens mit blonden, kurzen oder langen Haaren oder gar kahlen Köpfen, weibliche und männliche Passenten, die in gleichem Takt und Tempo vorwärts kamen. Auf den ersten Blick entdeckte ich ausdruckslose Gesichter und rar werdenden Gesprächsstoff sogar unter den aufgespannten Regenschirmen, Spuren eines stressigen Tages? War es das Unwohlsein nach Beendigung des Arbeitstages ohne einen befriedigenden Tagesinhalt? Die angespannten, enttäuschten, traurigen, nicht lachenden Gesichter, die von erhofften, aber nicht gefundenen Glücksträhnen zeugten, waren keine Seltenheit. Besonders heute fiel mir das deutlich auf.

      Nachdem sich die Menschenmenge aufgelöst hatte, konnte ich ungestört meinen Weg über die breite Straße fortsetzen, dann bog ich schon in die Gasse zur Post ein.

      Ich kann mich sehr gut erinnern, rief ich mir ins Gedächtnis zurück, wie Thomas und ich uns auf Mallorca kennen gelernt hatten.

      Meine Freundin Sarah und ich hatten im letzten Moment Urlaub auf Mallorca ausgesucht und uns ganz spontan entschieden, unsere Ferien dort zu verbringen.

      Als ich alleine, ohne meine rothaarige Freundin Sarah, die wegen der starken Sonnenstrahlen ihren hellen Teint am Anfang besonders schützen musste und sich in ihr Zimmer zurückgezogen hatte, genoss ich diesen heißen Tag im Schatten eines großen Pinienbaumes.

      Nach drei schönen Urlaubstagen kam Sarah früh am Morgen in mein Zimmer gestürmt und rief in jämmerlichem Tonfall: „Wie kannst du so ruhig da liegen und schlafen, während ich leiden muss?“ Mit ausgreifenden Handbewegungen über ihren Schultern fuhr sie fort: „Sieh mich nur an, wie ich aussehe! Wie eine rote Krabbe, von Schlafen kann gar keine Rede sein“, beklagte sie sich mit einem Seufzer. Obwohl ich noch halb geschlafen hatte, sah ich sie an und musste mich schwer zurückhalten, um keinen Lachanfall zu bekommen. Wie sie so hilflos dastand und tatsächlich so rot aussah, dass sogar ein Kontrast zu ihrer ärmellosen roten Bluse zu sehen war! „Ach, es geht mit der Zeit schon vorbei, du musst dich richtig eincremen mit dem richtigen Sonnenschutzfaktor, dann kannst du dich wieder in die Sonne trauen“, tröstete ich sie während ich aufstand. Sarah setzte sich mit ärgerlichem Gesicht auf einen Stuhl rechts neben dem Bett. „Du hast gut reden, denn du hast ja nicht so einen entsetzlich schmerzhaften Sonnenbrand! Dabei habe ich mich so auf diese Ferien gefreut!“ Sie seufzte viele Male nachdenklich hintereinander.

      „So schlimm kann das auch wieder nicht sein! Gib mir ein paar Minuten, dann gehen wir zwei zuerst frühstücken“, sagte ich ruhig und ging in meinem weißen Morgenrock ins Badezimmer. Ich hatte sie fast zum Frühstück mitschleppen müssen, so lustlos war sie allem gegenüber. Nach dem Frühstück versuchte ich in der Halle, sie mit allen möglichen Mitteln zu überreden, dass sie mit mir mitkommen sollte. „Du kannst doch im Schatten liegen, bis du ein wenig Farbe angenommen hast!“, schlug ich ihr vor.

      „Nein, ich bleibe liebe hier drinnen in meinem Zimmer. „Sarah war hartnäckig geblieben, ich hatte sie nicht umstimmen können.

      Ich weiß heute nicht, ob sie wegen meiner Sonnenhungrigkeit auf mich neidisch war.

      Aber ich genoss die Hitze unter den Pinien vor dem bewaldeten Hintergrund mit den Großen Bäumen am Sandstrand. Genüsslich lag ich nach dem Baden im Meer auf einem Liegestuhl und las mein auf die Reise mitgenommenes Buch.

      Als ich einen Schatten von der Meerseite entdeckte, hob ich meinen Kopf mechanisch hoch. Zwei blaue Augen trafen sich mit meinen. So ein Blau hatte ich noch nie zuvor gesehen. Die Farbe drang durch seine Sonnenbrille und ließ sich als hellblau erkennen. „Hallo, ist der Platz neben dir frei?“, fragte mich eine Stimme freundlich.

      Mit gleichmäßigen Schritten lief ich durch die Gasse. Inzwischen hatte es aufgehört zu regnen, doch der Regen hatte feuchte Spuren in der Luft und der Erde hinterlassen. Vorsichtshalber versicherte ich mich, dass ich nun nicht mehr länger verfolgt wurde. Ich drehte mich zurück und blickte mich um. Mit spöttischem Lächeln, daran ich selber nicht glaubte. Außer mir war keine Menschenseele auf dieser Straße, auch kein schwarzes Auto war zu sehen. Alle meine Besorgnisse waren umsonst gewesen, und ich war sichtlich erleichtert, ich hatte mir die Ereignisse vorher wohl nur eingebildet. Meine Fantasie geht wieder mit mir durch, dachte ich und lächelte weiter vor mich hin.

      Eine alte Frau in einem hellbeigen Mantel tauchte plötzlich neben mir auf. Sie lief in die gleiche Richtung wie ich und ging erheblich schneller voran. Ihre müde, abgespannte Erscheinung sagte mir vieles über sie, während ich sie unbemerkt betrachtete, als sie neben mir vorbeiging. Ich machte mir über ihr Alter und ihren Familienstand Gedanken, doch sie war alleine unterwegs. Frauengelächter schreckte mich auf. Auf einmal waren wieder Menschen da. Ich sah ein junges Paar, das links von mir auf dem Trottoir marschierte. Sie war eine schwarzhaarige, junge Frau, die versuchte, ihren Partner aus seiner Sturheit herauszulocken und ihn mit ihrer Fröhlichkeit anzustecken. Das gelang ihr aber nicht.

      Dann warf ich einen misstrauischen Blick auf dem immer noch mit grauen Wolken verhangenen Himmel, mit meinen Gedanken durchsichtig hindurch.

      Es sind jetzt schon fast zwei Jahre vergangen, überlegte ich so bei mir, als Thomas eines schönen Tages, bald nach unserem zweiwöchigen Urlaub, bei mir anrief und mich zum Kaffeetrinken einlud. Von diesem Tag an hatte sich unsere Freundschaft entwickelt.

      Etwas wie eine Vorahnung auf kommendes Unheil ließ mich plötzlich in meinem ganzen Körper frösteln, doch ich setzte meinen Weg fort, ohne darauf zu achten, und dachte weiter über Thomas und mich nach.

      Nach langem Zusammenleben waren wir uns endlich einig geworden zu heiraten. Bewusst machte ich mir Gedanken über die in letzter Zeit aufgetauchten Meinungsverschiedenheiten wegen unwichtiger Kleinigkeiten, die unsere gute Partnerschaft schwer belasteten, doch Thomas war der Meinung, durch unsere Ehe und später Kinder würden wir viel fester als zwei erfahrene Menschen miteinander verknüpft sein. „Kinder sind die Früchte einer Ehe“, hatte er erst kürzlich betont. Und ich dachte im Inneren, dass ich noch nicht bereit dazu sei, jetzt schon Kinder zu haben. Dadurch erschien mir die Zeit schon jetzt monoton auf die immer gleiche Art und Weise davonzueilen. Die Tage, Monate, Jahre würden dann doppelt so schnell dahinziehen und wir dabei schneller altern, ohne den gewünschten und erträumten Höhepunkt erreicht zu haben in meinem Leben, dachte ich, und auch daran, dass ich es vieles schon im Kindesalter verpasst hatte. Und ich erinnerte mich an meine vergebliche Suche nach vielen Dingen, schon mein ganzes Leben lang.

      Als ich Thomas meine Gedanken eröffnete, sah er mir direkt ins Gesicht. „Du lebst in einer Scheinwelt, meine Liebe“, meinte er unvermittelt. Meine innersten sehnlichen Wünsche kümmerten ihn gar nicht. Für ihn war es immer so gewesen, daraus schloss er also, dass es bei mir auch nicht anders sein müsste.

      Wenn ich die Initiative ergriffen und mich gegen seine Zukunftspläne wehren würde, würde wahrscheinlich unsere Liebe dahinschmelzen. Das empfand ich nicht als richtig. denn Thomas und ich hatten sonst viel Gemeinsames.

      Dadurch würde es uns nicht schwer fallen, das Leben miteinander zu teilen. Aber da waren sie eben, die kleinen Uneinigkeiten! Angeblich brachte das Leben diese mit sich. Damit stellte es mich auf die harte Probe. Oder, wie Thomas meinte, durch die Jahre und die damit verbundenen Erfahrungen könnten wir diese Ungereimtheiten aus der Welt schaffen.

      So wie in der letzten Nacht wiederholten sich die Fragen in meinem Kopf wie ein Kreisel, ich dachte an das Glücklichsein, an Schönheit in einem glanzvollen Leben, an Reichtum und Machtbesitz.

      „Du bist doch schön“, sagte Thomas immer zu mir.

      Ach ja! Thomas!