Название | Wir sind Unikate, Mann |
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Автор произведения | Norbert Johannes Prenner |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783742773401 |
Arno stützte sein Kinn in seine linke Hand, in jene mit der Narbe, die er sich zugezogen hatte, als er als Kind, um einen unbedeutenden Graben zu überwinden, diesen übersprungen und, um nicht zu unsanft auf der anderen Seite aufzukommen, sich mit dieser Hand abgestützt hatte um den Fall zu bremsen, just dort, wo eine alte Glasscherbe unsichtbar, weil flaschengrün und gut getarnt aus dem hohen Gras ragte, welche sogleich eine böse Wunde, einen tiefen Schnitt sozusagen, sichtbar für alle Zeiten, der längs durch seinen Daumenballen gegangen war, hinterlassen hatte. Er betrachtete die helle, vom Daumen hin zur Pulsader gezogene Narbe, und mit einem Mal schien alles in seiner Vorstellung plötzlich so gegenwärtig und klar, wie damals alles ausgesehen hatte, der feuchte Graben, davor die hohe Linde, an die hundert Jahre alt, die mittlerweile gefällt worden war, um das Verbreitern der Straße zu gestatten, das Haus, in dem sein Freund bis zum heutigen Tage wohnte.
Die Kirche und die Schule vor dem Platz, sicht- und greifbar, als wäre alles wirklich. Nur der Platz selber, Schulhof seinerzeit, war nicht mehr lehmig und aufgeweicht vom Dauerregen der letzten Wochen, sondern säuberlich asphaltiert und eingezäunt, mit Rastern weiß gekennzeichnet als Stellplatz ständig wechselnder parkender Fahrzeuge. Kein Kind durfte hier spielen, nicht so wie früher, als man bis in die Dämmerung hinein umher tollen durfte, ungestört, nicht verjagt von einer Technik, die ursprünglich der rascheren Fortbewegung dienen sollte und dieses Verhältnis sich im Lauf der Zeit längst umgekehrt hatte und der Mensch dem Dämon der Mobilität hinterher hetzte, schon lange nicht mehr ausschließlich, um aus irgend einem Grunde von da nach dort zu gelangen, nein, oft schon allein bloß um des Fahrens Willen.
Oft gar nur dem Rausch der Geschwindigkeit folgend, als sich sein Blick nach Sekundenlanger Zeitreise plötzlich wieder zu klären begann, sich die Vorstellungen dieser Erinnerungen in Nebel aufzulösen begannen und er wieder nur auf die schwarz-weißen Kacheln am Boden starrte. Als Kind hatte Arno stets an den Wahrheitsgehalt alles Geschriebenen geglaubt, wobei er sich die infantile Ehrfurcht davor sehr lange, ja, als Erwachsener sogar noch bewahrt hatte, wie alles, was gedruckt war, für ihn von ungemein wichtiger Bedeutung schien, unumstößlich, für die Ewigkeit gemacht, von Menschen, die sich ihrer Verantwortung darüber, wenn darauf bestanden wurde, das Unumstößliche darzustellen, voll bewusst waren. Umso enttäuschter schien er, als sich auch diese Vorstellung von der Existenz einer für alle gültigen Wahrheit als unerfüllbare Traumvorstellung entpuppt hatte und heißem Dampf gleich sich zu verflüchtigen anschickte.
Und er, vielleicht später als andere, die ernüchternde Entdeckung gemacht hatte, dass es mit der Übertragung von Wahrheit und ihrer Wirklichkeit nicht weit her sei. ganz besonders aber fürchtete er seither das Dogma des Boulevards und seines Diktates, nicht nur das für den kleinen Mann, mit dem eine Art Verpflichtung zur Lektüre einherzugehen schien, wie auch zu Texten des täglichen Gebrauchs, und diese Texte schrien ihn an, stachen ihm ins Auge, sobald er sie, wenn auch bloß flüchtig, überflogen hatte, so leuchteten ihm einzelne Passagen aus dem Schriftbild hervor, als wären sie in Signalfarbe gedruckt, Stellen zumeist, die das Normative eines halbwegs logischen vernünftigen Satzes überschritten hatten und das Außerordentliche signalisierten, Wichtiges in ihrem Leuchten transportierten, wie Arno glaubte.
Was über das Syntaktische hinausging und dem Semantischen zuzuordnen war, jener Beziehung zu dem, was zwischen den Zeichen und ihrer Bedeutung mitgeliefert worden war. Für Arno eine Welt, eine Luftbrücke zwischen dem schalen Alltag und jenseits aller Dumpfheit unselektiven Konsumierens von Werten, welche im Ranking ihrer Wichtigkeit für ihn tagtäglich zunehmend an Bedeutung zu verlieren begonnen hatten. Aber es war auch eine Welt, dachte Arno, eine Welt in der er leben musste, mit Menschen, die ihresgleichen wie Tiere in Kellern zu halten pflegten, aus Gründen niederster Triebbefriedigung, oder aus Angst, sie könnten ihnen weglaufen oder vor lauter Einsamkeit, oder einfach nur, wie man sich eben einen Hund hält, in einem Land, in dem die Lüstlinge und die Voyeure die Schlagzeilen diktierten, die Schlüssellochgucker, die Scheinmoralisten und Abzocker.
Die Ehrabschneider und Selbstbeweihräucherer und die Besserwisser, die Gutestuer und Schlechtredner und solche, die über andere gerne urteilten und sie belehren wollten, ohne dass sie jemand danach gefragt hatte. Ein Land, in dem ganz einfach immer schon alles möglich war, auch das Unmögliche. Arno riskierte einen vagen Blick auf die am Boden liegende Zeitung und tat, als ob er gar nicht die Absicht hätte, weiter darin zu lesen jedoch - er konnte gar nicht anders, als den Buchstaben folgen, die ihn in immer engere Schluchten und Geröllhalden neuer Absätze führten, auf denen er hinab glitt bis ans Ende der Seite, wo er schließlich verwundert darüber seinen Kopf schüttelte, dass das alles geschehen konnte, was eben bisher geschehen war und man einander nicht helfen konnte es zu verhindern, was zu verhindern Wert gewesen wäre, um das Versäumnis nachzuholen, diese Welt zu einer besseren gemacht zu haben.
Kapitel 2
Zeitvertreib
Und ich dachte, wir sind dich los, Mann? lachte Caro. Arnos persönlicher Seelenarzt und zog heftig an seiner Zigarette. - Irrtum! Das hättest du dir so gedacht, wie? Arno holte sich den Stuhl näher ran und setzte sich.- Was liegt an? Hast du nasse Socken oder hat dich deine Herrin wieder einmal verlassen? - Herrin! Was heißt hier Herrin? Hat es jäh den Anschein gegeben, als stünde ich unterm Pantoffel?, grinste Arno.- Aber Schiss hast du, gib’s zu, versuchte Caro ihn in die Ecke zu drängen. - Constance ist eine Frau, die eben weiß, was sie will. Und das ist nicht unbedingt etwas Negatives. Oder findest du? Und überdies ist sie in Paris. Dienstlich. - Na, dann geht es uns ja prächtig. N‘ Bier, oder was Stärkeres?- Noch zu früh. Einen Verlängerten, aber schwarz bitte, rief er der Kellnerin zu.- Hätt‘ ich auch gern, brummte Caro in sich hinein. - Hast du heute keinen Dienst, fragte Arno.- Doch, fünfzehn Uhr. Dienstag. Heißt ja schon so.
Die Caro Ass Show. Direkt über’s Ohr in die Haut gespritzt, du kennst mich ja!- Ja, sagte Arno beiläufig, Kraftradio, ich weiß! Er nahm eine Zigarette aus dem Päckchen, welches er in der linken Hemdbrusttasche bei sich trug und zündete sie an. Die Kellnerin, ein Typ mit blonden Haaren, Arschgeweih und tiefer gelegter Hose, stellte das Tablett unsicher auf den kleinen Tisch, den Hintern, den die engen Jeans kaum noch zu verdecken mochten, Caro zugewandt, der nie eine Gelegenheit auszulassen schien hinein zu starren, auf das zarte Pfirsichartige, was sich ihm hier bot.- Fall nicht gleich rein, grinste Arno, als sie weg war.- Hast du das gesehen? Hast du das gesehen, Mensch? raunte ihm Caro aufgeregt zu. Ich spinn‘ doch am hellen Tage! Da muss ich …Er war aufgesprungen und der Serviererin nachgeeilt. Arno beob- achtete, wie er sie ansprach. Aus ihrer Mimik und Gestik war zu erkennen, als wäre sie von dessen Charme ganz offensichtlich beeindruckt.
Die Buchung war geglückt und Caros Konto im Plus. Siegessicher kehrte er an den Tisch zurück. Denise! seufzte Caro, ich werde in einer Denise sein. Ohohoho! Ich werde ihr Höhlensystem erforschen. Jaaa, Mann, ich bin doch im Grunde ein wissenschaftlicher Typ! Übrigens, immer schon gewesen! Nicht waahhr?, fügte er flüsternd hinzu.- Weißt du, was du bist? Ein haltloser Triebtäter. Aber ich kann‘s dir nicht verübeln. Diese Welt ist nun einmal so. Und wir beide werden sie auch nicht ändern, oder?, und sie lachten.- Also, erzähl schon! Wo bist du gewesen? Arno überlegte kurz, nahm einen Schluck Kaffee und sagte dann: Eigentlich war ich gar nicht weg. Ich hab‘ mich einfach in meinem Loch verkrochen.
Einmal abschalten, du verstehst? Ach übrigens, ich bin gefeuert!, fügte er emotionslos an.- Ah! entfuhr es Caro. Und mit welcher Begründung?- Nun, man ist mit meiner Arbeit nicht mehr zufrieden, das ist der Grund. Außerdem haben sie ein paar Neulinge an Land gezogen, die besser wären als ich, tatsächlich! Und überdies müssen sie denen weniger zahlen, und anschaffen lassen sie sich auch leichter als unsereins. Hat was, nicht? Und darüber hinaus braucht man mir dadurch weniger Abfertigung zahlen, wenn sie mich jetzt loswerden, du verstehst?- Merkwürdige Gesellschaft, grinste Caro. Die Arbeitsämter platzen aus allen Nähten, es gibt keine Jobs, die Älteren schmeißen sie vorzeitig raus.