Wotans Schatten oder Herr Urban und Herr Blumentritt beschimpfen sich. Jo Hilmsen

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Название Wotans Schatten oder Herr Urban und Herr Blumentritt beschimpfen sich
Автор произведения Jo Hilmsen
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742782397



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als könnten die ihm entweder auch noch um die Ohren fliegen oder ihm wenigstens einen Hinweis darüber liefern, warum er um ein Haar in Stücke gerissen worden wäre. Die Stange und den Kurzzeitwecker ignorierte er.

      „Ich muss mir diese Scheißdinger ansehen“, murmelte er. Karl Munkelt genehmigte sich einen dritten Whisky und merkte erst jetzt, dass er seinen Lieblingswhisky, einen dreißig Jahre alten Lafroaig bereits zur Hälfte einfach so in sich hinein geschüttet hatte. Egal, schließlich feierte er gerade seine zweite Geburt.

      Teures Frühstück, dachte Karl, kam irgendwie zum Stehen und torkelte in Richtung Wohnzimmer, die Videokassetten unterm Arm.

      Zum Glück besaß er noch einen Videorekorder. Alle seine Bekannten hatten längst auf DVD umgerüstet und ihre Videorekorder entweder verschenkt oder entsorgt. Er war nicht nur der stolze Besitzer einer recht umfangreichen Videosammlung, sondern stapelte auch immer noch eine beachtliche Zahl von Platten. Karl war ein Liebhaber des guten alten Vinyls. In der gesamten Wohnung befand sich nicht eine CD oder DVD.

      Karl schaltete den Fernseher ein, kramte nach der Fernbedienung und schob die erste VHS in den Rekorder.

      Weißes Rauschen.

      Vor Enttäuschung ließ er sich in den schweren Ohrensessel fallen. Dann spulte er die Kassette vor und zurück, schaltete zwischendurch auf Play, um danach das Band noch einmal vor- und zurücklaufen zu lassen.

      Wie mit der Ersten erging es Karl Munkelt mit der zweiten und der dritten Kassette: weißes Rauschen. Alle Bänder waren offensichtlich gelöscht oder nie bespielt gewesen. Dieser Umstand führte dazu, dass er sich noch einen Lafroaigh spendierte.

      Nun sturzbetrunken, sinnierte er eine Weile darüber nach, ob man ein unterscheidbares weißes Rauschen sah, wenn eine Kassette unbespielt war oder gelöscht. Nach ungefähr zwanzig Minuten entschied er, dass dies im Grunde scheißegal war.

      Inzwischen war es halb Zwölf. Unten auf der Schönhauser Allee tobte längst der tägliche Wahnsinn. Vollgestopfte S- und U-Bahnen brachten Leute von A nach B, kleine und große Laster versorgten die Geschäfte und Menschenmengen strömten nach links oder rechts. Berliner, Pendler, Touristen.

      Mehrere potenzielle Kunden waren an der abgeschlossenen Ladentür von Ramsch & Plunder zurückgeprallt und kopfschüttelnd wieder gegangen. So betrug Karls Minusgeschäft an diesem Vormittag mindestens genauso viel, wie der Wert des Whiskys, der in seiner Kehle versickert war.

      Inzwischen am Rande der Verzweiflung schob Karl die vierte Kassette in den Rekorder. Frustriert drückte er auf Play und betrachtete hysterisch das weiße Rauschen.

      Plötzlich erschien ein Oberkörper auf dem Bildschirm. Ein Mann , der offensichtlich direkt in eine auf ihn gerichtete Kamera sprach.

      „Sieht aus wie ein gottverdammter Nachrichtensprecher“, flüsterte Karl. Der Mann im Fernseher verstummte und erstarrte, weil er versehentlich die Pausentaste gedrückt hatte.

      „Gute Gelegenheit, um Pinkeln zu gehen“, sagte Karl zu dem eingefrorenen Mann.

      „Ungefähr sechzig Jahre alt, auffallend blaue Augen, graues Haar, sehr schmales Gesicht“, murmelte Karl Munkelt auf dem Weg zum Klo und stolperte dabei über eine Jacke, die wie plötzlich vom Himmel gefallen zu sein schien. Er schlug der Länge nach hin. Der Aufprall reichte aus, um ihn fast schlagartig nüchtern werden zu lassen.

      Karl rieb sich benommen die faustgroße Beule an seinem Kopf.

      Woraus bestehen eigentlich Beulen? Fragte er sich kurz, dann ging er ins Bad. Nach dem Pinkeln bespritzte Karl ungefähr zwanzig Mal sein Gesicht mit kaltem Wasser. Dann begab er sich zurück ins Wohnzimmer und bedachte die Whiskyflasche und das halb volle Glas davor mit einem missbilligenden Blick.

      Der ungefähr sechzig Jahre alte Mann auf dem Bildschirm seines Fernsehers war nach wie vor erstarrt.

      Karl nahm Flasche und Glas und ging in die Küche. Er schüttete den Inhalt des Glases über dem Spülbecken zurück in die Flasche. Dann verstöpselte er sie und stellte sie ins Regal. Während der Kaffee durchlief, stand er am Fenster und betrachtete das kleine Stück Himmel über den Häusern der Schönhauser Allee, den er von seiner Etage aus sehen konnte.

      Mann, dachte er, du bist ein verdammter Glückspilz, da haben bestimmt gleich mehrere Schutzengel Überstunden gemacht. Er überlegte kurz, die Polizei zu rufen, entschied sich aber dagegen.

      Der Kaffee war durchgelaufen, und Karl trank ein paar gierige Schlucke. Zurück im Wohnzimmer drückte er die Playtaste der Fernbedienung.

      Der Mann begann zu sprechen. Karl musste schlucken.

       Zunächst möchte ich Ihnen gratulieren. Denn sollten Sie mich jetzt sehen, haben Sie überlebt. In dieser Stange befand sich tatsächlich TNT.

      Der Mann lächelte süffisant und verzog das Gesicht zu einer spöttischen Maske. Karl bedauerte einen Moment, den Whisky zurückgestellt zu haben, denn der Schauder, der ihm jetzt den Rücken herunterlief, war eine Potenzierung von American Stafford, weißes Rauschen und Dynamitstange. Der Schluck Kaffee, den er mit zittriger Hand versuchte zu trinken, lief ihm heiß über das Kinn und tropfte auf den Tisch.

      Karl wischte die Pfütze mit seinem Hemdsärmel auf. Inzwischen war er hoch konzentriert.

      Aber, fuhr der Mann im Fernseher fort, glauben Sie nicht, dass Sie jetzt in Sicherheit sind. Ich zeige Ihnen jetzt eine Realität, die Ihnen nicht gefallen wird. Das, was sie jetzt sehen werden, sind Aufzeichnungen von geheimen Treffen… und eine riesige Schweinerei. Ich spreche zu Ihnen nicht als Opfer, sondern als Täter. Mein Name ist Doktor Rudolph Hofmann. Ja, ich gestehe, dass ich an diesen… diesen Abscheulichkeiten beteiligt war. Sie werden mich vermutlich hassen. Das Einzige, was mir bleibt, ist um Vergebung zu bitten. Möglicherweise erscheine ich Ihnen als Feigling, als jemand, der sich seiner Verantwortung nicht zu stellen bereit ist. Das bin ich. Und doch bitte ich Sie, für mich zu beten. Denn ich bin bereits tot.

      Und dann kamen die Bilder.

      Kapitel 10

      Milmersdorf war ein schmuckloses Kaff, ungefähr 60 Kilometer nördlich von Berlin gelegen, zerschnitten von der B 109 und so gewöhnlich wie Tausende andere Dörfer. In der Mitte des Dorfes fielen sofort die grob sanierten Plattenbauwohnklötze auf. Ansonsten bestand der Ort aus einer Tankstelle, einem Holzgroßhandel mit Sägewerk, einer Filiale der Uckermärkischen Sparkasse, einem Supermarkt und den typischen märkischen Höfen und Häuschen.

      Benjamin Krause hatte seit einer Dreiviertelstunde seinen Bestimmungsort erreicht und mittlerweile die Reste seiner fünften Kippe aus dem heruntergekurbelten Fenster geschnippt. Sein Blick wanderte zum hundertsten Male die 109 entlang. In beide Richtungen. Er wusste weder, von wo seine Kontaktperson kam, noch wie sie aussah, noch welches Auto sie fuhr. Das einzige, was er wusste, war: dass es ein Er war. Nun ja.

      Wie ihm angewiesen worden war, hatte Benjamin einen geschlossenen VW-Caddy bei Robben & Wientjes in Berlin gemietet, das Logo sollte deutlich an der Karosserie sichtbar sein, und war hierher gefahren.

      Und nun?

      Nun starrte er abwechselnd auf seine Uhr und die Bundesstraße hoch und runter. Die Zeit schleppte sich zäh dahin. Noch immer blieben ihm 35 Minuten Warten bis zu der Verabredung, die sein Leben auf den Kopf stellen sollte.

      Bleib ruhig, sagte sich Benjamin Krause – und fummelte fahrig nach der nächsten Zigarette.

      Mit den Radiosendern in dieser Region kannte er sich nicht aus, also drückte er solange den Sendersuchlauf, bis Musik erklang, die seinen Ansprüchen genügte. Auf einem der vielen Sender lief gerade Feel von Robbie Williams, und Benjamin ließ die Musik laufen. Dieser Song entsprach seinen Ansprüchen. Sehr sogar. Benjamin drehte das Radio lauter.

      Gerade als er ein wenig entspannt mitsingen wollte, hielt plötzlich ein Wagen neben seinem Robben & Wientjes Caddy.

      Es war ein schwarzer