Wotans Schatten oder Herr Urban und Herr Blumentritt beschimpfen sich. Jo Hilmsen

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Название Wotans Schatten oder Herr Urban und Herr Blumentritt beschimpfen sich
Автор произведения Jo Hilmsen
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742782397



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das weißt du. Und dank meiner wunderbaren Berichte über unser aller Fußballglück ist unsere Auflage in den letzten Wochen gestiegen. Ich denke die Zeiten für außergewöhnliche Spesen sind günstig. Um wie viel geht es denn?“

      Winterstein zuckte mit den Schultern.

      „Keine Ahnung. Erfahre ich erst heute Abend.“

      Nina sah ihm in die Augen.

      „Pass auf dich auf, mein Lieber, schließlich brauche ich noch meinen besten Squash-Partner.“ Sie warf ihr dunkles Haar zurück und sah Daniel noch einmal eindringlich an. „Bis später. Wir sehen uns.“

      Kaum hatte Nina den Raum verlassen, setzte sich Daniel Winterstein an seinen Laptop und öffnete die Datei mit seinem Artikel über das Neuschwabenlandtreffen. Daniel trank eine Flasche Mineralwasser und versenkte ein halbes mit Schinken und Käse belegtes Brötchen in seinem Mund. Sein Abendbrot.

      Der Artikel war bislang in der Samstagsausgabe der Berliner Zeitung erschienen. Winterstein hatte allerdings vor, ihn noch ein wenig auszubauen und ihn eventuell dem SPIEGEL anzubieten.

      Nach wenigen Minuten war er so darin vertieft, dass er fast alles um sich herum vergaß.

      Kapitel 13

       Neuschwabenland in Berlin von Daniel Winterstein

      Wie ein konspiratives Treffen wirkt es nicht gerade, die regelmäßigen Zusammenkünfte der NSLer in einer kleinen Kneipe am Berliner Spittelmarkt – eher wie der Jahresabschluss eines Kaninchenzüchter- oder Gartenvereins. Und dennoch hängt ein bisschen der Schleier des Verbotenen über allem. Podium und Zuhörerreihen befinden sich im Nebenzimmer, kein Plakat weist irgendwo auf die Veranstaltung hin. Man verabredet sich im Netz und kommt. Heimlich und trotzdem öffentlich. Im vorderen Teil der Kneipe, komplett ausgestattet von einem bekannten Bierproduzenten, wird Alkohol ausgeschenkt, Bouletten oder Steak ou four serviert, geplaudert und getrunken. Der Prenzlauer Berg ist keine zwanzig Minuten entfernt und Kreuzberg quasi vor der Tür und doch befindet man sich hier scheinbar auf einer Insel. Die Gaststätte Am Spittelmarkt wird für die nächsten drei Stunden zur Oase der Neuschwabenlandanhänger oder, wie sie sich selbst nennen: Der Reichsdeutschen.

      Dreißig Minuten bevor Dr. Schmidt-Zupf das bizarre Symposium eröffnen wird, kommen die ersten Teilnehmer. Meist einzeln, manchmal zu zweit. Gut zwei Dutzende werden es am Ende sein. Neonazis, Altnazis, NPD-Leute, vielleicht ein paar Neugierige. Die Mehrheit der Teilnehmer sind Männer zwischen Fünfzig und Siebzig. Hin und wieder sieht man auch Jüngere. Anfang oder Mitte Zwanzig: kurz rasiert, kräftig gebaut, mit wütendem Blick und ausgewählter Kleidung. Der Wirt hinter seinem Tresen zwinkert ihnen zu. Man kennt sich, man schätzt sich.

      In den nächsten drei Stunden werden diese Leute nicht nur die bundesdeutsche Gerichtsbarkeit verhöhnen, sondern der Bundesrepublik ihr Existenzrecht absprechen, die jüdische Weltverschwörung herunterbeten, die Vereinigten Staaten des Staatsterrorismus bezichtigen und allerlei skurrile Geschichten über ihren Mythos Neuschwabenland zum Besten geben.

      Neuschwabenland? Nein, wenn Sie glauben Neuschwabenland befindet sich irgendwo im beschaulichen Ländle, vielleicht umgeben von malerischen Weinbergen, bewirtschaftet von tüchtigen Menschen, dann irren Sie sich. Neuschwabenland liegt im ewigen Eis der Antarktis und ist an diesem regnerischen kalten Freitag Anfang Dezember doch mitten in Berlin. Zumindest in gut zwei Dutzend Köpfen.

      Eine Woche vor Weihnachten 1938 verließ das Forschungsschiff Schwabenland unter dem Kommando von Alfred Ritscher Hamburg und machte sich auf den Weg in Richtung Antarktis. Die Nazis hatten schnell die strategische Bedeutung dieses Teils der Welt erkannt und sich dazu entschlossen, ein großes Gebiet in deutschen Besitz zu nehmen. Das Schiff war für eine Million Reichsmark polartauglich gemacht worden und an Bord befanden sich u.a. die beiden 10t schweren Flugboote Boreas und Passat. Es war die bislang größte deutsche Expedition zum südlichsten Kontinent. Ihrem Auftrag gemäß dokumentierten die Piloten der Flugboote mit fast 11.000 Fotos das Gebiet und warfen sogenannte Fallflaggen mit Hakenkreuzen ab, um den Anspruch des Dritten Reiches geltend zu machen – eine zu dieser Zeit durchaus international gebräuchliche Methode. Das gesamte Gebiet erhielt den Namen Neuschwabenland und umfasste ein Territorium, das etwa doppelt so groß war, wie die heutige Bundesrepublik. (Die Bundesrepublik Deutschland als Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches hat übrigens niemals Anspruch auf dieses Gebiet erhoben. Neuschwabenland gehört heute zu Norwegen…)

      Soweit so gut.

      Und nun, geneigter Leser, folgen Sie mir in den Nebel von Tatsächlichem und Legendenhaftem.

      In den Jahren 1940 und 1943 unternahm das Deutsche Reich angeblich zwei weitere Expeditionen – diesmal allerdings streng geheime militärische Operationen. 1942/43 begann man dort, so behaupten jedenfalls unsere reichsdeutschen Weltverschwörer, mit dem Ausbau der Basis 211 – einer deutschen Festung im Eis.

      Die Basis 211 sollte der Schlüssel für weitere Operationen werden. Alle wichtigen Materialien, Hochtechnologie, Geheimdokumente und natürlich alle wichtigen Personen sollten dorthin evakuiert werden. Eine Flotte von 100 U-Booten machte sich angeblich kurz vor Kriegsende auf den Weg dorthin und alle U-Boote gelten bis heute als verschollen.

      Der Wahnsinn des Tausendjährigen Reiches mit all seinen Millionen Toten fand ein Ende, und niemand hätte sich wohl jemals wieder Gedanken über ein reichsdeutsches Gebiet inmitten des ewigen Eises gemacht, wäre da nicht der 27. Januar 1947.

      Ausgerechnet ein amerikanischer Admiral goss frisches Öl in den Mythos Neuschwabenland.

      Admiral Richard E. Byrd kommandierte während der Operation Highjump eine Flotte von 12 Kriegsschiffen, 26 Flugzeugen und einer Besatzung aus ca. 4000 Soldaten und einigen Hundert Wissenschaftlern. Die Flotte startete am 2. Dezember 1946 im US-Kriegshafen Norfolk und erreichte am 27. Januar ihr Zielgebiet. Offiziell lautete der Auftrag der Operation: Kriegsgerät unter antarktischen Bedingungen zu testen und die Erforschung des südlichen Kontinents mit seinen Gewässern voranzutreiben, um die Möglichkeiten der Errichtung von Militärbasen zu prüfen. Anfang März 1947 wurde die Operation Highjump vorzeitig und mit erheblichem Verlust an Material abgebrochen. Das zunehmend schlechte Wetter hatte ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht. Auf der Fahrt nach Wellington/Neuseeland gab Admiral Byrd einem mitreisenden Journalisten des International News Service ein Exklusivinterview, welches am 5. März im El Mercurio, der damals größten erzkonservativen südamerikanischen Tagesszeitung veröffentlich wurde.

      „Ich möchte niemanden erschrecken, aber die bittere Realität ist, dass im Falle eines neuen Krieges die Vereinigten Staaten durch Flugzeuge angegriffen werden, die über einen oder beide Pole fliegen werden.“… „Die fantastische Eile, mit der die Welt zusammenschrumpft, ist eine der objektiven Lektionen, die wir auf der antarktischen Erforschung gelernt haben, die wir gerade beenden. Ich kann nur eine Mahnung an meine Landsleute aussprechen, dass die Zeit vorbei ist, in der wir uns in eine komplette Isolation zurückziehen und in dem Vertrauen entspannen konnten, die Entfernungen, die Meere und Pole böten uns eine Garantie der Sicherheit...“

      (Diese Äußerungen von Richard E. Byrd werden die Grundlage dafür bilden, dass neonazistisch-okkultistische Kreise wie die NSLer sich in ihrem Glauben bestärkt fühlen, dass zwischen den beiden Polen ein unterirdisches Gebiet existiert, in dem das wahrhafte Herrenvolk – ein hoch technisiertes und hochintelligentes Volk – lebt, das auf den perfekten Moment wartet, die Welt zu erobern: die Arianni.)

      Soweit einige Fakten. Doch kehren wir zu unseren rechten Weltverschwörern in der Kneipe am Spittelmarkt zurück.

      Auf dem Podium sitzen neben Dr. Schmidt-Zupf Kai Schneider, Dr. Rudolph Hofmann, Jens Weißkopf und Hermann Heise. Links und rechts flankieren zwei kräftige junge Männer mit verschränkten Armen das Podium. Am Tisch hängt ein Bettlaken, auf dem eine Art Rad gemalt ist. Das Sonnenrad, dessen zwölf Speichen aus Sigrunen (dem Uhrzeigersinn entgegen gerichtete hakenähnliche Gebilde) bestehen. Es erinnert an ein drehendes Sonnenrad und ist ein Erkennungszeichen vieler Neonazis.