Wotans Schatten oder Herr Urban und Herr Blumentritt beschimpfen sich. Jo Hilmsen

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Название Wotans Schatten oder Herr Urban und Herr Blumentritt beschimpfen sich
Автор произведения Jo Hilmsen
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742782397



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in diese Richtung zu spazieren. Besonders die Frau Corinna mochte dieses Ritual gern. Er und Herr Blumentritt brauchten daran nicht teilzunehmen. Sie beide mussten auch nicht jeden Tag in der Woche kleine Plastiklöffel sortieren und in Tüten stopfen wie all die anderen im Heim, die nicht im Stall arbeiteten. Herr Urban und Herr Blumentritt waren von allem befreit und seine einzige Aufgabe bestand darin, Karl-Heinz´ seltene Sprache zu dolmetschen.

      Und wie er so da stand und ein bisschen über all das sinnierte, überkam ihm plötzlich eine große Lust. Die Lust auf eine Entdeckungsreise. Winfried Urban kicherte leise. Hinter dem Stall sah er, wie sich die Wipfel der Bäume hin und her wiegten. Er beobachtete eine schwarze Krähe, die hinkte, und bekam sofort Mitleid. Sein Blick wanderte zu seinen Füßen, die noch in seinen karierten Pantoffeln steckten. Er überlegte kurz, kehrt zu machen und noch einmal nach oben zu gehen, um die Pantoffeln gegen seine schönen Lederschuhe einzutauschen. Diese Schuhe waren wirklich etwas Besonderes, denn sie hatten keine Schnürsenkel, sondern Klettverschlüsse. Und darin lief es sich sehr bequem. Dagegen sprach, dass er möglicherweise von seiner Entdeckungsreise abgehalten werden könnte. Von Karl-Heinz zum Beispiel, weil die Frau Corinna ihn mal wieder nicht verstand oder weil ihm selbst ganz einfach irgendetwas anderes in den Sinn kam.

      Erst nachdem das Heim mit seinem weißen Anstrich schon klitzeklein geworden und hinter der nächsten Biegung schließlich ganz verschwunden war, dachte er an Herrn Blumentritt und daran, dass der ihm vielleicht folgen könnte. Er blieb stehen und sah sich um. Weder Herr Blumentritt noch sonst wer waren ihm hinterhergelaufen. Also ging er weiter.

      An der nächsten Weggabelung bog Herr Urban nach rechts, an der übernächsten nach links. Allein das Laufen war Abenteuer und Entdeckung zugleich. Der Weg führte nun schnurstracks in den Wald, und Herr Urban folgte ihm.

      Als die ersten Bäume seinen Weg säumten, stoppte er abermals und hielt eine Weile seine Nase in die Luft. Es duftete nach Wald. Ein Geruch, der ihn an die Zeit erinnerte, als er noch ein ganz kleiner Herr Urban gewesen war.

      „Ganz genau“, sagte er laut vor sich hin. „Der Wald.“

      Winnilein, pass auf, wo du hintrittst. Tollpatsch! Mit diesen Worten hatte ihn seine Mutter immer getadelt, wenn er auf ihren gemeinsamen Spaziergängen übermütig losgerannt war. Meistens passierte dann tatsächlich eine Katastrophe. Mal stolperte er über einen Ast und schlug sich die Knie wund, mal peitschte Gestrüpp sein Gesicht und hinterließ blutige Striemen, oder er übersah ein Loch im Boden und musste anschließend mit einem verstauchten Knöchel mühsam von seiner Mutter nach Hause geschleppt werden. Ganz unglücklich war er danach immer. Unglücklich darüber, dass bei ihm die Beine nicht so gut funktionierten wie bei den anderen Kindern, die in der Nachbarschaft wohnten, Hans oder Martin zum Beispiel. Und der kleine Herr Urban weinte über dieses Unglück und irgendwann machten ihm diese Spaziergänge überhaupt keinen Spaß mehr.

      Jetzt beobachtete Winfried Urban einen Schmetterling, dessen dunkle Flügel mit kleinen farbigen Kreisen geschmückt waren. Der Schmetterling steckte seinen Rüssel in eine gelbe Blüte und schien daraus zu trinken.

      Herr Urban trat einen Schritt zurück, streckte seine rechte Hand aus und berührte zaghaft einen Flügel des schönen, zarten Geschöpfs.

      „Pass auf, du kleiner Schmetterling, wo du hinfliegst und sei nicht so tollpatschig“, sagte er und kicherte leise. Der Admiral bewegte seine Flügel zwei-, dreimal und flog auf. Kurz darauf landete er auf der Schulter von Herrn Urban und blieb sitzen. Herr Urban war verdattert. Nun war er nicht nur Übersetzer, sondern auch Dompteur. Schmetterlingsdompteur.

      Ganz fröhlich geworden, ging er weiter in den Wald. Mit Pantoffeln an den Füßen und einem Schmetterling auf der Schulter. Während Herr Urban immer tiefer in den Wald hineinlief und erst am nächsten Tag von einer Polizeistreife in der Nähe des kleinen Örtchens Ostritz aufgegriffen werden sollte, zum Glück wohlbehalten, klopften dieselben Polizisten an die Tür des Heimleiters.

      Die beiden Beamten hatten ein paar Fragen zu einem Mitarbeiter der Behinderteneinrichtung. Harmlos, wie sie beteuerten. Nichts von Belang. Außerdem kannte man sich ja. Reine Routine. Herr Jungmann bot Kaffee an, beantwortete alle Fragen und schließlich plauderten sie über gemeinsame Bekannte.

      Und dennoch sollte dieser Besuch Benjamin Krauses unfreiwillige Reise in die mongolische Steppe um einiges beschleunigen.

      Kapitel 12

      Daniel Winterstein saß am Schreibtisch seines kleinen Zimmers im Verlagshaus der Berliner Zeitung und sah seine E-Mails durch. Zwei Drittel davon waren ärgerlicher Spam, die Penisverlängerungen empfahlen, megageile Teenies versprachen, Viagra fast geschenkt, Flaggen aller Nationen anpriesen oder Millionen von irgendeinem angeblichen Geschäftspartner aus Afrika. Diese Spamflut beanspruchte Zeit. Sinnlose Zeit. Jeden Tag verbrachte Winterstein wenigstens eine halbe Stunde einzig damit, doppelten oder dreifachen Unsinn aus seinem elektronischen Postfach zu entfernen.

      Der neue externe Provider der Berliner Zeitung hatte versprochen, dieses Problem alsbald ein für allemal aus der Welt zu schaffen. Aber das war nun auch schon ein paar Tage her.

      Nachdem er ungefähr siebzig E-Mails gelöscht hatte, floh er in den Flur, um sich einen Cappuccino aus dem Kaffeeautomaten zu ziehen. Als er zurück ins Zimmer kam, klingelte das Telefon. Daniel stellte den Plastikbecher aufs Fensterbrett, leckte sich den Schaum von den Lippen und nahm ab.

      „Winterstein.“

      „Mein Name ist Karl Munkelt. Sie haben neulich einen Artikel über diese regelmäßigen Treffen am Spittelmarkt geschrieben. Neuschwabenland.“

      Daniel Wintersteins Griff um den Telefonhörer wurde fester. Seit sein Artikel über die Neuschwabenlandtreffen veröffentlicht worden war, fand er neben dem Spam auch ab und an Drohmails. Bisweilen wurden ihm auch Worte telefonisch ins Ohr geflüstert wie: Hör zu, Jude, wir kriegen dich! Oder: Du hast keene Ahnung, mit wem du dich hier anlechst. Nich mehr lange und Leute deines Schlachs werden janz einfach platt jemacht. Vastehste, platt jemacht.

      Die Berliner rechte Szene war aufmerksam geworden und versuchte nun, ihn einzuschüchtern. Aber er ließ sich natürlich nicht einschüchtern. Winterstein hatte Anzeige wegen Bedrohung, Volksverhetzung und Antisemitismus gegen Unbekannt erstattet. Sein Telefon war ausgetauscht worden und besaß jetzt eine Mitschnitttaste. Sobald ihm ein Anruf merkwürdig vorkam, schnitt er ihn mit. Wenngleich sich bislang keiner der Drohanrufer bei dem Thema Neuschwabenland mit seinem Namen gemeldet hatte, drückte er automatisch auf diese Taste. Dann sprach er weiter.

      „Wie lautete noch einmal Ihr Name?“

      „Munkelt. Karl Munkelt.“

      „Okay, Herr Munkelt. Worum geht es?“

      Daniel Winterstein hörte einen lauten Seufzer im Ohr.

      „Sie haben in Ihrem Artikel mehrere Namen erwähnt.“

      „Stimmt. Wenn ich mich recht erinnere, war Ihrer nicht dabei.“

      „Nein, nein. Darum geht es mir nicht. Nun ja. Wissen Sie, ich betreibe einen Laden im Prenzlauer Berg, Ramsch & Plunder, und ich suche nach verkäuflichen Dingen, beispielsweise bei Sperrmüllaktionen…“

      „Sie sind der Besitzer von Ramsch & Plunder?“

      „Ja. Wieso?“

      „Weil ich vor ein paar Wochen eine Tasche bei Ihnen gekauft habe. Diese Tasche ist mittlerweile zu meiner Lieblingstasche geworden.“

      „Ach, das freut mich.“

      Winterstein sah zu seiner Hebammentasche und lächelte.

      „Hallo?“

      „Ja, ich bin noch dran.“

      „Ich denke, ich hätte da etwas für Sie. Ich meine Material, wenn Sie verstehen…“

      Winterstein ging zum Fenster, griff nach dem Plastikbecher auf dem Fensterbrett und nahm einen Schluck Cappuccino. Im Grunde waren der Kaffeeautomat und dessen Produkte eine