Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua. Roger Schöntag

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1937 konstatiert Furman Sas leicht resigniert, angesichts der von ihm gezählten 19 existierenden Begriffe in der damaligen Forschung, um „non classical language spoken or written“ zu charakterisieren, daß zwar ‚Vulgärlatein‘ nicht einheitlich verwendet werde, weitere terminologische Neuschöpfungen jedoch nur zur weiterer Verwirrung beitragen (Furman Sas 1937:491).282

      An dieser Lage hat sich bis heute grundsätzlich nichts geändert, außer daß – horribile dictu – noch einige Definitionen mehr hinzugekommen sind.

      Möglichst vielen Einzelbestimmungen Spielraum einräumend, versucht Stefenelli (2003) eine definitorische Annährung an die Kernelemente, auf die man sich heute vielleicht – zumindest in der Romanistik – verständigen kann:

      Angesichts der diasystematischen und diachronischen Vielschichtigkeit bzw. Variation des Sprechlateins versteht sich ‚Vulgärlatein‘ hierbei heute in der Regel als komplexer Sammelbegriff für verschiedene v.a. diastratische (soziokulturell), diatopisch (geographisch) und diachronisch differenzierte Varietäten der mündlich konzipierten Spontansprache (Stefenelli 2003:530)

      Diese Umschreibung klammert freilich fast alle wichtigen Streitfragen aus und ist daher eher als ein kleinster gemeinsamer Nenner inhaltlicher Bestimmung zu begreifen.

      Lüdtke (2019) definiert Vulgärlatein vor allem als Abweichung vom klassischen Latein, das er wie folgt definiert:

      Das klassische Latein ist innerhalb der historischen Sprache Lateinisch eine geschriebene und gesprochene urbane Sprache. Wenn nun wenig Schreibgeübte und wenig Gebildete aus anderen Schichten als der Oberschicht in Rom und in romfernen Regionen des Imperiums schreiben, gelten die Abweichungen von der urbanen Tradition als Vulgärlatein. (Lüdtke 2019:442)283

      Dabei weist er zusätzlich daraufhin, daß auch die nicht urbanen Varietäten von weniger gebildeten Personen wie Soldaten geschrieben wurden, so daß eine schlichte Dichotomie, in der das klassische Latein mit Schriftlichkeit und Vulgärlatein mit Mündlichkeit gleichgesetzt wird, nicht greift (cf. Lüdtke 2019:442–443).

      Selbst wenn man nun inhaltliche Differenzen und Nuancen großzügig beiseite läßt und sich auf wenige konstituierende Aspekte konzentriert, bleibt die Frage der adäquaten Bezeichnung für diese Art des Lateins ebenfalls im Raume stehen. Durchforstet man die einschlägige Forschungsliteratur, so begegnet einem als roter Faden ein nicht enden wollendes Lamento über den Begriff ‚Vulgärlatein‘, der gleichsam gottgegeben wie unausrottbar scheint und menetekelhaft von weiterem terminologischen Unglück kündet oder die Wissenschaft zu beeinträchtigen scheint, wie die wenigen Exzerpte deutlich machen:

      The present use of the term „Vulgar Latin“ is so vague that we find it used now to refer to the language of Plautus, now to the language of the royal charts of the 8th century, now to the language of Gregory of Tours, now to a theoretically constructed language which exists only in the minds of certain scholars. (Furman Sas 1937:491)

      Il termine latino volgare, è ormai così radicato nei nostri studi, da non poter essere estirpato, quindi lo subiamo, prendendo nota della sua inadeguatezza ed imprecisione. (Battisti 1949:23)

      Não foi fácil problema estabelecer, rigorosamente, o conceito de latim vulgar. Durante muito tempo lavrou imensa confusão, em prejuízo dos métodos e do progreso da Romanística. (Silva Neto 1957:11)

      Sanctionné par un usage centenaire pour désigner les divers faits latins qui ne s’accordent pas avec les norms classiques, le terme de latin vulgaire a les avantages et les inconvénients d’un terme consacré. (Väänänen 2002:3)

      Couramment employée, en philologie latine et en linguistique romane, l’expression „latin vulgaire“ n’en constitue pas moins un des termes techniques les plus discutés de nos disciplines. (Herman 1967:9)

      Den vorgeschlagenen Alternativen bzw. korrespondierenden Ausdrücken wie ‚lateinische Umgangssprache‘,284 ‚Sprechlatein‘ (frz. latin parlée, it. latino parlato), Spontanlatein,285 latin commun (it. latino comune)286 oder latino borghese287 haftet allerdings nicht selten eine ähnliche Problematik an – geschweige denn den heutzutage nicht mehr gebräuchlichen wie ‚Volkslatein‘ oder ‚Plattlatein‘,288 so daß man nolens volens wieder zum ungeliebten ‚Vulgärlatein‘ zurückzufinden scheint und sich dabei tendenziell terminologisch möglichst wenig festlegt, um nicht immer über die oben aufgeführten Grundsatzfragestellungen zu stolpern.289

      Dies führt schließlich dazu, daß auch in der aktuellen Forschung einerseits die Klage nach dem vertrauten, aber scheinbar unpassenden Begriff nicht aufhört, man sich aber auch nicht durchringen kann ihn abzuschaffen:

      Obwohl es sich um einen nicht sehr glücklich gewählten Ausdruck handelt, ist der Terminus Vulgärlatein in der Romanistik stark verankert. Es scheint den Romanisten bis heute schwer zu fallen, sich von ihm zu trennen und sich für die Bezeichnung gesprochenes Latein zu entscheiden. (Pirazzini 2013:13–14)

      Dies fällt natürlich u.a. deshalb so schwer, weil ‚gesprochenes Latein‘ eben nicht exakt das Gleiche beschreibt, was der ein oder andere Linguist mit ‚Vulgärlatein‘ ausdrücken möchte.

      Wenig glücklich erscheint auch eine Gliederung des Lateins, in der versucht wird, partieller Gradation zwischen literarischem Latein und Vulgärlatein zu etablieren, wie es in einer aktuellen Studie Nedeljković (2015) auf Basis von Banniard (1992) und Chahoud (2010) referiert:

      En résumé, ces considérations aboutissent à deux dichotomies indépendantes, l’une concernant les registres plus ou moins formels, l’autre le sociolecte haut ou bas. Leur croisement donne naissance à trois – et non pas quatre – variété linguistiques : 1° le „haut formel “, qui est le latin littéraire, 2° le „haut informel “, qui est le latin familier, et 3° le latin vulgaire, qui a l’air informel, puisqu’il ressemble bien plus au familier qu’au littéraire, mais qui, à proprement parler, n’est point susceptible de gradation sur l’axe de formalité. (Nedeljković 2015:4)

      Die Verschränkung von diaphasischer und diastratischer Ebene sowie die Nichtbeachtung der Diskrepanz zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit läßt diese Unterteilung wenig systematisch erscheinen. Eine ergänzende, chronologische Unterteilung seitens Chahouds, die das Vulgärlatein als rein postaugusteisches Phänomen charakterisiert und dabei negativ bewertet, läßt die komplette Systematik als „absurd“ erscheinen, wie Nedeljković (2015:5) zurecht anmerkt, ohne jedoch selbst eine adäquate Alternative anzubieten.

      Eine Möglichkeit, die zumindest implizit in einigen anderen, neueren Publikationen zum Latein und seiner Geschichte anklingt,290 aber nie wirklich dezidiert verfolgt wurde, wäre eine Aufsplittung der Begriffe für eine rein diachrone romanistische Forschung einerseits und eine synchrone-diachrone Forschung zum Latein andererseits, ohne dabei die alte Sezession in latinistische und romanistische Tradition wiederaufleben zu lassen.

      In diesem Sinne sei hier auch im Interesse der vorliegenden Arbeit eine Definition des Vulgärlateins versucht, die ausschließlich als terminologisches Konstrukt zur Erfassung der Ursprache bzw. Protosprache der einzelnen romanischen Idiome heranzuziehen wäre – mit inhaltlich weitgehendem Bezug auf Voßler (1922) und unter Berücksichtigung weitere wichtiger Aspekte, wie sie u.a. bei Herman (1967) oder Coseriu (2008) zur Geltung kommen:291

      Vulgärlatein ist das gesprochene Latein der Antike, welches für uns nicht in einem homogenen Korpus von Texten erschließbar ist, sondern nur in Reflexen einzelner, vorwiegend substandardlich markierter Merkmale und Phänomene des geschriebenen Lateins aller Epochen, von den ersten Schriftzeugnissen des Lateinischen bis zum Beginn romanischer Schriftlichkeit, wobei die vulgärlateinischen Elemente tendenziell in einer späteren Phase zunehmen, natürlich in Abhängigkeit von der Textsorte. Aufgrund der Konvergenzen zwischen der gesprochenen und der geschriebenen Sprache, die beide innerhalb des gleichen Diasystems verortet sind, ist das gut dokumentierte und als Referenzgröße am besten greifbare, sogenannte Klassische Latein in Bezug auf zahlreiche Merkmale aller sprachlichen Ebenen übereinstimmend mit dem Vulgärlateinischen, so daß letzteres vor allem durch seine Abweichungen von der normierten Sprache faßbar wird, alle weiteren Erscheinungen