Literarische Mehrsprachigkeit im österreichischen und slowenischen Kontext. Группа авторов

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Название Literarische Mehrsprachigkeit im österreichischen und slowenischen Kontext
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Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783772000973



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sozialer Praxis gleichgesetzt werden kann, denn in „Wirklichkeit ‚enthält‘ der soziale Raum soziale Handlungen, Handlungen sowohl individueller als auch kollektiver Subjekte, die geboren werden und die sterben, die leiden und die tätig werden“ (ebd.: 33, Übers. A.L.); sozialer Raum ist demnach ein vitaler Prozess des Kommens und Gehens, fluider Veränderung, während sich die Raumpraxis erst durch seine Dechiffrierung offenbart (ebd.: 38). Lefebvres Raumtheorie legt auch nahe, den Interaktionsraum nicht nur als wissenschaftliches Konzept zu verstehen, sondern aus der sozialen Praxis heraus. Denn wenn es zutrifft, dass jede Gesellschaft ihren eigenen Raum produziert und jede soziale Existenz, die für sich den Anspruch erhebt, real zu sein, sich ihren eigenen Raum schaffen muss – wenn sie nicht als seltsame Entität erscheinen, ihre Identität verlieren, auf die Stufe von Folklore fallen und früher oder später verschwinden will (ebd.: 53) – leistet das Modell auch einen Beitrag zur Sichtbarmachung der handelnden Akteur_innen, die dominante Raumordnungen und Codes unterlaufen und symbolische Objekte neu verhandeln.

      Da sich der Interaktionsraum explizit auf literarische Zwei- und Mehrsprachigkeit bezieht, darf nicht außer Acht gelassen werden, dass in Lefebvres Raumtheorie, abseits von der Linguistik und Philosophie, Sprache keine Rolle spielt. Im Gegenteil, LefebvreLefebvre, Henri spricht sich gegen die These des Primats der Sprache aus (ebd.: 16–17, 28) und spöttelt über die gesprochene oder geschriebene Sprache, die er im Hinblick auf die Vermittlung sozialer Zeit und räumlicher Praxis als schwerfällig erachtet. Er weist auf ihren teils bäuerlichen teils theologisch-philosophischen Ursprung hin und sieht den Bedarf, die Sprachen zu verschrotten und zu rekonstruieren; eine Aufgabe, die er der sozialen Praxis zuweist (ebd.: 132). Seine Empfehlung mag als Provokation gedacht gewesen sein, bei genauerer Betrachtung der im Rahmen des Interaktionsraums erfassten literarischen Produktion findet sie aber in den sprachexperimentellen Texten durchaus Widerhall. Im Unterschied zu LefebvresLefebvre, Henri Raumtheorie müssen innerhalb des Modells des literarischen Interaktionsraums die zwei- und mehrsprachige Situation, die Formen literarischer Zwei- und Mehrsprachigkeit und Phänomene wie Sprachmischung und Sprachwechsel geradezu als zentrale Aspekte der sozialen Praxis und des sozialen Raums erachtet werden, was auch die Komplexität der dialektischen Beziehung zwischen Raumpraxis, Raumrepräsentation und Repräsentationsraum erhöht. Mehrsprachigkeit, die Inter- und Transkulturalität voraussetzt, ist ein Instrument der Dechiffrierung sozialer Praxis, sie ist aber auch den passiv erfahrenen Repräsentationsräumen inhärent, die sich wiederum auf den sozialen Raum auswirken und zu Veränderungen der dominanten Verhältnisse in den Raumrepräsentationen führen können.

      Aus raumtheoretischer Perspektive ist schließlich festzuhalten, dass der Interaktionsraum, der ausgehend vom zweisprachigen literarischen Feld der Kärntner Slowen_innen über das österreichische und das slowenische literarische Feld hinausreicht, von der Idee ‚(trans-)kultureller Zwischenräume‘ abzugrenzen ist, sofern damit hybride Übergangsräume gemeint sind, die sich zwischen verschiedenen (nationalen) Kulturen und Literaturen entfalten.3 Hingegen lässt er sich sehr wohl als Zwischenraum im Sinne der von CerteauCerteau, Michel de beschriebenen ‚zwischenräumlichen Bewegungspraxis‘ begreifen, denn ihm zufolge ist der Raum „ein Geflecht von beweglichen Elementen. Er ist gewissermaßen von der Gesamtheit der Bewegungen erfüllt, die sich in ihm entfalten. Er ist also ein Resultat von Aktivitäten, die ihm eine Richtung geben, ihn verzeitlichen und ihn dahin bringen, als eine mehrdeutige Einheit von Konfliktprogrammen und vertraglichen Übereinkünften zu funktionieren.“ Im Gegensatz zum Ort weist der Raum „weder eine Eindeutigkeit noch eine Stabilität von etwas ‚Eigenem‘“ auf; er ist „ein Ort, in dem man etwas macht“ (Certeau 2015: 345). Aus dieser Perspektive kann der Interaktionsraum des Weiteren als „dritter Raum“ gedacht werden, als Zwischenraum, in dem kulturelle Differenzen artikuliert und verhandelt werden, als Raum, „von dem aus Strategien – individueller oder gemeinschaftlicher – Selbstheit ausgearbeitet werden können, die beim aktiven Prozeß, die Idee der Gesellschaft selbst zu definieren, […] zu innovativen Orten der Zusammenarbeit und des Widerstreits führen“, als „Raum der Intervention im Hier und Jetzt“ oder auch als Raum, der die „diskursiven Bedingungen der Äußerung“ konstituiert, „die dafür sorgen, daß die Bedeutung und die Symbole von Kultur nicht von allem Anfang an einheitlich und festgelegt sind und daß selbst ein und dieselben Zeichen neu belegt, übersetzt, rehistorisiert und gelesen werden können“ (Bhabha 2011: 2, 11, 57).

      4 Der Interaktionsraum und seine Anwendbarkeit

      Es kann festgehalten werden, dass das hier diskutierte Modell eines überregionalen literarischen Interaktionsraums trotz des Bezugs auf das mit Kärnten verbundene zweisprachige literarische Feld über kein (echtes) topographisches Korrelat verfügt und auf handlungsorientierten und kommunikativen Raumpraktiken basiert, innerhalb derer es zum Transfer von (literarischen) Repertoires und Modellen kommt. Der Interaktionsraum kann als Produkt räumlich-sozialer Praxis konkreter Akteur_innen und Institutionen aufgefasst werden, als ein spezifischer, gesellschaftlich hervorgebrachter Raumcode, der dekodiert werden kann. Konzeptuell ist er in den postnationalen und postmonoligualen Zugängen verankert und bildet als solcher eine Ergänzung oder Alternative zu jenen raumbasierten literaturwissenschaftlichen Ansätzen, die von essentialistischen Kategorien wie Sprache, Nation und Identität, oder von topographischen Kriterien ausgehen. Ein wesentliches Merkmal des Modells ist, dass es die Erfassung empirischer Daten erforderlich macht, die im Falle eines relativ überschaubaren Interaktionsraums, wie er ausgehend von der literarischen Praxis der Kärntner Slowen_innen konzipiert wurde, systematisch evidentiert werden können.

      Wie gerade der von ideologischen und sprachpolitischen Konflikten und Ängsten geprägte zweisprachige Kärntner Raum zeigt, hat das Modell den Vorteil, dass auf personenbezogene ethnische, sprachliche oder die Identität betreffende Zuweisungen weitgehend verzichtet werden kann. Fragen der Identität, der Zugehörigkeit, der Zwei- und Mehrsprachigkeit, der Sprachmischung, des Sprachwechsels, der Peripherie, der Abhängigkeit, der Ideologie, des Wissens, der Erinnerung bis hin zur Diskussion von Zwischenräumen, Übergangsräumen, Grenzräumen, postkolonialen Verhältnissen und Diversität können als Teil der empirisch erfassbaren Handlungen und Diskurse aufgefasst und zusammen mit Fragen des kulturellen und literarischen Transfers schlicht als raumkonstitutiv bzw. als Teil sozialer und literarischer Praxis verhandelt werden.

      Der Interaktionsraum erlaubt es, problembehaftete Begriffe wie Nationalliteratur oder Minderheitenliteratur zu hinterfragen und zu umgehen. Er macht soziale und literarische Praxen sichtbar, die gängige Ordnungen und Konventionen unterlaufen, und ist nach allen Richtungen hin prinzipiell offen und erweiterbar. Er kann ebenso auf Interaktionen im Bereich des Theaters, des Films oder der Musik angewendet werden wie auch auf andere literarische, kulturelle oder soziale Kontexte, bei denen eine ähnliche Spezifizierung möglich ist, wie im Fall der Literatur der Kärntner Slowen_innen.

      Literaturverzeichnis

      Adelson, Leslie A. (2006). Against Between – Ein Manifest gegen das Dazwischen. In: Arnold, Heinz Ludwig (Hrsg.). Literatur und Migration. Text + Kritik. Sonderband. München: Edition Text + Kritik, 36–46.

      Amann, Klaus (2007). Regionale Literaturgeschichtsschreibung am Beispiel Kärnten. In: Brandtner, Andreas (Hrsg.). Zur regionalen Literaturgeschichtsschreibung: Fallstudien, Entwürfe, Projekte. Linz: Land Oberösterreich, Stifter-Haus, Zentrum für Literatur und Sprache, 46–63.

      Bachmann-Medick, Doris (2014). Cultural turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften (= Rowohlt Enzyklopädie). 5. Aufl., mit neuem Nachwort. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt-Taschenbuch-Verlag.

      Bhabha, Homi K. (2011). Die Verortung der Kultur. Mit einem Vorwort von Elisabeth Bronfen. Deutsche Übersetzung von Michael Schiffmann und Jürgen Freudl (= Stauffenburg Discussion 5). Tübingen: Stauffenburg Verlag.

      Bourdieu, Pierre (1999). Die Regeln der Kunst: Genese und Struktur des literarischen Feldes. Übersetzt von Bernd Schwibs und Achim Russer. Frankfurt am Main: Surkamp.

      Certau, Michel de (2015). Praktiken im Raum. In: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan (Hrsg.). Raumtheorie: Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 343–352.

      Csáky, Moritz (2011). Kultur als Kommunikationsraum: Das Beispiel Zentraleuropas.