Pionier und Gentleman der Alpen. Natascha Knecht

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Название Pionier und Gentleman der Alpen
Автор произведения Natascha Knecht
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783038550044



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Schweitzer Landes» auch abgebildet.

      Immerhin gehört Scheuchzer zu den ersten Gelehrten, die sich aus ihren Studierstuben hinauswagen und in die Alpen reisen. Auf hohe Gipfel schafft er es jedoch nie. «Theils wegen körperlicher Erschöpfung, theils wegen der noch zurückzulegenden Entfernung.» Und er stellt fest: «Nicht jeder vermag es, sich an der Besteigung von Hügeln zu erfreuen, die bis zu den Wolken reichen. Sehr wenige schätzen ein mühsames Unterfangen dieser Art, das keineswegs lukrativ ist.»

      Scheuchzers enorm umfangreiche Forschungen zeigen, wie wenig noch im 17. Jahrhundert von den Alpen und den Talbewohnern bekannt gewesen ist. Nebst den Drachen beinhalten seine Bände Kapitel wie «von des Sennen Person», «von Bergen, Neblen und Wolken», «von den wässrigen und winddichten Luftge-schichten des Schweitzerlandes» oder «von den Überbleibseln der Sündflut». Er glaubt, die Berge seien hohl, und er zeichnet erste Karten «von den Gletschern, Schnee- und Eisbergen» im Berner Oberland und im Rhonetal, die allerdings etwa so verlässlich sind wie seine Drachentheorie. Nach ihm wurden später das Scheuchzerhorn und das Scheuchzerjoch benannt, die zum Gebirgszug zwischen Finsteraar- und Oberaargletscher gehören.

      STÜRMER, DRÄNGER, ROMANTIKER

      Ein ganz neues Gesicht bekommt das Gebirge im 18. Jahrhundert im Zeitalter der Aufklärung. Diese begegnet der Natur insgesamt mit den nüchternen Methoden der Wissenschaft, aber gleichzeitig wächst das Unbehagen und die Kritik am Glauben an die Messbarkeit. Empfindsamkeit, Sturm und Drang und schliesslich die Romantik suchen einen ganz anderen Zugang zu ihr und finden nicht zuletzt in der Natur Erholung von Zivilisation und gesellschaftlicher Konvention. Sie verweisen auf die irrationalen Seiten des Lebens, auf Leidenschaften, Unberechenbarkeiten, und so entdecken sie auch die «barbarischen» Alpen mit ihren schroffen Felsen und tiefen Schluchten als ihre Seelenlandschaft. Schon 1729 macht der Berner Universalgelehrte Albrecht von Haller mit seinem Gedicht «Die Alpen» Furore, in dem er der «verweichlichten Zivilisation» die Augen für die Schönheit der Berge zu öffnen versucht. Er verachtet Städter, die in Luxus und Genuss leben. Jean-Jacques Rousseau sieht die Alpenbewohner noch in einem unverdorbenen Naturzustand, Joseph von Eichendorff schreibt vom «reinen, kühlen Lebensatem», den die Bergbewohner «auf ihren Alpen einsaugen». Schriftsteller aus ganz Europa schreiben von «süssen Schauern», wenn sie in den Alpen «trotzig hinabschauen in die Schrecken». Lord Byrons «Manfred» von 1817, ein Hauptwerk der Romantik und oft vertont und gemalt, spielt unter anderem auf dem Gipfel der Jungfrau. Reisen in die Schweiz kommen in Mode. Aber weder Rousseau, Byron noch die Stürmer und Dränger sind Alpinisten. Johann Wolfgang von Goethe steigt auf unbedeutende Gipfel wie die Rigi oder den Brocken in Deutschland und macht Passtouren.

      Gleichzeitig beginnt auch die Wissenschaft, die geheimen Schlupfwinkel und verborgenen Einöden der Alpen zu erobern. Eine Welt, «die mehr wundervoll als bequem, mehr schön als nützlich ist».

      DIE GEISTLICHEN UND DIE GELEHRTEN

      In der Schweiz werden die ersten namhaften Gletscherberge von Geistlichen bestiegen. Unter anderem der Titlis 1739, der Vélan 1779, die Dents du Midi: 1784. Zu den bemerkenswertesten frühen Pionieren gehört Placidus a Spescha (1752 bis 1835). Alleine oder nur von einem Schafhirten oder Diener begleitet, besteigt er eine ganze Serie von Gipfeln als erster: Rheinwaldhorn, Oberalpstock, Piz Cristallina, Urlaun, Uffiern, Terri, Ault, Stoc Grond, Scopi, Muraun, Güferhorn. Er ist Pater im Kloster Disentis, Kartograf, Geograf, Natur- und Sprachenforscher.

      Als «geistiger Vater des Alpinismus» geht der vermögende Genfer Naturforscher Horace-Bénédict de Saussure in die Geschichte ein. Am 3. August 1887 steht er auf dem 4810 Meter hohen Mont Blanc, nachdem er 27 Jahre zuvor demjenigen eine hohe Geldsumme versprochen hatte, der eine Route auf den Gipfel findet. Begleitet wird er von seinem Diener, dem «Weg-Finder» Jacques Balmat und siebzehn Trägern. Sie schleppen Saussures «physikalische Werkzeuge und alle nöthigen Geräthe». Dazu gehören auch seine persönlichen Gegenstände wie Sonnenschirm, Zelt, Klappbett mit Matratze, Betttücher, Decken, zwei Überröcke, drei Jacken, drei Westen, sechs Hemden, ein weisser und ein Reiseanzug, Stiefel, Gamaschen, ein Paar Schuhe mit grossen und zwei Paar mit kleinen Spitzen, zwei Paar gewöhnliche Schuhe und Pantoffel. Für den mühseligen Aufstieg von Chamonix bis auf den Gipfel brauchen sie drei Tage. Ab den Grands Mulets muss Saussure alle fünfzehn Schritte pausieren, um Atem zu schöpfen. Oben angekommen, fühlt er aufgrund der Höhe «eine leichte Neigung zum Erbrechen». Das mitgebrachte Essen ist gefroren, und die Begleiter, denen die «Dünnigkeit der Luft» ebenfalls zur Last fällt, «bekümmerten sich nicht einmal um den Wein und gebrannte Wasser», schreibt Saussure später in seinem vier Bände umfassenden Werk «Voyages dans les Alpes». «Sie hatten wirklich gefunden, dass die starken Getränke die Unpässlichkeit vermehrten, wahrscheinlich weil sie den schnellen Umlauf des Geblütes noch beschleunigen. Bloss frisches Wasser that gut und war uns angenehm; aber es kostete Zeit und Mühe, Feuer anzumachen, und sonst war keines zu haben.»

      Die Delegation verbringt vier Stunden auf dem Gipfel. Während Saussures Begleiter auf ihren auf den Schnee gelegten Säcken schlafen, nimmt er allerlei Messungen vor. Das Wasser zum Siedepunkt zu bringen, so stellt er fest, erfordert auf dem Mont Blanc eine halbe Stunde. Zu Genf lediglich fünfzehn bis sechzehn Minuten. Eine Pistole, die er auf dem Gipfel abfeuert, «machte nicht mehr Lärm als ein kleiner chinesischer Schwärmer im Zimmer». Der Puls von Bergführer Balmat schlägt nach den vier Stunden Ruhe 98-mal, der von Saussures Diener 112-mal und sein eigener 100-mal in einer Minute. In Chamonix sind es 49, 60, 72-mal.

      In den folgenden Jahrzehnten dringen weitere Gelehrte ins Hochgebirge vor, jedoch nur einzelne und wie Saussure weniger der Berge wegen, sondern zu Forschungszwecken. Wie können Vögel und Insekten in diesen Höhen überleben? Weshalb bewegen sich die Gletscher, wie sie sich bewegen?

      Oder die Meyers aus Aarau, die 1811 und 1812 mit Gemsjägern vom Wallis auf die Jungfrau klettern, um von dieser unbekannten Gegend Kartenmaterial zu erstellen. Eine Besteigung, ohne Messungen oder andere der Menschheit dienliche Beobachtungen durchzuführen, wird zu der Zeit als nutzlos angesehen oder gar nicht anerkannt. Wie etwa die Finsteraarhornbesteigung von 1812, als Meyer erschöpft auf dem Grat zurückbleibt und seine Führer angeblich alleine den Gipfel erklimmen. 1813 wird dann in der Schweiz noch das Zermatter Breithorn (4164 m ü.M.) von einer Gruppe um Henry Maynard erstmals bestiegen. 1819/20 im Monte-Rosa-Massiv die Vincentpyramide (4215 m ü.M.) und die Zumsteinspitze (4563 m ü.M.) von Joseph und Johann Vincent sowie Joseph Zumstein, 1822 die Ludwigshöhe (4341 m ü.M.) von Ludwig Freiherr von Welden.

      WIRTSCHAFTSKRISE, KALTE WINTER, HUNGERJAHR

      Trotz des alpinistischen Enthusiasmus’, den Saussure mit dem Mont Blanc ausgelöst hat, kommt die Bewegung ins Stocken. Man hat dringendere Probleme in der Folge der napoleonischen Kriege. Zwischen 1806 und 1814 verhängt der französische Kaiser eine Wirtschaftsblockade über die britischen Inseln – als Antwort auf die vorangegangene britische Seeblockade der französischen Küste. Dadurch geraten die Handelsbeziehungen fast aller Länder des Kontinents ins Schleudern, allen voran Frankreich selber. Am wenigsten trifft die Sperre jedoch Grossbritannien, es findet sogleich neue Absatzmärkte. In der Schweiz ist insbesondere die Textilindustrie betroffen, in der auch die Meyers aus Aarau tätig sind. Statt weitere Gipfel zu besteigen und Reliefs zu erstellen, müssen sie sich um das Überleben ihrer Fabrik kümmern. Alleine in der Schweiz werden gegen 200 000 Weber und Sticker arbeitslos.

      Zudem bewirken klimatische Einflüsse grosse Katastrophen: Nach zwei ausserordentlich harten Wintern spuckt 1815 in Indonesien der Vulkan Tabora so viel Asche aus, dass danach achzehn Monate lang weltweit kaltes Wetter herrscht. 1816 wird «das Jahr ohne Sommer». Es schneit jeden Monat bis auf mindestens achthundert Meter herab. Darauf folgt eine Wärmeperiode mit rascher Schneeschmelze und Überschwemmungen. Die Missernten führen zu fürchterlichen Zuständen – auch in der Schweiz. In Sankt Gallen verhungern zwischen 1816 und 1817 sechstausend Menschen, Appenzell verliert sechs Prozent der Bevölkerung.

      So wundert es wenig, dass in diesen Jahren, wo Schweizer gezwungen sind, Heu zu essen, Katzen und Hunde als seltene Delikatessen gelten, in der alpinistischen Technik ein deutlicher Rückschritt zu verzeichnen ist. Jungfrau und Finsteraarhorn sind seit den Meyers nie mehr angegangen worden und fast schon in Vergessenheit geraten. Erst 1827 nimmt Gletscherforscher Franz Josef Hugi, Professor