Pionier und Gentleman der Alpen. Natascha Knecht

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Название Pionier und Gentleman der Alpen
Автор произведения Natascha Knecht
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783038550044



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sich jahrtausendelang nichts oder nur wenig ereignet hat im Hochgebirge, folgen die Erstbesteigungen der Alpengipfel plötzlich Schlag auf Schlag. Das sogenannte «Goldene Zeitalter» in der Geschichte des Alpinismus dauert etwa von 1854 bis 1865. 1870 ist mehr oder weniger jeder namhafte Gipfel in der Schweiz bestiegen. Die Rhetorik, die damals in der alpinen Literatur gebraucht wird, könnte gar vermuten lassen, in der Zone des ewigen Eises sei Krieg ausgebrochen. Rudolf Theodor Simmler spricht im Zusammenhang mit dem SAC von «Feldzug», «Kriegsrat», «Generalstab», und «Hauptquartier». Bevor er mit seinen «Hochgebirgsfreunden» zum allerersten Vereinsabenteuer schreitet, der Tödi-Besteigung im Glarnerland, sagt er: «Diesen Moment stelle ich mir feierlich vor, wie ein Feldherr den Augenblick vor einer Schlacht, wo er vor der Front seinen Soldaten mit kurzen Worten die Situation enthüllt und ihnen Sieg und Ruhm verheisst.»

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      Das Niemandsland unter Kontrolle bringen: Schweizer Bergsteiger pflanzen eine Gipfelfahne. Skizze von Emil Rittmeyer, Mitbegründer der SAC-Sektion St. Gallen, publiziert 1861.

      Ähnlich klingt die Wortwahl der Engländer. Auch in ihren Berichten geht es darum, einen Berg zu «attackieren» und zu «besiegen», als wäre er ein Gegner, den man buchstäblich mit Füssen tritt und mit Eispickeln schlägt. Leslie Stephen erklärt die Alpen mit seinem viel gelesenen Klassiker «Playground of Europe» ironisch zum «Tummelplatz». Und Edward Whymper, 1865 «Bezwinger» des Matterhorns, nennt sein Buch zweideutig «Scrambles Amongst the Alps». «Scrambles» kann sowohl als «Kletterei» wie auch als «Wettlauf» übersetzt werden.

      Bergführer nennt man «Anführer», sie haben das «Kommando» respektive «Regiment», und ihre Zöglinge sind «Rekruten».

      Am symbolischen Eroberungswettkampf der Alpengipfel beteiligen sich Bergsteiger verschiedner Nationalitäten, aber die Briten lassen den Rest weit hinter sich. «Eine besonders kräftige Pflege und Förderung, ja ein völlig sportliches Gepräge erhielt der Alpinismus durch die Engländer. Die Angelsachsen sind nicht nur die Pioniere des Westens, sie sind auch die Pioniere des europäischen Hochgebirges», schreibt der österreichische Alpinist Ludwig Purtscheller 1894 in einem Essay «Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus und der alpinen Technik».

      FURCHTBARER ANBLICK VON FELS UND EIS

      Obschon die Eidgenossen die Alpengipfel gewissermassen auf dem Präsentierteller im eigenen Land haben, lassen sie sich Mitte des 19. Jahrhunderts vom Gipfelsturm englischer Touristen überrumpeln. Für den damals jungen Bundesrat ist das Hochgebirge ein Teil des Landesterritoriums, das er noch nicht unter Kontrolle hat. Der SAC habe seine Unternehmungen deshalb auch als «patriotische und wissenschaftliche Kolonisierung seines eigenen Niemandslandes» gesehen, schreibt Andrea Porroni in «Helvetia Club».

      Heute mag sich man fragen, weshalb das Interesse an diesen Bergfahrten auf einmal schier politische Relevanz erlangt hat. Gleichzeitig aber auch, warum dieses Revier oberhalb der Vegetationsgrenze bisher grundsätzlich gemieden wurde. Immerhin stehen die Alpen schon seit ungefähr einer Million Jahre da.

      Die Menschen hatten Angst vor dem Gebirge. Man wollte am liebsten nichts damit zu tun haben. «Es stand wie eine geistige Mauer dazwischen», schreibt Max Senger in «Wie die Schweizer Alpen erobert wurden». Diese Mauer musste durchbrochen werden. «Erst als diese Einstellung zwar nicht Allgemeingut, aber doch ‹gesellschaftsfähig› geworden war, durfte man daran denken, die physische Eroberung der Alpen in Angriff zu nehmen.»

      Noch bis tief ins 18. Jahrhundert gilt des Römers Livius altes Wort von der Scheusslichkeit der Alpen – der Foeditas Alpium. Wer immer der unwirtlichen Einöde trotzt, die zwischen Nord- und Südeuropa liegt, tut das aus schierer Notwendigkeit und hält sich eng an die alten Passstrassen. «Gott gib mich meinen Brüdern zurück, damit ich sie warnen kann, diesen qualvollen Ort zu meiden», betet ein englischer Mönch, als er 1178 den Gotthard auf dem Weg nach Rom überquert. Der protestantische Missionar David Cranz beobachtet noch 1757 auf dem Flüelapass mit Bestürzung, wie nicht nur die Vegetation, sondern Sichtbares überhaupt verschwindet: «Wenn die Bäume und nach ihnen die Alpen wegen der grossen Kälte aufhören, sieht man noch ein wenig Gras zwischen den Steinhaufen, dann nur noch Moos und endlich gar nichts.» Sein Zeitgenosse Johann Joachim Winckelmann setzt sich gegen den Schrecken der Alpen zur Wehr, indem er 1760 auf dem Weg zu Italiens Kunstschätzen die Fenster seiner Kutsche verhängt, um sich den furchtbaren Anblick von Fels und Eis zu ersparen. Wer zu Pferd über die Saumwege muss, verbindet sich die Augen.

      Dennoch gab es immer schon ein paar Verwegene, welche die Berge weder als «feindliche Macht» noch als «scheusslich» wahrgenommen haben. Etwa Peter II., König und Feldherr des heutigen Katalonien in Spanien. Um zu «entdecken und erkennen, was auf dem Gipfel ist», steigt er im Jahr 1250 in den Pyrenäen auf den Pic du Cnaigou (2780 m ü.M). Im Vordergrund steht sein Wissenstrieb und vielleicht auch Ergeiz. Der italienische Dichter Francesco Petrarca erreicht 1336 den Gipfel des Mont Ventoux, eine 1912 Meter hohe Erhebung in der Provence, «alleine von dem fieberhaften Wunsche beseelt, die bedeutende Höhe dieses Ortes zu sehen.» Petrarca ist er erste Mensch, der von einer Art «Gipfelextase» spricht. Im 16. Jahrhundert wird dann der Zürcher Arzt Conrad Gessner der erste Mensch, der die Anstrengung einer Wanderung als Genuss beschreibt: «Ich habe mir vorgenommen, fortan, so lange mir Gott das Leben gibt, jährlich mehrere oder wenigstens einen Berg zu besteigen, und zwar in der Jahreszeit, wenn die Pflanzen in der Blüte sind, theils um diese kennenzulernen, theils um meinen Körper auf ehrenwerte Weise zu üben und meinem Geist die edelste Erholung zu gestatten. Denn welche Lust ist es und welches Vergnügen, für den ergriffenen Geist, die gewaltige Masse der Gebirge wie ein Schauspiel zu bewundern und das Haupt gleichsam in die Wolken zu erheben.»

      VERBOTE, VERHAFTUNGEN, DRACHEN

      Aber weder Petrarca noch Gessner dringen bis ins Hochgebirge vor. Es gilt nach wie vor als wertlos. Am meisten Geringschätzung bringen ihm jene entgegen, die ihm am nächsten sind: Die Alpenbewohner. Bei grösster Mühe der Bewirtschaftung bringt der Gebirgsboden nur geringe, oder gar keine Erträge. Zudem verkörpern die unfruchtbaren, dem Menschen gar gefährlichen Stellen des Gebirges seit dem Mittelalter die Wohnstätten höllischer Geister und des Teufels. Diesem Glauben leistet die Kirche offen Vorschub. 1387 stecken die katholischen Behörden der Stadt Luzern sechs Mönche ins Gefängnis und verweisen sie dann des Landes, weil sie auf den mythenumrankten Pilatus wollten. Dessen Besteigung ist bis ins 16. Jahrhundert per Gesetz untersagt. Man glaubt, nur schon eine Annäherung an den Berg und den Bergsee, wo gemäss der Sage angeblich die Leiche von Pontius Pilatus, römischer Statthalter in Jerusalem, versenkt worden sei, bringe schreckliches Unheil. «Grusame, ungestüme wätter und Hagel, windschlegen und anlaufen der bergwasser» wären die Folge. Über hundert Jahre nach den Mönchen, 1518, holt Joachim Vadian, Reformator aus Sankt Gallen, eine offizielle Bewilligung für den Pilatus ein und besteigt den Gipfel. In den gefürchteten See wirft er Steine, worauf sich – oh Wunder – kein Unwetter zusammenbraut. Sowohl die Mönche wie auch Vadian haben die Besteigung des Pilatus in erster Linie aus Protest gegen den Aberglauben und die religiöse Intoleranz dieser Zeit geplant.

      Die Furcht vor dem Gebirge und den bösen Wesen, die es möglicherweise bewohnen, bleibt lange verbreitet. Dazu verhelfen nebst der Kirche wissenschaftliche Theorien. Wie jene des Zürcher Arztes Johann Jakob Scheuchzer: 1716 veröffentlicht er sein Werk «Naturgeschichte des Schweitzer Landes» (Itinera Alpina). Darin bringt er ausführliche Beschreibungen von Drachen in den Schweizer Bergen. Zur Illustration hat er Skizzen von sagenhaften Ungetümen erstellt, manche mit dem Körper einer Schlange und dem Kopf einer Katze oder mit Fledermausflügeln, andere mit kurzen Beinen und einem Hahnenkamm oder einem behaarten, zweigezackten Schwanz. Scheuchzer kann das Vorkommen der Drachen sogar nach Kantonen ordnen. Betroffen sind seiner Meinung nach die beiden Appenzell, Bern, Glarus, Luzern, Unterwalden, Zürich sowie das «Pündtner-Land», die Grafschaft Sargans oder die Landschaft Gaster. Es sei klar, so schreibt er, dass es solche Lebewesen gebe. «Sie mögen eine besondere Art der Tiere ausmachen, oder, wie viele wollen, Missgeburten sein; denn man siehet, dass nicht alle von einerlei Art sind.»

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      Drachen