Pionier und Gentleman der Alpen. Natascha Knecht

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Название Pionier und Gentleman der Alpen
Автор произведения Natascha Knecht
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783038550044



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Pfad hinab ins Dorf. Um 16.30 Uhr treffen sie im «Adler» ein.

      Die Bergführer bekommen je dreissig Franken und ein Trinkgeld. Im Preis mitberechnet ist ihr Rückmarsch auf die Grimsel. Hinchliff ist begeistert. «Wir haben die Strahlegg-Reise sehr genossen. In der Freude über die Abenteuer des Tages betrachten wir uns als überaus entschädigt für die Kosten und die Mühe.»

      Es ist die erste, im einzelnen bekannte Tour von Melchior Anderegg. Von Huggler, dem zweiten Führer, vernimmt man eigentlich nur, dass er den Weinkeller getragen hat.

      VOM SCHNITZER ZUM GRIMSEL-KNECHT

      In seiner Heimat Haslital macht Melchior Anderegg erstmals als Fünfjähriger von sich reden. Sein Götti besitzt einen stattlichen, aber störrischen Widder. Scherzhaft sagt er zu dem Buben: «Wenn du mir den fängst, so soll er dein sein!» Das lässt sich Melchior nicht zweimal sagen. Wie eine Katze schleicht er sich an das Tier heran, packt es im Sprung und klammert sich an seinem Hals fest. Mit aller Kraft versucht der streitbare «Bänz» frei zu werden. Melchior krallt sich wie ein Geier mit beiden Fäusten in der Wolle fest. Als nach langem Ringen die wilde Jagd über Stock und Stein zu Ende geht, hängt der Bub noch immer drin und bleibt der Sieger. Später wird Melchior einer der ganz «bösen» Schwinger im östlichen Berner Oberland. An den Festen holt er immer wieder ein Schaf. Aber nie mehr ein so prächtiges Exemplar.

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      Der Dorfkern von Meiringen, ca. 1888: Dunkle Holzhäuser inmitten einer pittoresken Wald- und Gipfellandschaft. So haben sich die ausländischen Gäste «ein wahres Bergdorf» vorgestellt.

      Am 28. März 1828 geboren, wächst er im abgelegenen Weiler Zaun auf, vierhundert Meter oberhalb von Meiringen. Die kinderreiche Familie lebt wie der Grossteil der Bevölkerung von der Landwirtschaft. Fleissige, einfache Leute. Viehhaltung, Alpgang, Nutzung der Allmenden und Wälder gelingt nur dank des starken Zusammenhalts in der Familie und der Nachbarschaft.

      Im Tal sind die Schulklassen überfüllt, und die Lehrer verdienen so wenig, dass sie noch anderen Verdienstmöglichkeiten nachgehen müssen. Von einem weiss man, dass er weder schreiben noch rechnen, von einem anderen, dass er nicht schreiben kann. Zu Melchiors Einschulung 1835 tritt das Bernische Primarschulgesetz in Kraft, und die Lehrer werden verpflichtet, zur Ausübung des Berufes eine theoretische Prüfung abzulegen. Zu den obligatorischen Unterrichtsfächern gehören nun: Christliche Religion, Muttersprache, Kopf- und Zifferrechnen, Schönschreiben, Gesang. In der Oberstufe auch Linearzeichnen, Geschichte, Erdbeschreibung, Naturkunde, Verfassungskunde, Buchhaltung, Hauswirtschaft und Landwirtschaft.

      Nach Abschluss der Grundschule hilft Melchior weiterhin auf dem elterlichen Bauernhof mit. In den ruhigeren Wintermonaten widmet er sich seiner künstlerischen Begabung, der Holzschnitzerei. Bären, Murmeltiere und Chalets sind beliebte Souvenirs bei den Touristen. Für den Fremdenverkehr liegt das Haslital ideal. Die Gäste kommen von Interlaken her, von Luzern über den Brünig, von der Gotthardstrasse via Wassen über den Susten, vom Oberwallis über die Grimsel, von Engelberg über den Jochpass und von Grindelwald über die Grosse Scheidegg. Zudem kommt Meiringen das «milde Klima» zugut. Das Dorf liegt auf lediglich sechshundert Metern über Meer.

      Schon seit den frühen 1840er-Jahren verbringen hier ausländische Gäste längere Sommeraufenthalte und schwärmen von der «lieblichen Umgebung inmitten eines echten alpinen Tales». Besonders gefällt ihnen der Blick auf die hohen Schneegipfel und die vielen Wasserfälle, etwa die Kaskaden des tosenden Reichenbachfalls, in dem später Arthur Conan Doyle seinen Sherlock Holmes verschwinden lässt. «Die Einheimischen», so berichten die Reisehandbücher, «sprechen einen eigenen, angenehmen Dialekt und unterscheiden sich von den anderen Oberländern durch feineren, dennoch kraftvollen, fast durchgängig schönen Körperwuchs.» Und: «Die Frauen geniessen den Ruf, hübscher zu sein als jene der meisten Täler der Schweiz.»

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      Zu schmal und steinig für eine Kutsche: Auf dem Saumweg zur Handeck und auf den Grimselpass, um 1850.

      Reich wird Melchior mit seinen Holzschnitzereien nicht. 1854 lässt er sich bei seinem Vetter Johann Frutiger im Grimsel-Hospiz als Knecht anstellen. Einst war das steinerne Gebäude auf dem historischen Passübergang eine wohltätige Stiftung, um Säumern eine Station zum Ausruhen zu bieten und mittellosen Wanderern eine kostenlose Zufluchtsstätte zu gewähren. Inzwischen ist es ein offenes Gasthaus, «in welchem für sehr dürftige Einrichtung, aber gute Verpflegung Preise der Hotels ersten Ranges gezahlt werden», wie ein Reisehandbuch informiert. Die Übernachtung in einer engen Bretterzelle mit Bett kostet 2 Franken, Abendessen ohne Wein 3 Franken, Kaffee 1.50 Franken, Service 1 Franken. Hinter dem Haus liegen zwei fischlose kleine Alpenseen, die auch im Hochsommer nicht selten nachts von einer dünnen Eisdecke überzogen werden.

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      Das historische Grimsel-Hospiz, 1852 durch Brandstiftung in Schutt und Asche gelegt, 1853 neu aufgebaut und in den 1930er-Jahren im Grimselstausee untergegangen.

      Melchior hilft bei der Führung des Gasthauses und in den dazugehörenden Alpbetrieben. Zu tun gibt es hier auf zweitausend Meter über Meer rund um die Uhr. An schönen Tagen geht es zu wie in einem Taubenschlag. Säumer, Kaufleute und Touristen kommen und gehen – zu Fuss, zu Pferd oder mit dem Tragsessel. Für einen Karrwagen oder gar Kutsche ist der Saumpfad zu schmal und steinig. Die Wanderung von Innertkirchen bis zum Hospiz dauert sechs Stunden. Zwischenstation bietet die grosse Sennhütte an der Handeck, wo ein Matratzenbett 1.50 Franken pro Nacht kostet.

      Wie viele Berggasthäuser damals vermietet auch das Grimsel-Hospiz seine stämmigen Knechte als Bergführer. Durch die Gletscherforscher in den 1840er-Jahren habe sich das Hospiz zur «Brutstätte für die künftige Generation Führer entwickelt», schreibt Carl Egger in «Pioniere der Alpen». Jäger, Strahler und Hirten aus dem Haslital begleiteten die Wissenschaftler auf ihren Exkursionen im vergletscherten Gebiet. «Junge Wagehalse», die «flink wie ein Affe» waren und sich im Gebirge «mit unerschrockener Kühnheit aus allen schlimmen Lagen herauszuziehen wussten». Gemäss Egger haben sie in der Entwicklung des touristischen Bergsteigens aber noch keine Bedeutung erlangen können.

      Das ändert sich, als Anfang der 1850er-Jahre neuerdings ausländische Gäste auf der Grimsel eintreffen, die nach Führern verlangen, um mit ihnen in diese noch immer weitgehend jungfräuliche Gletscherwelt vordringen. Melchior Anderegg, der auch ein passionierter Gemsjäger war, trifft im Hospiz seine ersten englischen «Herren». Wie und wann er seine erste Gletscherfahrt unternommen hat, ist nicht überliefert.

      WIEDERSEHEN IM «SCHWARENBACH»

      Den Sommer 1856 verbringt Melchior Anderegg nicht mehr auf der Grimsel, sondern im Gasthaus Schwarenbach auf dem Gemmipass, der einzigen Unterkunft zwischen Kandersteg und Leukerbad. Man hat ihm das Angebot gemacht, dort seine Holzschnitzereien an die Touristen zu verkaufen und gleichzeitig als Lokalführer zu arbeiten. Thomas Hinchliff, den Melchior im Vorjahr über die Strahlegg geführt hat, weiss von diesem Wechsel nichts und staunt nicht schlecht, als er im «Schwarenbach» den Speisesaal betritt und Melchior sieht. Dieser trägt einen grünen Schurz und ist von einer Schar Gäste umringt, die ihm beim Schnitzen zuschauen. Erfreut schütteln sich die beiden die Hand, und Hinchliff teilt Melchior mit, dass er den Altels (3629 Meter) besteigen möchte.

      Am Abend sitzen die beiden vor dem Haus auf der Holzbank, rauchen eine Pfeife und besprechen die Details für die Tour. Melchior war wenige Tage zuvor auf dem Altels und weil er Hichliff kennt, trägt er keine Bedenken, ihn allein auf den Gipfel zu führen. Für damalige Verhältnisse ein unerhörtes Wagnis, da sehr steile Eispassagen zu überwinden sind. Hinzu kommt, dass es geschneit hat und das Wetter noch immer nicht wirklich gut ist.

      Wiederum macht Melchior den Nagelschuster. Um 3.30 Uhr weckt er Hinchliff, um 4.30 Uhr verlassen die zwei das Haus. Melchior trägt im Rucksack Brot, kaltes Fleisch, ein paar Flaschen Wein und ein Seil. Am Ledergürtel hat er ein Handbeil befestigt. Über Weidhänge, Geröll und Schneefelder gelangen sie an den Rand des mächtigen Hängegletschers, wo unaufhörlich Eistücke