Pionier und Gentleman der Alpen. Natascha Knecht

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Название Pionier und Gentleman der Alpen
Автор произведения Natascha Knecht
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783038550044



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      WER IST MELCHIOR ANDEREGG?

       Wer ist Melchior Anderegg? Diese Frage kann nur jemand stellen, der nie in den Schweizer Alpen war, wo sein Name ebenso bekannt ist wie Napoleon. Melchior ist auf seine Art auch ein Kaiser, ein Fürst unter den Führern. Sein Reich ist der ewige Schnee, sein Szepter der Eispickel.

      Dies schreibt Alpinist Edward Whymper in seinem Bestseller «Scrambles Amongst The Alps», den er 1871 veröffentlicht, zu einer Zeit, als sich Melchior Anderegg auf dem Höhepunkt seiner Karriere als Bergführer befindet, anspruchsvolle Erstbesteigungen leitet und mit seinen «Herren» unermüdlich neue Wege und Routen beschreitet. Zusammen mit den Engländern hat der Pionier aus Meiringen die frühe Geschichte des klassischen Alpinismus wesentlich geprägt. Dafür ehrt ihn der Alpine Club in London bis heute: «Unsere alpinistische Geschichte ist uns sehr wichtig. Und Melchior spielt darin eine wichtige Rolle», sagt Jerry Lovatt, gegenwärtiger Honorary Librarian.

      Heute, wo befahrbare Strassen bis in die hintersten Winkel der Seitentäler führen und Bahnen viele hundert Höhenmeter Auf- und Abstieg erleichtern, kann man sich kaum noch vorstellen, mit welchen Schwierigkeiten die Bergsteiger im «Zeitalter der Eroberungen» zu kämpfen hatten. Wie reich an Mühseligkeiten und Fährnissen die Alpenreisen, selbst auf den gangbarsten Pfaden, gewesen sind. Als der junge Haslitaler Melchior Anderegg Anfang der 1850er-Jahre seine ersten «Herren» in die vergletscherten Höhen seiner Heimat führt, steckt der Alpinismus noch in den Kinderschuhen. Es gibt weder reissfeste Seile noch atmungsaktive Kleidung, weder Clubhütten noch verlässliches Kartenmaterial. Etliche Gipfel haben keinen offiziellen Namen. Man weiss nicht einmal sicher, welche Gefahren in dieser Terra incognita lauern, geschweige denn, wie man ihnen begegnen soll. Die Vertrautheit mit den hohen Bergen muss erst noch gefunden und erprobt, der Umgang mit Sturm und Nebel, Gletscherspalten und schmalen Felstritten erarbeitet werden.

      Bis Mitte des 19. Jahrhunderts sind gelegentlich Gelehrte zu Forschungszwecken ins Hochgebirge gestiegen. Nicht zum touristischen Vergnügen. Die einheimische Bergbevölkerung meidet die steilen, kalten Geröll- und Eishalden seit jeher. Sie sehen keinen Grund, dort hinaufzusteigen. Wozu auch? Als Bauern sind sie Selbstversorger, müssen schauen, dass sie durch den Winter kommen. Dort oben gibt es für sie nichts zu ernten. Die Menschen glauben gar, in den unzugänglichen Höhen leben Dämonen und Gespenster, die regelmässig Unheil ins Tal bringen. Lawinen, Murgänge, Überschwemmungen. Innert Minuten, so es der Teufel will, ist ein Dorf ausradiert.

      Wie aus heiterem Himmel kommen Mitte des 19. Jahrhunderts plötzlich wohlhabende und gebildete Städter, die in diese Stätten des Grauens vordringen wollen. Allen voran suchen unternehmungslustige Engländer mit langen Sommerferien dort den Reiz des Unbekannten. Sie machen die Hochalpen zu ihrem neuen Spielplatz, wo sie unberührte Gipfel und Gletscher «erobern» können. Für sie steht nicht wissenschaftliches Interesse im Vordergrund, sondern sportliche Freizeitbeschäftigung. Kein Gipfel ist ihnen zu hoch oder zu abgelegen, kein Wind zu bissig, kein Abgrund zu grässlich. Zuvor hatten Stürmer, Dränger und Romantiker die schroffen Alpen als Seelenlandschaft entdeckt und besungen, aber nie bestiegen.

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      Der erste grosse Bergführer der Schweiz: Melchior Anderegg aus Zaun bei Meiringen. Für diese Aufnahme ist er 1879 nach Interlaken gereist, im Hintergrund die Jungfrau.

      Als Begleiter engagieren die sogenannten «Hochtouristen» einheimische Bergführer. Zu Beginn sind das Jäger, Kristallsucher und Hirten, deren Erfahrung in diesen Einöden allerdings nicht sehr ausgeprägt ist. Besonders wenn sie nicht nur als «Wegweiser» oder «Pfadfinder» agieren sollen, sondern die Verantwortung für das Leben der «Herren» tragen müssen. In diesen Pionierjahren entwickelt sich Melchior Anderegg zum Meister. 1856 gehört er zu den ersten, die ein Schweizer Bergführerpatent erhalten und bald darauf zu den ersten Schweizer Bergführern, die aus der engen Heimat ausbrechen und überall in den Westalpen Erstbesteigungen in Angriff nehmen. Mit seinen «Herren» wagt er für damalige Verhältnisse Ausserordentliches und bewältigt eine Reihe von hochklassigen Ersttouren im Berner Oberland, im Wallis, im Mont-Blanc-Gebiet, im Bergell und in den Dolomiten. Melchior Anderegg, der als einfacher Knecht im Grimsel-Hospiz begonnen hat, wird zum Vorbild der nachfolgenden Bergführergenerationen.

      Trotz Ehrgeiz und Tatendrang lehnt er tollkühnes Draufgängertum ab. Die Sicherheit der ihm Anvertrauten steht für ihn an erster Stelle. Nie lässt er sich zu leichtsinnigen Manövern drängen. Da bleibt er der sture Bergler, selbst wenn ihn ein «Herr» überreden will: «Melchior, das geht schon.» Dann antwortet er: «Ja, es geht. Aber ich gehe nicht.»

      Nebst seinen bergsteigerischen Fähigkeiten machen ihn sein Charisma, seine feinfühlige Autorität, seine Ehrlichkeit und sein Humor begehrt. Eigenschaften, mit denen sich im «Goldenen Zeitalter des Alpinismus» nicht alle Bergführer rühmen können. Einer seiner englischen «Herren» schreibt: «Melchior war 42 Jahre lang mein Führer, und ich habe nie von ihm einen Ausdruck vernommen, der sich gegenüber der vornehmsten Dame nicht gehört hätte.» Die ambitioniertesten Bergsteiger des englischen Alpine Club reissen sich um ihn, wollen von ihm lernen. Rühmt er sie am Berg mit seinem kargen «Gut! Gut!», ist das für sie fast schöner als der Gipfelerfolg selber.

      Während sich bereits zu den alpinistischen Anfangszeiten viele Männer an bergsteigenden Frauen stören, zeigt Melchior nie ein Problem mit ihnen. Mehrere Damen gehören zu seinem Kundenkreis. Einmal wurde er gefragt, wie er denn eine Lady über eine Gletscherspalte locke. Anderegg antwortete scherzend: «Nun, ich gehe voraus. Dann nehme ich ein Zucker-Bonbon aus dem Hosensack, strecke es ihr entgegen und sage: Komm, komm, komm! Und sie kommt sofort.»

      Lucy Walker, die erste Frau, die regelmässig ins Hochgebirge steigt, unternimmt ihre Touren ausschliesslich mit Melchior Anderegg. Unter seiner Führung steht sie als allererste Frau auf dem Matterhorn und weiteren Viertausendern. Sie pflegen eine jahrelange innige Freundschaft. Auf die Frage, weshalb sie nie geheiratet habe, soll die sehr vermögende Lucy Walker geantwortet haben: «Ich liebe die Berge und ich liebe Melchior, aber er hat schon eine Frau.»

      In der Schweiz geht Melchior Anderegg als «Glanzgestirn» in die Geschichte ein, bei den Engländern als «King of the Guides» – «König der Bergführer». Ein Titel, der von der ersten Führergeneration nie zugunsten eines anderen angefochten worden ist.

      1855 IM GRIMSEL-HOSPIZ: DIE KARRIERE BEGINNT

      AMBITIONIERTE GLETSCHERTOUR ÜBER DEN STRAHLEGGPASS — MIT FLÖHEN IM HEUBETT — SONNENBRAND DER ENGLÄNDER — HINCHLIFF SCHIESST «WIE EIN BLITZ» IN EINE SPALTE — STÄRKER ALS DER STÖRRISCHE WIDDER — MELCHIORS KINDHEIT IN ZAUN BEI MEIRINGEN — WECHSEL IN DEN «SCHWARENBACH» AUF DER GEMMI — OBERLÄNDER «KRIEGSRUF» AUF DEM ALTELS

      Im Sommer 1855 taucht der 29-jährige Thomas Woodbine Hinchliff im Grimsel-Hospiz auf. Ein hochgebildeter Anwalt aus London, der allerdings nicht praktiziert. Er besitzt so viel Vermögen, dass er nie arbeiten muss und sich ganz und gar dem angenehmen Leben zuwenden kann. Drei Sommer lang reist er kreuz und quer durch die Alpen, um über seine Erlebnisse ein Buch zu schreiben. In diesem Jahr hat er sich vorgenommen, seine erste Hochgebirgsfahrt im Berner Oberland zu unternehmen: Von der Grimsel über den vergletscherten Strahleggpass nach Grindelwald. Damals eine ambitionierte Tour.

      Hinchliff und sein Gefährte, den er Mister Dundas nennt, erreichen das Hospiz «an einem wunderschönen Abend» im August und reden mit dem Wirt über ihren Plan. Seine Wetterprognose ist zuversichtlich, und er empfiehlt ihnen zwei Bergführer, die er ihnen am Morgen nach dem Frühstück vorstellen will, damit sie am Nachmittag starten können.

      Während Hichcliff im Hospiz auf das Abendessen wartet, beobachtet er einen Schotten und einen Führer, die wild miteinander gestikulieren und sich gegenseitig etwas zu verstehen geben wollen. Aber die beiden sprechen nicht dieselbe Sprache. Hinchliff wird als Übersetzer zugezogen und findet heraus, dass die Frau des Schotten auf einem Chaise-à-Porteur, einem Tragstuhl, nach Meiringen getragen werden will. Nachdem die Träger die Leibesfülle der Dame gesehen haben, bestehen sie auf der Unterstützung durch weitere Männer. Der Ehemann