Schweizerspiegel. Meinrad Inglin

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Название Schweizerspiegel
Автор произведения Meinrad Inglin
Жанр Языкознание
Серия Meinrad Inglin: Gesammelte Werke in zehn Banden. Neuausgabe
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783857919954



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Licht nicht gelöscht hatte. Er drehte es ab, blickte in der Dunkelheit ironisch nach dem Bilde hin, auf dem nur mehr das verschwommene Rund des Gesichtes zu erkennen war, und glaubte zu sehen, wie der alte Johann Gottlieb im Schutze der Dämmerung jetzt auch zu lachen begann. «Lach du nur!» dachte er belustigt, drückte den Kopf ins Kissen und sank schmunzelnd in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

      2

      Frau Marie blickte kurz vor dem Nachtessen durch ein Küchenfenster ihrem Gast entgegen, der mit lässig hängenden Armen und schweren, wiegenden Schritten wie ein Bauer auf das Haus zukam, ungekämmt, ohne Hut, ohne Kragen, mit aufgekrempelten Hemdärmeln, beschmutzten Strümpfen und dreckigen Schuhen. «Wie der wieder aussieht!» dachte sie erschrocken und begann sich Vorwürfe zu machen.

      «Fred», sagte sie, als er die Treppe heraufkam, «um Gottes willen, wie siehst du aus! Nein, so darfst du dich wirklich nicht vernachlässigen … wenn Mama dich sähe, wir müßten uns ja schämen! Gib doch etwas mehr acht und tramp nicht in jeden Dreck hinein!»

      Fred blickte scheinbar erstaunt auf die besorgte kleine Frau hinab, ließ sie ruhig ausreden und erwiderte dann, mit einem unschuldigen Blick auf seine Schuhe und Strümpfe: «Hm, es hat am Morgen geregnet, nicht wahr … Christian sieht genau so aus …»

      «Das ist nicht dasselbe! Christian muß arbeiten und kann nicht besser aussehen … aber für dich schickt sich das nicht …»

      «Wieso nicht? Was sich für Christian schickt …»

      «Ach, das weißt du selber auch! Mama hat dich nicht so gut erzogen, damit du jetzt …»

      «Hör auf, Tante, mach keine Geschichten! Dreck hin, Dreck her, mir ist wohl dabei, und du mußt jetzt wieder in die Küche, sonst brennen dir die Erdäpfel an!» Damit legte er den Arm um ihre Schultern und schob die wohlwollend Aufbegehrende mit sanfter Gewalt in die Küche zurück.

      Fred hatte sich in den wenigen Wochen seit seiner Ankunft im Rusgrund wirklich verändert, und es war ein Zufall, daß Tante Marie es erst heute bemerkte. Er hatte die Sorge um sein Äußeres aufgegeben, unterschied sich nicht mehr allzusehr von den übrigen Bewohnern und nahm an verschiedenen Arbeiten teil. Dabei hatte er ohne jede Absicht seinen Vetter nachzuahmen begonnen. Er nahm lange, ruhige Schritte, wobei er sich infolge seiner Größe zu wiegen begann, und wurde wortkarg, was ihm ohnehin nahe lag.

      Gleichmütig, mit einem stummen Nicken, kam er jetzt auch zum Nachtessen, setzte sich breitspurig hin und war bereit, gelegentlich ein Wort über das Wetter zu sagen; aber Christian, der nachmittags im Dorf gewesen war, meldete eine Neuigkeit, die sofort eine ungewohnt lebhafte Unterhaltung zur Folge hatte, und außerdem lag ein Brief von Mama neben seinem Teller. «Dein Vater hält dann am offiziellen Tag die Festrede», sagte Christian. «Ich hab’ es heute vernommen.»

      Fred blickte ihn nur kurz und forschend an.

      «Soso?» sagte Onkel Robert lebhaft. «Jää, reden kann er, das muß man ihm lassen …»

      «Uh, dann kommt ihr doch einmal alle zusammen hieher!» rief Lisi.

      «Habt ihr keine eigenen Redner, daß ihr sie müßt von Zürich kommen lassen?» fragte Fred.

      «Bei einem Kantonalen hält am offiziellen Tag immer ein Regierungsrat oder ein Nationalrat die Rede», erklärte Christian. «Das ist immer so gewesen. Und dann ist er ja auch Ehrenmitglied des Kantonalverbandes … und als Bürger unserer Gemeinde, nicht wahr … er ist da wirklich als erster in Betracht gekommen.»

      «Man könnte gar keinen Geeignetern finden», bemerkte Onkel Robert mit Überzeugung. «So, das freut mich, daß er zugesagt hat …»

      Das nahende Schützenfest wurde weiterbesprochen, die Mädchen machten Pläne, und Christian erzählte vom Stand der Vorarbeiten.

      Fred hörte nur mit halbem Ohr zu; er wurde beim Gedanken an den Brief, den er in den Hosensack gesteckt und dabei zerknüllt hatte, von trüben Ahnungen erfüllt. Nach dem Essen schlenderte er in den aufheiternden Abend hinaus und wunderte sich, wie hell es noch war. Er hatte während des verflossenen Regenwetters gar nicht bemerkt, daß die Tage so rasch zunahmen. Zerstreut ging er den Fahrweg hinauf und gedachte den Brief bei der Abzweigung eines gewissen schmalen Pfades zu öffnen, aber als er dort ankam, folgte er zuerst noch ein wenig diesem hübschen kleinen Pfade durch die Wiesen und stellte fest, daß in den letzten Tagen das Gras doch stark gewachsen war. Er gelangte zu einem Graben, an dem Christian und der Knecht im Nachwinter gearbeitet hatten, und sah mit Befriedigung, daß er den Zweck erfüllte. Das Grundwasser, das nach einer Regenzeit an dieser Stelle sonst immer durchgesickert und in die Wiese hineingeflossen war, sammelte sich jetzt in diesem Graben und fand weiter unten einen natürlichen Abfluß. Er kehrte um und schlenderte dem Stall zu, wo Bärädi auf einer Handorgel übte. Während er mit trübem Lächeln auf die Wiederholung einer Figur hörte, zu der sich der richtige Baß nicht finden wollte, öffnete er nachlässig den Brief.

      «Mein Lieber», schrieb Mama, «ich möchte Dich nur rasch daran erinnern, daß Du vor dem Beginn des Sommersemesters noch zum Schneider mußt. Bitte, komm nicht wieder erst am letzten Tage heim, gelt! Dein Aufgebot zur Offiziersschule ist gekommen, ich schicke es Dir nicht nach, weil ich Dich nämlich allernächstens erwarte, Schatz. (Daß Du dann mitten aus dem Semester heraus einrücken mußt, finde ich nicht grad vorteilhaft.) Nach meiner Berechnung bist Du jetzt auch mit den Hemden und Socken zu Ende, mehr hast Du ja nicht mitnehmen wollen. Also! Gestern war Tante Klara hier und hat sich nach Dir erkundigt …»

      Fred steckte den Brief wieder in den Hosensack; die paar Familiennachrichten sparte er sich auf. Mit dem finstern Ausdruck, den sein Gesicht während des Lesens angenommen hatte, ging er noch ein paar Schritte und blieb dann vor der im Grase liegenden Hündin stehen, die ihn mit der Rute wedelnd begrüßte; zerstreut sah er zu, wie sie, den Kopf seitlich zur Erde gedreht, mit den Zähnen einen Knochen bearbeitete.

      Indessen kamen die Mädchen vom Hause herüber. Lisi schlich sich von hinten an ihn heran und legte ihm die Hände über die Augen. Er rührte sich zunächst nicht, aber dann griff er plötzlich zurück, so daß sie kreischend auswich. «Fred, du machst ein Gesicht wie sieben Tag Regenwetter», rief sie, kam wieder heran und faßte ihn unter dem Arm. «Hast du schlimme Nachrichten bekommen?» Nun trat auch Martha rasch auf ihn zu und faßte ihn unter dem andern Arm, was sie aus eigenem Antrieb, ohne Lisis Beispiel, niemals getan hätte.

      «Ach … heim sollt ich wieder!» antwortete er verdrossen. «Saublöd!»

      Die Mädchen suchten ihn aufzuheitern, und als sie vor dem Stall zum Knechte kamen, der beim Nahen der Gruppe seinen geläufigsten Ländler angestimmt hatte, begann sich Lisi am vetterlichen Arm zu wiegen. Lisi war ein impulsives, bei jeder Gelegenheit hell auflachendes, lebenslustiges Geschöpf von ansehnlicher Größe, mit einem hübschen, rötlich glühenden Gesichtchen und braunblonden Haaren, die sich häufig in Unordnung befanden und ihr dann ein fröhlich wildes Aussehen verliehen. Neben dieser vollblütigen Schwester entwickelte Martha in Freds Gegenwart auch ihrerseits eine gewisse Lebhaftigkeit, die oft rührend wirkte, da sie nicht einem natürlichen Temperament entsprang, sondern ihrem instinktiven Wunsch, den Vetter mit denselben Mitteln an sich zu ziehen wie Lisi. Ihre bescheidene persönliche Anziehungskraft und ihr besonderer Reiz beruhten aber auf dem Gegenteil. Sie war eine schlanke, stille Gestalt mit braunem, immer sehr ordentlich getragenem Haar und einem länglichen, dunkeläugigen, etwas blassen Gesicht, das am häufigsten einen mütterlich ernsten Ausdruck zeigte, wie sie denn unter gewohnten Umständen auch ein häuslich braves und arbeitsames Wesen an den Tag legte.

      Außer diesen Eigenschaften hatte weder Martha noch Lisi einem Städter gegenüber viel einzusetzen. Sie waren keine Bauernmädchen mehr, deren Ursprünglichkeit den Mangel an Bildung aufwiegt, sie hatten ein welsches Institut besucht, französisch gelernt und an Tanzkursen teilgenommen, sie trugen zum Ausgang Kleider nach der Mode, Stöckelschuhe und seidene Strümpfe, und wenn sie von der Zukunft träumten, fiel ihnen kein Bauernhof ein, sondern die Stadt. In diesen Anfängen waren sie steckengeblieben. Ihre geistigen Bedürfnisse gingen nicht über das Allgemeinste hinaus, das die Öffentlichkeit ihnen bot. Sie gehörten zu jener Volksmasse, über die man in höher gebildeten Kreisen die Nase rümpfte, und ein Intellektueller