Schweizerspiegel. Meinrad Inglin

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Название Schweizerspiegel
Автор произведения Meinrad Inglin
Жанр Языкознание
Серия Meinrad Inglin: Gesammelte Werke in zehn Banden. Neuausgabe
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783857919954



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und das Bedürfnis, sich auszusprechen, wuchs derart, daß sie stundenlang suchte und überlegte, wem sie sich anvertrauen könnte. Sie merkte erst jetzt, wie oberflächlich sie nach der Bekanntschaft mit Hartmann fast alle ihre Freundschaften begründet hatte. In dieser Not schrieb sie an Susi Brunner, eine Freundin aus ihrer Mädchenzeit, die seit drei Jahren mit einem Angestellten in Bern verheiratet war. Susi lebte in ihrer Erinnerung als kleine, frische Gestalt von wachem, anschmiegsamem Wesen und einer gewissen vertrauensseligen Offenheit, die zu erwidern man gern bereit war.

      Schon drei Tage nach der Einladung holte Gertrud die junge Frau im Hauptbahnhof ab und fuhr mit ihr nach Hause. Ihr erster Eindruck war zwiespältig, aber sie bemühte sich, kein Urteil zu fällen, bevor sie ihr ruhig gegenübersitzen würde. Nach dem Sturm des Wiedersehens während der Heimfahrt ließ sie Susi für eine Viertelstunde allein und erwartete sie dann in der Wohnstube zum Tee. Sie hatte sich eben überzeugt, daß die Kleinen noch schliefen, und die Tür zum Kinderzimmer sorgfältig geschlossen, als Susi eintrat.

      Gertrud bemerkte zuerst, daß sie das Kleid gewechselt hatte, aber in diesem formlosen grünen Umhang noch ebenso unvorteilhaft aussah wie im Reisekleid. Sie war dicker geworden und schien infolgedessen noch kleiner als sonst, auch ihr früher etwas spitzmausiges Gesicht war voller und unbestimmter, doch in ihren Bewegungen und in den fröhlich zudringlichen Augen äußerte sich ihr Wesen noch auf die alte lebhafte Art.

      Mit einem freudig aufleuchtenden Lächeln trat sie rasch herein, ergriff mit beiden Händen Gertruds linken Oberarm, schmiegte sich an und begann sogleich im Ton eines erregten kleinen Mädchens hemmungslos zu plaudern. «Ach Trudi, ich kann dir gar nicht sagen, wie mich das freut, daß wir uns endlich, endlich wiedersehen. Ich habe ja entsetzlich viel an dich gedacht und wäre schon lange gern gekommen, wenn du nur ein Zeichen getan hättest. Aber ich mußte ja denken, du habest mich ganz vergessen, und ich getraute mir nicht, dich zu uns einzuladen; wir hatten ja zuerst auch nur ein paar Zimmer. Aber jetzt sind wir umgezogen, du, es ist eine ganz entzückende Wohnung und wir können sehr gut ein Gastzimmer einrichten, du mußt unbedingt diesen Sommer noch kommen …»

      «Wollen wir nicht zuerst Tee trinken?» fragte Gertrud lächelnd, legte den Arm um ihre Mitte und führte sie zum kleinen Tisch.

      Susi folgte kichernd, drehte sich aber plötzlich wieder der Freundin zu und sagte verzweifelt: «Weißt du, ich habe furchtbar zugenommen, es ist entsetzlich, ich weiß gar nicht was machen. Nach dem Heiri ging es noch, aber nach dem Hansli bin ich einfach immer dicker geworden, da und da und da, ach überall, du siehst es ja …» Sie zupfte mit trübseliger Miene über all den betreffenden Körperstellen so drollig an ihrem Kleid, daß Gertrud laut auflachen mußte.

      «Ach ja, du lachst mich nun auch noch aus», sagte sie traurig, fuhr aber Gertrud plötzlich scherzhaft heftig an: «Was machst denn auch du? Dir sieht man ja gar nichts an, du bist immer noch …»

      «Ho je, Susi, das meinst du nur! Aber komm jetzt, wir wollen uns doch setzen … so … wieviel Zucker nimmst du? Zwei, gern. Nein, nein, ich bin auch schwerer geworden. Aber ich habe immer etwas Sport getrieben, weißt du. Übrigens … was hat das zu bedeuten! Etwas schwerer oder leichter … darauf kommt es doch nicht an.»

      «Ja, du hast gut reden, aber wenn du so wärest wie ich … die Männer sehen ja so darauf, es ist abscheulich. Meiner behauptet zwar immer, ich sei gar nicht dick, aber ich merke doch ganz genau … ach Gott, Trudi, ich habe dir ja noch so viel zu sagen … und auf deinen bin ich furchtbar gespannt, ich kenne ihn ja noch gar nicht. Er ist Oberstleutnant, gelt? Ich habe eigentlich ein wenig Angst vor ihm. Meiner ist ja nur Angestellter, aber er verdient doch schön, und weißt du, er kann halt lieb sein, wenn er will, ja jeh! Aber es ist nicht mehr wie am Anfang … die Leidenschaft verfliegt bei den Männern. Wenn er abends ausgegangen ist und dann so heimkommt, und ich bin noch wach und hab’ ihn erwartet, und er dann … weißt du … hast du das mit deinem nicht auch schon erlebt, daß er dann …» Sie fiel jetzt in einen gedämpften, hastigen Ton, beugte sich vor und schaute vertraulich lauernd zu ihrer Freundin auf.

      Gertrud blickte ernüchtert ins Leere und wußte schon jetzt, daß sie niemals imstande sein würde, sich Susi anzuvertrauen. «Und ich habe sie für eine ganze Woche eingeladen!» dachte sie bestürzt. «Wie werde ich das gute Geschöpf wieder los?»

      Im weiteren Verlauf des Nachmittags stellte sie sich auf eine bestimmte, etwas gönnerhafte Haltung ein, die ihr erlaubte, Anteilnahme an Susis Geständnissen zu verraten, ohne sich zu vergeben oder sie gar erwidern zu müssen.

      Abends, als sie im Begriffe war, Susi ihrem Manne vorzustellen, ertappte sie sich auf einer Regung, die sie sogleich entschlossen bekämpfte: Sie schämte sich dieser Freundin. Sie sah voraus, daß Hartmann das schlampige, schwatzhafte Weibchen kühl verachten, aber ihm dennoch zuvorkommend und freundlich begegnen werde. «Er soll sie nicht verachten, er hat kein Recht dazu, es ist lauter Dünkel und Überheblichkeit», dachte sie und behandelte dann Susi bei Tische mit Absicht besonders freundschaftlich; aber zugleich wunderte und ärgerte sie sich, wie affektiert sich dies einst so natürliche Wesen vor Hartmanns Augen benahm. Nach dem Essen fing sie einen kurzen, ironischen Seitenblick ihres Mannes auf, den sie genau verstand. «Ach was, es geht dich gar nichts an!» dachte sie trotzend und fuhr in der Folge fort, Susi gegen ihr eigenes Gefühl mit aller Herzlichkeit zu behandeln.

      Indessen trat ein häusliches Ereignis ein, das ihr sonst wenig zu schaffen machte, unter den Umständen aber, mit denen es zusammentraf, ihre Geduld auf die letzte Probe stellte. Herr und Frau Frey von Wurzach, Verwandte ihres Mannes, die ein Gut auf dem Lande bewohnten, meldeten sich zu einem kurzen Aufenthalt im Hartmannschen Hause an und wollten noch rechtzeitig zum Abendessen eintreffen. Gertrud mußte sie notgedrungen bei der Schwiegermama im oberen Stock unterbringen, aber sie kannte die damit verbundenen Schwierigkeiten zu gut, um vor der Heimkehr ihres Mannes auch nur einen Finger zu rühren. Fast gleichzeitig empfing sie die Einladung «zu einer kleinen musikalischen Soiree» auf diesen Abend bei Professor Junod. Ihr erster und einziger Gedanke dabei war, daß sie dort mit Albin Pfister zusammentreffen werde. Sie begann sogleich aufgeregt zu überlegen, ob sie der Einladung folgen solle oder nicht, sah aber voraus, daß diese Überlegung zu keinem vernünftigen Schlusse führen konnte, und stellte in nervöser Hilflosigkeit alles auf die Laune des letzten Augenblicks ab.

      Hartmann, der seine Verwandten schon in der Stadt getroffen hatte, kam kurz vor dem Nachtessen mit ihnen angefahren. Gertrud führte die Gäste vorläufig ins Wohnzimmer und nahm sogleich ihren Mann beiseite. «Es ist dann noch nichts bereit!» sagte sie ziemlich heftig, als ob Hartmann daran schuld wäre. «Ich kann Susi nicht hinauswerfen, nicht wahr, und mit Mama kannst du meinetwegen selber reden.»

      «Aber ich bitte dich! Willy sagte mir doch, daß er sich bei dir angemeldet hat.»

      «Ach, ich mag nicht mit Mama streiten … und überhaupt, ich hab’ mich schon genug geärgert.»

      «Schön, dann werden wir beide zusammen nach dem Essen die Sache bei Mama in Ordnung bringen!» erwiderte er mit unbewegter Miene in einem kalt abschließenden Ton und wandte sich ab.

      «Nein, nein, jetzt, jetzt muß sie in Ordnung gebracht werden! Nach dem Essen kannst du bei Mama nichts anfangen, sie läßt dich gar nicht herein … und nachher hab’ ich auch keine Zeit mehr …»

      «Wieso keine Zeit mehr?»

      «Weil ich ausgehe.»

      «Hm, erlaubst du … das ist kein sehr geeigneter Abend, um auszugehen … das verschiebst du doch besser!»

      «Ich kann es nicht verschieben, es handelt sich nicht um mich allein …»

      «Aha, Musik also? Hm!» Er blickte sie von der Seite her verächtlich forschend an.

      Sie kehrte ihm mit einer entschiedenen Wendung schweigend den Rücken zu und lief weg. Einen Augenblick vorher hätte sie noch nicht zu sagen vermocht, wie sie den heutigen Abend verbringen werde; sie hatte ohne jede Überlegung geantwortet.

      Hartmann schaute ihr einen Augenblick finster nach, wobei seine rotbraunen Kinnbacken über dem Uniformkragen in eine leise mahlende Bewegung gerieten, dann ging er rasch entschlossen zu Mama hinauf.

      Die