Schweizerspiegel. Meinrad Inglin

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Название Schweizerspiegel
Автор произведения Meinrad Inglin
Жанр Языкознание
Серия Meinrad Inglin: Gesammelte Werke in zehn Banden. Neuausgabe
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783857919954



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«Aber das gehört nicht hieher, leider!» Auf dem hellgrauen Kartondeckel stand schwarz gedruckt: Albin Pfister, Sonette.

      «Für mich gehört es hieher!» erwiderte sie, nahm ihm das Buch weg und schob es wieder hinein. «Kennen Sie das hier?» fragte sie rasch und hielt ihm einen andern Band vor Augen. «Diese Gedichte hab’ ich furchtbar gern …»

      Sie standen neben einander zwischen den geöffneten Glastüren, unterhielten sich über die Bücher und fanden immer wieder etwas, das sie beide als bedeutsam oder besonders schön empfunden hatten. Ihre Gesichter waren gerötet vor Wärme und Lebhaftigkeit und ihre Augen strahlten dasselbe freudige Verständnis aus. Albin begann mit wachsendem Eifer davon zu sprechen, welche Haltung dieser neuen Dichtung zugrunde liege, worin ihr Neues bestehe, warum man sie nicht mit den literarischen Erscheinungen der Dekadenz verwechseln dürfe, und wie sie im Begriff sei, den Naturalismus zu überwinden.

      An alle diese Erörterungen erinnerte sich Gertrud später nicht mehr, ihr prägte sich nur ein, wie Albin aus sich heraustrat, wie eine klar bestimmte männliche Begeisterung aus seinen ehrlichen Augen leuchtete, wie sein ganzes bescheidenes Wesen etwas kräftig Überzeugendes annahm, und wie sie selber dabei die merkwürdige, durchaus körperliche Empfindung hatte, den Boden des Salons unter ihren Füßen zu verlieren, wie sie sich dann plötzlich gegen diesen Mann zu wehren begann und dem Gespräch ein unerwartetes, kühles Ende bereitete, das sie lange nachher noch beschämend und unverständlich fand. Auch Albin wußte später kaum mehr, was er alles gesagt hatte. Er sah in der Erinnerung an diese Stunde nur Gertruds kräftig schlanke Gestalt, wie sie gleich groß, frei und grad zu seiner Rechten stand, wie sie sich auf ein Knie niederließ, um ein Buch vom untersten Brett zu nehmen, und mühelos neben ihm wieder auffuhr, wie sie zurücktretend sich schief herabbückte, um einen Titel zu lesen, und dabei auf eine ganz besondere Art den Nacken bog, er sah ihren leicht über eine Buchseite gebeugten Kopf und das locker den Scheitel überfließende Haar, er sah ihr nahes, lebhaft glühendes Gesicht und immer wieder die Vertrauen und Liebe erweckenden Augen, die erst am Ende erschrocken zu wissen schienen, was über alle Worte hinaus zwischen ihnen vorging.

      Als sie in das Wohnzimmer zurückkehrten, lehnte Hartmann am Flügel, die Rechte mit einer flüchtig gefalteten Zeitung neben sich auf die Kante gestützt, im straffen Gesicht einen Ausdruck verhaltenen Zornes, den Gertrud genau kannte. Er stand vor seinem ungleichen Schwager Paul, der mit ernster Miene sehr bequem in einem ledernen Klubstuhl saß, warf den Eintretenden einen kurzen Blick zu und beantwortete dann irgendeine Frage; mit der Begrüßung Albins übereilte er sich nicht. Gertrud bezog seinen Ausdruck, ja seine bloße Gegenwart zuerst unwillkürlich auf sich und Albin, erkannte aber an der Art seines Blickes sogleich, daß ihn etwas anderes beschäftigte.

      Paul begann seine Schwester spöttisch zu mustern, während Albin und der Hausherr mit einem knappen Händedruck sich höflich begrüßten.

      «Was ist los?» fragte Gertrud mit gemachtem Erstaunen.

      «In Österreich ist ein Ehepaar erschossen worden», antwortete Paul achselzuckend. «Zufällig waren es kaiserliche Hoheiten.»

      Hartmann streifte Paul mit einem verächtlichen Blick und gab seiner Frau mit einem Hinweis auf die Nachricht das Zeitungsblatt.

      «Mein Gott, das ist ja furchtbar!» sagte Gertrud leise. «Der Thronfolger …»

      «Ein Zufall wäre noch viel abscheulicher», sagte Hartmann mit schrägem Blick auf Paul. «Wenn man sich vorstellt, daß irgendein Schuft zufällig einen Erzherzog erschießt … unerträglich ist nur das eigentlich Sinnlose … aber hier handelt es sich um ein politisches Attentat, das ist klar!»

      «Furchtbar!» wiederholte Gertrud, während sie das Blatt an Albin weitergab. «Ein neunzehnjähriger Lyzeumsschüler … wie kommt der dazu …»

      «Steht in der Meldung», antwortete Hartmann. «Unter dem Einfluß der oppositionellen bosnischen Politik. Es beruht dort alles auf gewissen nationalen Gegensätzen …»

      «Sarajevo, ist das …?»

      «Die Hauptstadt von Bosnien. In der Meldung eines andern Blattes werden bereits die Serben verdächtigt …»

      Paul erhob sich gemächlich und trat zu Albin. «So … wollen wir …?»

      Albin nickte und begann Abschied zu nehmen.

      «Also wie steht’s mit dem Quartett?» fragte Gertrud, während sie die beiden in den Garten hinab begleitete. «Wollt ihr hieher kommen, oder …?»

      «Ach, ich weiß nicht … Junod hat etwas gemunkelt, daß wir bei ihm spielen sollen», antwortete Paul. «Das wird ja natürlich furchtbar kompliziert, aber … wir wollen vorläufig lieber nichts verabreden …»

      «Hat’s jetzt nicht gedonnert?» fragte Gertrud und hielt auf dem Gartenweg an.

      «Wo? Es ist ja eine ganz klare Nacht! Irgendein Auto oder ein Tramwagen …»

      «Ja wahrhaftig … man sieht die Sterne … man ist wie geblendet, wenn man aus dem Licht kommt … ja, gut’ Nacht, Paul, ich lasse Papa und Mama grüßen … gut’ Nacht, Herr Pfister!»

      Albin, der seit der Begrüßung Hartmanns kein Wort mehr gesprochen hatte, erkannte in der Dämmerung ihre Hand nicht und zögerte eine Sekunde, dann wünschte er etwas undeutlich gute Nacht und folgte eilig seinem Freunde.

      Gertrud blieb zwischen den jungen Blautannen, die den Weg säumten, mit gespannter Miene einen Augenblick stehen, dann kehrte sie rasch in die Wohnstube zurück. Ihren Mann hörte sie in seinem Arbeitszimmer auf und ab gehen. Leise trat sie in die verdunkelte Kinderstube, wo sie ihr Lager eingerichtet hatte. Es war bald halb zwölf Uhr, die Kinder, die gegen zehn Uhr wach gewesen waren, schliefen ruhig. Mit derselben gespannten Miene wie im Garten, nur um einen Zug gequälter, blieb sie vor dem Bette stehen, tat ein paar ziellose Schritte und blieb wiederum stehen, raffte aber endlich, als ob alles Nachdenken ja doch zu keinem vernünftigen Schlusse führen könnte, ein paar Gegenstände auf dem Toilettentisch zusammen und begab sich damit in das gemeinsame Schlafzimmer.

      Eine Viertelstunde darauf trat Hartmann ein und begann nach einem kurzen, forschenden Blick auf seine Frau sogleich die Uniformbluse aufzuknöpfen. «Es ist schwer, mit deinem Bruder ein vernünftiges Gespräch zu führen», sagte er so ruhig und selbstverständlich, als ob er nicht wochenlang allein in diesem Zimmer geschlafen hätte. «Er hat mir gegenüber so eine Art von Ressentiment … ich weiß nie, was hinter seinen Worten steckt … und dieser Mord ist doch wirklich kein Anlaß zu Journalistenwitzen.»

      «Ja … er ist oft merkwürdig», antwortete sie, ohne genau zu erfassen, was in Frage stand. Mit einer Hand hielt sie noch immer den Saum des Linnens, das sie bei seinem Eintritt bis unter das Kinn hinaufgezogen hatte. Sie vermied seinen Blick, schaute zur Decke empor, von einem tiefen, dunklen Ernst erfüllt, und erkannte nur an seiner unverfänglichen Bemerkung und am Ton seiner Stimme, wie sehr er bemüht war, ihr jede Verlegenheit zu ersparen. Dankbar ging sie darauf ein.

      Es wurde eine der unruhigsten und verworrensten Nächte, die sie seit langem erlebt hatte. Sie fand keinen rechten Schlaf, mußte zweimal hinaus, um die Kinder zu beruhigen, und wurde im Halbschlummer von Träumen geplagt, die sie nach dem Aufwachen noch ängstigten. Ihre Unterhaltung mit Albin vor dem Bücherschrank und das Ereignis in Sarajevo vermischten sich darin auf die unsinnigste Art, aber mit einer so heillosen Entschiedenheit, daß sie künftig das Wort Sarajevo nie mehr hören konnte, ohne an Albin zu denken. Schon beim ersten Versuch, einen Fetzen dieser Traumfolge festzuhalten, erschrak sie, weil der Mörder durchaus nicht der junge Lyzeumsschüler war, sondern Albin Pfister, der lächelnd mit einem Ordonnanzrevolver auf sie zielte und gleich darauf den Erzherzog erschoß. Der Erschossene wurde eilig weggetragen, war aber nicht mehr der Erzherzog, sondern irgendein Mann in Uniform.

      Am Morgen, nachdem Hartmann weggefahren war, stand sie in den Unterkleidern mit offenem Haar und übernächtigen Augen trostlos vor dem Spiegel und kam sich so elend und verwüstet vor wie nie in ihrem Leben.

      4

      Die Beschäftigung mit den Kindern und die übrigen Pflichten des Tages verhalfen Gertrud immer wieder zu