Blindgänger. Ursula Hasler

Читать онлайн.
Название Blindgänger
Автор произведения Ursula Hasler
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783038550600



Скачать книгу

dar. Er sei frei für andere Wahrheiten. Übrigens, was das Gedächtnis als Erinnerung darstelle, wenn wir etwas Vergangenes erzählen, habe weder mit realen Erlebnissen noch mit Wahrheit etwas zu tun. Es präsentiere eine Version, die zum aktuellen Zeitpunkt ge­­rade die passendste sei. Erinnerungen sind immer Fiktionen, die wir laufend anpassen und neu erzählen. Sie haben ein neues Ich, aber keine Vergangenheit dazu? Dann erfinden Sie sie.

      Aha, ich würde also nicht beabsichtigen, die Gedächtnisblockade mit Gedächtnistraining zu therapieren. Ich wolle seine Blockade oder vielmehr ihn überlisten, via Hintertür des Wunschdenkens und Neuerfindens die tatsächlichen Erinnerungen zu provozieren. Ja, das Spiel gefalle ihm, obwohl er selbst der Proband sei. Er nickte, einverstanden.

      Zwei Tage später bat er einen Pfleger, mich rufen zu lassen, es hätten sich neue Erkenntnisse ergeben, über die er mit mir vor unserer nächsten Sitzung sprechen müsse, es sei fraglich, ob er dann wie ausgemacht die ersten Überarbeitungen der Royantexte mitbringen könne. Als ich ins Zimmer trat, lag Marty auf dem Bett, ein feuchtes Tuch auf der Stirn, die Balkontüren weit geöffnet.

      Nie zuvor hätten ihn solch stechende Kopfschmerzen angegriffen, jetzt verlangsame sich das Hämmern zum Glück, und zwar mitten im Gespräch mit der liebenswürdigen alten Dame, der Mutter von Jean-Pierre Marty, die nicht seine biologische Mutter sei, was er bereits wusste. Der Tatsache, dass sein Alter Ego, so nenne er den Andern jetzt, adoptiert war, habe er bisher nicht so viel Wichtigkeit beigemessen, bloß ein interessantes biografisches Detail. Er habe die Bedeutung gewaltig un­terschätzt, ein Lebensdrama war damit verbunden. Die Mutter sei bereits einmal im Spital vorbeigekommen und habe ihre Tränen nicht zurückhalten können. Erst jetzt, nach diesem Besuch, verstehe er ihren mysteriösen Satz, sie habe ihn ein zweites Mal verloren.

      Ich setzte mich in den Lehnstuhl, womit wir uns, ohne es zu beabsichtigen, in klassischer Therapieaufstellung wiederfanden, mit dem kleinen Unterschied allerdings, dass ich nicht am Kopfende, sondern zu seinen Füßen saß. Aber Marty war in jeglicher Hinsicht mein Sonderfall. Erzählen Sie bitte.

      Auch mit ihr sei er im Park spazieren gegangen, die alte Dame war nicht mehr so gut zu Fuß, sie gehe leicht gebückt, klein, aber mit Haltung halte sie das Alter im Griff, elegante Kleidung, bestimmt vor Jahren maßgeschneidert, trägt sie mit zeitloser Würde, er sei der liebenswürdigen Dame sehr zugetan. Dann habe er sie nach jenem Ostermittagessen bei ihr gefragt. Sie war nach seiner Frage direkt auf die nächste Bank zugesteuert, es erzähle sich besser im Sitzen. Sie habe seine Hand genommen, sie trug feine weiße Stickereihandschuhe.

      Du kennst die Fakten, begann sie, du hast von der Adoption erst als Dreißigjähriger durch einen unglücklichen Zufall erfahren, dein Bruder hatte damals einen schweren Unfall, und es ging um eine Blutspende, die Blutanalyse ergab, dass ihr beide nicht verwandt sein konntet. Natürlich sei es dumm von ihnen gewesen, ihm das nicht früher zu sagen, aber der Zeitpunkt sei eben nie der richtige bei unangenehmen Sachen. In blinder Kränkung habe er jahrelang nicht mehr mit ihnen gesprochen.

      Die Stimme der alten Dame zitterte kaum merklich. Er habe ihnen den Verrat, so nannte er ihr Verschweigen der Adoption, nicht verzeihen können. Erst als seine Tochter auf der Welt war, habe er seine sture Haltung gelockert. Sie und Vater hätten sehr unter der Zurückweisung gelitten. Du, der aufgeklärte, rationale Intellektuelle, bist durch die Entdeckung, dass zwischen dir und uns keine Blutsbande bestanden, in eine existenziel­le Krise gestürzt. Was haben wir uns nicht alles anhören müssen. Die Familie eine einzige große Lüge, keine verwandtschaftliche Beziehung, keine Großeltern und Urgroßeltern, hinter dem Zeitpunkt der Geburt weiße Leere. Ja, du hast deinen Weltschmerz kultiviert. Sie habe seine Selbstbemitleidungen irgendwann nicht mehr hören können.

      Marty schob das Stirntuch beiseite, setzte sich auf und blieb gebückt am Bettrand sitzen, den Kopf in die Hände gestützt. Die Mutter habe an jenem Ostersonntag ihm und seiner Familie erstmals alle Einzelheiten seiner Adoption erzählt, ausgelöst durch Nadine, die für eine Geschichtsarbeit ihren Familienstammbaum recherchie­ren sollte. Er dürfe auf keinen Fall vergessen, das Mädchen beim nächsten Besuch nach dieser Arbeit zu fragen. Mutters Erzählung, er habe alles stichwortartig aufgeschrieben, hier, er reichte mir sein Notizheft.

      Ich winkte wiederum ab, er möge es mir bitte vorle­sen.

      Hochzeit der Eltern 1939, kurz danach Generalmobilmachung, Geburt des Bruders Daniel 1942, mit Komplikationen, keine weiteren Kinder möglich. Vater im Grenzdienst, bei Waldarbeiten verwundet, wurde 1944 entlassen. Leiter der freiburgischen Kantonalbankfiliale in Murten, ehrenamtlicher Treuhänder verschiedener Heime im Kanton, Familie nahm mehrmals Flüchtlingskinder auf, zeitlich befristet, Kinder mussten zurück. Mutter litt, wollte noch ein Kind adoptieren.

      Marty blickte auf. In einem Nonnenkloster mit Kinderheim, Frankreich war nicht weit weg, habe es einige Flüchtlingskinder gegeben, die illegal über die jurassische Grenze gebracht und so gerettet wurden. Es waren vor allem Kriegswaisen oder Kinder, die in den Flüchtlingsströmen ihre Eltern verloren hatten, davon gab es Hunderte, sie waren beim Roten Kreuz gemeldet. Aber auch Kinder, die man bei der Kirche versteckte, weil ihre Eltern deportiert wurden. Vichy-Frankreich sei in der Judenverfolgung ja übereifrig gewesen. Die Schwestern brachten die Kinder bei ihren Ordensgemeinschaften in der Schweiz unter, mit dem stillschweigenden Einverständnis der Schweizer Grenzwache. Beim Grenzübertritt schauten die vermutlich konzentriert durch ihre Feldstecher oder auf die andere Seite.

      31. Juli 1945, Vater brachte aus dem Heim einen kranken Säugling, Vollwaise, zur Pflege in die Familie, keine Geburtspapiere, der Säugling sehr klein und das Alter schwierig zu bestimmen, Arzt schätzte etwa vier Monate, also wurde der 31. März 1945 als Geburtstag in die Adoptionspapiere eingetragen.

      Der «Andere» sei an Ostern völlig in Rage gekommen, weil auch der Geburtstag ein beliebiges Datum war, sein ganzes Leben eine einzige Erfindung, seine Identität eine reine Fiktion. Wie immer übertrieben und Mutter sehr gekränkt. Der Kleine wurde Jean-Pierre genannt, die französische Version von Hanspeter, Vorname seines Adoptivvaters. Der Säugling war lange kränklich, hatte vermutlich Traumatisches erlebt, lange blieben sie im Ungewissen, ob er durchkommen würde. Für Mutter war sein Überleben ein Sieg über den Krieg.

      Das Wichtigste komme jetzt, Marty vergewisserte sich, dass ich zuhörte. Offizielle Bescheinigung des französischen Staates, dass Eltern unbekannt, Findelkind, leibliche Eltern vermutlich in den Befreiungskämpfen an der Westküste Frankreichs umgekommen, Kriegswaise, somit adoptierbar. Nonnen verweigerten weitere Auskünfte. Adoptivvater fand dank Beziehungen später her­aus, dass das Kind aus dem Département Charente gekommen sein müsse, Gegend zwischen La Rochelle und Girondemündung, dort heftige Befreiungskämpfe und Bombardierungen Anfang 1945, die Deutschen in Atlantikfestungen verschanzt. Säugling war vermutlich Waisenkind nach Bombardierung.

      Ihm sei nun klar, welche Recherchen der Andere mit seinem Weiterbildungsurlaub verbunden habe. Ein verrückter Kerl, seine Familie aufspüren zu wollen, ohne verlässliche Hinweise, nicht einmal seinen Familiennamen kannte er. Bloß ein Monogramm, GQ, falls die Mutter die gestickten Buchstaben auf dem Tuch richtig gelesen hatte, das einzige materielle Indiz für die Herkunft. Der Säugling war den Schwestern in einen Kissenbezug und ein Stück Wolldecke eingewickelt übergeben worden. Sagten sie jedenfalls. Mutter hütete das Stoffstück wie eine Reliquie und hatte es dem Andern vor einem Monat, kurz vor dem Unfall, geschickt.

      Und jetzt, erregt stand Marty auf und begann im Zimmer auf und ab zu marschieren, während ich versuchte, durch Sitzenbleiben einen Kontrapunkt zur Unruhe zu bilden. Es bestehe kein Zweifel, er stehe am selben Punkt. Eine Vergangenheit zu finden, zu der alle Verbindungen gekappt waren. Aber diesmal mit miserablen Karten. Mit dem Gedächtnisverlust werde die große Lebensproblematik der unbekannten Vergangenheit quasi wiederholt, nein, auf die äußerste Spitze getrieben. Marty rieb sich die rechte Schläfe, die stech­enden Kopfschmerzen hatten schlagartig wieder ein­gesetzt. Er blieb an der geöffneten Balkontür stehen, holte tief Luft. Er, der Mann ohne Vergangenheit, müsse die Erinnerungen eines Mannes finden, der selber auf der Suche nach seiner Vergangenheit war. Wer blicke da noch durch. Was, wenn der Andere vor dem Unfall nichts über seine Herkunft herausbekommen hatte? Dann suche er jetzt die Identität von einem, der nicht wusste, wer er war. Er frage sich, ob er die Erinnerungen des Andern, falls sie