Blindgänger. Ursula Hasler

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Название Blindgänger
Автор произведения Ursula Hasler
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783038550600



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ihn jedoch zutiefst.

      Bis er hier in der Klinik eines Morgens von einer neuen Pflegerin geweckt worden sei, einer Wochenendvertretung, er hatte sie noch nie zuvor bemerkt. War es die Leichtigkeit ihrer Schritte, die Anmut ihrer Armbewegung, als sie die Vorhänge aufzog, das Maliziöse in ihren Augen oder ihr reizendes Lächeln? Jedenfalls strahlte die Frau, als Person interessierte sie ihn keineswegs, eine Erotik aus, auf die sein Körper in Sekundenschnelle reagierte. Völlig überrumpelt von dieser unbekannten, aber lange erwarteten Empfindung habe er instinktiv die Decke hochgezogen, ihr ziemlich betreten einen guten Morgen gewünscht. Alles in Ordnung, alles bestens.

      Aber seine Reglosigkeit jetzt bei der Frau, die seit zwanzig Jahren seine Ehefrau war, bedeutete wohl, dass in der Ehe zwischen den beiden nicht alles in Ordnung war. Dass in dieser Hinsicht nicht mehr viel los war. War es denkbar, eine Ehe ohne jegliche sinnliche Anziehung weiterzuführen? Vielleicht reichten ja im Normalfall langjährige Zuneigung und die Erinnerung an vergangene Leidenschaft. Nur fehlte ihm beides. Also war es schwer denkbar.

      Die mittägliche Leere im Park zwang die beiden einzigen Spaziergänger zusammen, gerne wäre er jetzt durch Entgegenkommende abgelenkt worden, wäre mit einem Lächeln ausgewichen. Er dankte seiner Begleiterin höflich, was eher einer Fremden gegenüber angebracht war, dass sie sich den Nachmittag freigenommen und so schnell gekommen war. Er hoffe auf ihre Hilfe, viele der tagebuchartigen Aufzeichnungen von Marty auf dem Laptop seien für ihn unverständlich, beruhe auf Wissen, das er nicht habe.

      Sie hielt den Blick konzentriert auf den Weg gerichtet, hob die Schultern, er solle fragen.

      Weshalb ihr Mann diesen Weiterbildungsurlaub gemacht habe und warum gerade in Royan?

      Schon die erste Frage könne sie nicht beantworten. Ihre Stimme klang leicht bitter. Das Sabbatical nach über zwanzigjähriger Lehrtätigkeit war dein Recht und die Chance auf eine Auszeit. Das Unterrichten befriedigte dich seit einiger Zeit nicht mehr. Dann war irgendein Vorfall in der Schule, darüber wolltest du aber nie sprechen. Wie immer. Ziemlich sicher hast du auch eine ­an­dere Auszeit gesucht, Eheferien, Abstand von mir. Je­denfalls hast du mir nie angeboten mitzukommen, wenigstens für einen Teil der Zeit.

      Es habe ihn ziemlich irritiert, so direkt angesprochen und mit unterschwelligen Vorwürfen konfrontiert zu werden, die den Andern betrafen. Der Abstand zwischen ihnen vergrößerte sich merklich. Er hakte nach. Und da­r­über habe es zwischen ihnen keine Diskussion gegeben?

      Sie zögerte, offensichtlich auf der Hut, sie wusste ja nicht, ob er davon in den Aufzeichnungen gelesen hatte. Im vergangenen Herbst sei er erstmals mit der Idee ge­kommen, einen Weiterbildungsurlaub zu beantragen, habe dabei die Möglichkeit, dass sie mitkommen könnte, mit keinem Wort auch nur angedeutet. Du hast diese Option mit einer Bestimmtheit ausgeschlossen, die nicht einmal zuließ: Es wäre schön gewesen wenn. Die Kränkung brodelte wochenlang wie Gift in mir, nachher war ich zu stolz, selber den Vorschlag zu machen, ich hätte gut vier Wochen unbezahlten Urlaub nehmen und Nadine in dieser Zeit bei ihrer Freundin Lea wohnen können. Es war klar, du hast allein gehen wollen. Nadine und ich sollten im Juli nachkommen und als Abschluss wollten wir alle gemeinsam die Sommerferien dort verbringen. Ich bin gefahren, aber Nadine hat es vorgezogen, den Ur­laub mit Freunden zu verbringen. Du warst sehr aufgebracht.

      Er vermied es, sie anzublicken, bereits zum dritten Mal bogen sie nun in den Weg ein, der sich zwischen ausladenden Rhododendrenbüschen windend zur Lichtung mit der Statue führte. Es war unwichtig, welchen Weg man einschlug, irgendwann kam man in diesem Park immer an den Ausgangspunkt zurück. Was sie mit Eheauszeit gemeint habe?

      Die Frau war unzufrieden mit ihrer Ehe, er sei immer ausgewichen, seine Absicht, ohne sie zu fahren, hatte sie so gedeutet. Sie hoffte auf einen Neuanfang, das einzig Positive, das sie seinem Urlaub abgewinnen konnte. Wenn schon mehr als zwei Monate allein zu Hause mit der pubertierenden Tochter, mit Arbeit, Haus, Garten, wollte sie herausfinden, ob sie alles alleine schaffe, als Rückversicherung. Dass sie sich nicht aus Angst vor dem Alleinsein an eine Beziehung klammerte, die es nicht mehr wert war. Sie rechnete sehr wohl mit der Möglichkeit, dass die mehr als zehnwöchige Trennung ihre Beziehung nicht wiederbeleben, sondern die Entfremdung besiegeln könnte.

      So war das also, er habe endlich begriffen, warum seine Amnesie mehr Ratlosigkeit als Verzweiflung bei der Frau auslöste. War es möglich, dass sie sich bereits getrennt hatten, dass da andere Beziehungen waren, sie, oder er? Was, wenn der Andere eine Affäre hatte, die jetzt irgendwo verzweifelt auf Nachricht wartete? Es ließe sich manch hübsches Melodrama zusammenfantasieren. Aber kann eine Beziehung weitergeführt werden, wenn der eine die Geschichte der Beziehung kennt, der andere nicht? All die Paare, die nur noch von der Geschichte ihrer Liebe leben. Was bleibt nach zwanzig Jahren Ehe, wenn die Erinnerung weg ist und nicht wieder kommt? Nur ein Neuanfang, aber dazu müsste er sich neu in die Frau verlieben. Er war weit weg davon.

      Und, wie kam es heraus? Er habe sie direkt gefragt.

      Darüber wolle sie nicht sprechen, das finde er bestimmt in aller Ausführlichkeit in seinen eigenen Aufzeichnungen. Sie beschleunigte ihre Schritte, sodass sich der Abstand zwischen ihnen wieder vergrößerte. Der Kiesweg bog um die Büsche und endete vor dem Herrn Kurhoteldirektor. Sie blieb stehen, die Gründerfigur des ehemaligen Kurhotels in Überlebensgröße mit steinernem Gehrock, Stock und Hut in der Hand, ein patriarchalisches Lächeln unter dem majestätischen Bart, mit festem Blick in die erfolgreiche Zukunft. Nase, Stirn und Haar weiß gefleckt, jahrzehntealter Taubendreck, dem auch der Regen nichts mehr anzuhaben vermochte. Der Herr Kurhoteldirektor trug es mit Würde. Kam ohnehin selten einer bis in die hinterste Parkecke. Sie drehten um, nur ein Weg führte weiter, im großen Bogen zurück. Die Baumwipfel rauschten, unten zwischen den Büschen war es angenehm windstill, auch heute keine Fernsicht, in großer Höhe zogen dunkle Wolken über den weißen Himmel.

      Marty blickte mich leicht verunsichert an, die Notizheftrolle mit beiden Händen umklammert. Sie habe gezögert, ihren Mann zu beschreiben, auf der Hut, in ihren Augen habe er Zweifel an seinem Gedächtnisverlust gelesen. Es scheine viel Misstrauen zwischen ihr und dem Mann gegeben zu haben. Ihm sei klar geworden, dass sie ihm genau das erzählen würde, was er denken solle. Jetzt hatte sie die Gelegenheit, ihrer beider Ehevergangenheit ganz nach ihren Absichten und ohne Protestmöglichkeit seinerseits zu beschreiben. Beim Sprechen habe sie Augenkontakt vermieden. Er habe in ihrer Stimme viel enttäuschte Erwartungen gehört, wenn auch das, was sie über ihren Mann sagte, eher nach Nichts-Schlechtes-über-einen-Toten-sagen als nach ehrlicher Meinung klang.

      Sie sei sichtlich verunsichert gewesen, ob sie im Präsens oder in der Vergangenheitsform über ihn reden sollte. Ja, was kann ich dazu sagen, du entzogst, also du entziehst dich erfolgreich allen nachbarschaftlichen An­näherungen und den damit verbundenen Verpflichtungen, die sozialen Kontakte pflege vor allem ich. Auch um die Erziehung der Tochter kümmere ich mich in erster Linie, du bist zwar körperlich anwesend, geistig aber meist anderswo. Eigentlich genau wie jetzt, fügte sie bitter an. Irgendwann habe sie aufgehört zu fragen, was er eigentlich ständig lese und schreibe. Er sei eher nicht so entscheidungsfreudig, um nicht zu sagen konfliktscheu. Geschätzt im Lehrerkollegium, sie habe den Eindruck auch von den Schülern, und äußerst charmant, wenn ihm danach sei. Er könne brillante Diskussionen führen, um ein Gegenüber zu beeindrucken, bei dem es sich lohne, aber auch scharf und sarkastisch sein, wenn ihn ­jemand nerve. Nein, ein Langweiler bist du nicht.

      Sie schwieg, ergänzte dann, dass er nach der Zeit in Royan stark verändert gewesen sei, sehr launisch, nur noch Extreme, mal sprühend vor Zuvorkommenheit ihr gegenüber, dann plötzlich kränkend abweisend. Etwas sei in Royan vor­ge­fallen. Eine andere Frau, vielleicht. Vielleicht auch nicht, sie habe nie irgendwelche Hinweise gefunden. Mehr hatte sie nicht sagen wollen und war bei den letzten Worten seinem Blick noch hartnäckiger ausgewichen.

      Besser das Thema wechseln. Zweite Frage, ihr Mann – es war ihm einfach nicht möglich, ich zu sagen – habe in Royan einen Weiterbildungskurs für Französischlehrer besucht, weshalb habe er sich denn mit der Besatzungszeit beschäftigt?

      Sie nickte. Jeder Teilnehmer hatte ein landeskundliches Thema als persönliches Projekt zu bearbeiten. Du bist ja auch Historiker und hast deshalb als Thema die Besatzungszeit durch die Deutschen gewählt. Royan an der Atlantikküste