Blindgänger. Ursula Hasler

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Название Blindgänger
Автор произведения Ursula Hasler
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783038550600



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wiederholen. Zweifel haben ihn beim Anblick der soge­nannten französischen Betten beschlichen, je eins in je­dem Schlafzimmer und kaum breiter als eins dreißig, unvorstellbar, zu zweit darin zu schlafen.

      Wie nicht anders zu erwarten, hat er dann auch miserabel geschlafen, die müden Sprungfedern im Bettrost gaben unter seinem Gewicht nach und ließen ihn in ei­ner tiefen Kuhle liegen, jede Spirale unter der dünnen Matratze drückte wahlweise in den Rücken oder in die Rippen. Aber er verfügt ja über Auswahl. Gestern Nacht hat er das zweite Bett getestet und sich, da leicht weniger gerädert heute Morgen, in diesem Zimmer häuslich eingerichtet. Er hat bis Mitte Juli Zeit, das Bettproblem zu lösen, dann kommen Frau und Tochter.

      Mager, was er bisher unternommen hat. Heute Abend erstmals im Cybercafé, wie sich das Internetcafé hier nennt, erst vor kurzem eröffnet. Alles voll, er hat eine Ewigkeit auf einen freien Computer gewartet, dann hat er Glück angesichts der knappen Zeit, um Mitternacht schließen die das Café. Er will für die Resultate der Recherchen eigene Dateien anlegen, je eine Datei zu den vier Anhaltspunkten. Raus damit aus dem persönlichen Journal. Man weiß nie.

      Datei «Monogramm», 8. Mai 2003, unverändert übernommen

      Webseite gefunden, irgendwas mit Genealogie, mit häufigsten Familiennamen nach Departementen. Monogramm GQ, Fami­liennamen mit Q zum Glück selten, in der Charente gibt es:

      Quichaud (der häufigste von allen Q-Namen, weiterverfolgen?)

      Quatravaux

      Quemerais

      Quenton

      Queraux

      Quet

      Quintard

      Querrec (bretonische Endung, nicht verfolgen)

      Quilhac (typische Endung Namen aus Südwesten, eher nicht).

      Gestickte Monogramme auf Wäsche gehörten zur Aussteuer der Frauen, also Familie meiner Mutter? Und wenn jemand das gerettete Baby während der Flucht in eine irgendwo gefundene Kissenhülle gesteckt hatte, eine Art Schlafsack? Das Monogramm ein völliger Zufall? Damit wäre das einzige konkrete Indiz weg …

      So geht das nicht. Wenn ich bei jedem Ergebnis den Zufall ins Spiel bringe, ist das Vorhaben sinnlos und die Probabilität gleich null. Ab jetzt gilt die Devise: allfällige Funde sind Schicksal und keineswegs Zufall. Also immer mit der Variante weiterfahren, mit der es eine Chance gibt, weiteres zu finden, egal wie plausibel. Aus Sicht Logik, Rationalität, Wissenschaftlichkeit vermutlich eine absurde Strategie (wie der Mann, der seinen verlorenen Hausschlüssel unter der Straßenlaterne sucht, weil er nur dort etwas sieht). Aber die einzige, die mir bleibt. Statistisch gibt es eine errechenbare Wahrscheinlichkeit, dass der Schlüssel im Lichtschein der Laterne liegt. Also: unwahrscheinlich ist ab jetzt tabu.

      Royan, Sonntag, 11. Mai 2003

      Ein erstes komplettes Wochenende in Royan hat JP ei­nigermaßen überstanden, trotz Unvorhergesehenem, Zeit für Bilanz. Warum schreibt er all dieses Zeug eigent­lich auf? Um später, zu Hause, diese Einmaligkeit der «ersten Male» wieder nachzuvollziehen. Sie sind anfänglich intensiv und verschwinden mit der Gewöhnung in die Nichtmehrwahrnehmbarkeit. Wie dicht die Zeit ist, wenn alles ungewohnt ist. Die Erinnerung festigen mit Schreiben. Sie willentlich formen. Selber entscheiden, wie und woran er sich erinnert, er überlässt das nicht der Willkür, um nicht zu sagen der Unzuverlässigkeit des Ge­dächtnisses.

      Seit er hier in Royan ist, laufen im Kopf zwei Filme ab. Aber die Spulen rollen gegeneinander. Der eine Film nimmt das Neue auf und fließt ins Gedächtnis. Der andere bringt von dort ständig unerwünschte Szenen hoch, Ereignisse der letzten Wochen zu Hause, die hier nichts zu suchen haben. Gallige Blasen, die in Momenten, wo seine Wachsamkeit abgelenkt ist, aus der Brühe steigen und seine Stimmung vergiften. Wie könne er bloß die gut gelaunte Gesellschaft, die Ferienstimmung und herr­li­che Sommersonne am Strand genießen, während sie ne­ben dem Arbeitsstress noch Haus, Garten und die letzten Erziehungsversuche der Tochter am Hals habe. Annets spitze Bemerkungen beim gestrigen Telefonat zeigen wie immer die beabsichtigte Wirkung, sie weiß treffsicher, was sie nur anzudeuten braucht, damit die Mühle seiner Schuldgefühle sich dreht. Auch hier schafft sie es, ihn via schlechtes Gewissen fernzusteuern, eine Marionette ist er.

      Sonntagmorgen. Missmutig hockt er auf dem Küchenstuhl, ihm fehlt die Lust auf Filterkaffee, die Baguette von gestern ist ungenießbar, er zerbröselt das ausgetrocknete Stück Brot. Der Rücken fühlt sich wieder ganz steif an, er hat eine miserable Nacht hinter sich. Um vier rumpelte die städtische Müllabfuhr während mindestens einer halben Stunde, so kam es ihm vor, all die Plastikcontai­ner von den Hauseingängen zum Müllwagen und wieder zurück. Nachher lag er hellwach.

      Er leidet unter Schlaflosigkeit, seit er sich erinnern kann. Er hat viele Taktiken entwickelt: eine ziemlich erfolgreiche ist, sich nicht zu rühren, sich schlafend stellen. Heute Morgen gelang es beinahe, der Schlaf ließ sich täuschen, kam heran, ganz nahe. Zum Greifen. Dabei war­tete der nur, bis er wieder eine unüberlegte Bewegung machte. Hellwach. Wütend. Das sind die gefährlichen Mo­mente, wo die Giftblasen aufsteigen.

      Szenen der Lehrerkonferenz kurz vor seiner Abreise, Ärger und Resignation wirbeln durcheinander, aus diesem Karussell kann man nicht herausspringen. Heute fragt er sich, weshalb er nur hingegangen ist, sein Ur­laub hatte mit den Frühlingsferien begonnen, seine Teilnahme war keineswegs notwendig. Scheißpflichtgefühl. Ist ja bekannt, dass Perfektionisten ihr fehlendes Selbstwertgefühl mit Kontrolle kompensieren. Trotzdem ist er unfähig loszulassen.

      Diese provokativen jungen Kollegen mit ihrer penetranten Energie für Verbesserungen, ihrem Glauben an die Veränderbarkeit des Systems. Die Lehrerschaft ist seit Längerem in zwei Lager geteilt, die Jungen gegen die Ge­lassenen, die nicht daran denken, jede behördlich verord­nete Reform gleich umzusetzen, eine inflationäre Menge in den vergangenen Jahren, man kann sie auch aussitzen. Seine Parole. Pech ist, dass seine Schule als sogenanntes Reformgymnasium auserwählt wurde, Testgelände für Schulversuche, bevor sie kantonsweit eingeführt oder stillschweigend abgeblasen werden.

      Doch der Sarkasmus einiger ausgebrannter Kollegen stößt ihn ab. Aufpassen muss er, höllisch aufpassen, denn er befindet sich selber schon bedrohlich nahe am Hang der Abgelöschten. Er wankte in den letzten Monaten meist nur noch zwischen Lethargie und Gereiztheit. Jedes Jahr kommt unweigerlich ein August und fängt wieder ein Schuljahr an, mit neuen und immer gleichen Schülern, und nirgendwo Lebendiges in Sicht oder wenigstens ein kleines Erdbeben. Nur diese Auszeit kann dich retten. Doch auch dieses Jahr wird ein August unwei­gerlich den langen Urlaub beenden. Und das Schlimmste wäre, wenn sich nichts geändert hätte.

      Er hält es nicht mehr aus im Bett. Wie kann man sein Gehirn leeren, die Gedanken löschen, an nichts denken? Das kann keiner. Auch die heiße Dusche hilft nicht, lange hat er die Wärme über seinen Körper rieseln lassen, doch miese Laune ist wasserdicht.

      Wütend knallt er die Baguette von gestern in den Abfallkübel, die Wippe der Öffnung überschlägt sich. Er steht vor der geöffneten Kühlschranktür, auch dort eisige Leere, also nicht nur Kaffee, sondern Frühstück in einem Café.

      Als er fünf Minuten später auf dem roten Platz zwischen dem Front de Mer und dem Boulevard Aristide Briand ankommt, bemerkt er erleichtert die belebten Straßen, in der Ferne vor der Markthalle sogar dichte Menschenmengen, Sonntagmorgen ist ja alles geöffnet, das hilft ungemein. Er setzt sich in das gleiche Café, in dem er mit Gracia war. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier und sucht die vertrauten Orte. Er könnte ja regel­mäßig hier sein Frühstück einnehmen, das gäbe seinem Alltag einen Rhythmus. Er blickt sich um, ein Fensterplatz wird gerade frei, er bestellt Espresso und Croissants und packt seine Zeitung aus. Da fährt einer tausend Kilometer gegen Westen, um dem Alltagstrott zu entfliehen, und was macht er als erstes, er schafft sofort wieder eine Routine. Sie hilft gegen seine niedergedrückte Stimmung.

      Aber er mag nicht lesen, starrt auf die Schlagzeilen. Wie geht es mit Annet weiter, er fühlt sich ratloser denn je. Der Kellner stellt Café und zwei Croissants vor ihn auf das Tischchen. War der Abend vor seiner Abreise eine Versöhnung oder die Besiegelung