Blindgänger. Ursula Hasler

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Название Blindgänger
Автор произведения Ursula Hasler
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783038550600



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der Gedächtnisfunktionen durch das, was wir Bewusstsein nennen, trug mir in der Folge zahlreiche, von Kollegen in Kantonsspitälern überwiesene Amnesiefälle zu. Die im Laufe der Jahre entwickelte Spezialisierung fand ihren Niederschlag auch in meinen stark beachteten Fachartikeln zum Thema. Die Klinik Rychen­egg gilt nicht zuletzt dank meines Renommees in Fachkreisen, ich darf dies in aller Bescheidenheit anmerken, landesweit als erste Adresse für komplexe Fälle jeglicher Art von funktionellen Gedächtnisstörungen. Zum großen Bedauern der Klinikleitung leider kein lukrativer Geschäftszweig.

      Rychenegg erlebte in den vergangenen Jahren eine starke Expansion. Das Klinikmanagement hatte, gemäss Eigeneinschätzung, dank weitsichtiger Marketingstrategie auf dem boomenden Markt psychosomatischer Er­krankungen und Stresssyndrome, man denke an Burn-out, rechtzeitig in ein Image von Exzellenz ­investiert. Oder um es mit den Worten der in unserer Institution ein- und ausgehenden Consultants auszu­drü­cken: Als Privatklinik ohne öffentlichen Leis­tungs­auftrag fokussieren wir ärztliche Dienstleistungen auf psy­chische Störungen mit hoher Renditeerwartung. Die Behandlung meiner unrentablen, aber medizinisch interessanten Amnesiefälle rechtfertige ich gegenüber dem Direktor durch Querfinanzierung mit einträglicheren Therapien. Und auch diese gut zahlende Klinikgäste sind schließlich Patienten, so jedenfalls bringe ich meine idealistische Bedenken jeweils erfolgreich zum Schweigen.

      Die zweite Sitzung, an der ich mich zu meinem ziemlich ungewöhnlichen Therapievorschlag hatte hinreißen lassen, fand eine Woche später wiederum in meinem Büro und wiederum um zehn Uhr statt.

      Marty brachte ein Notizheft in der Art von Schülerheften mit. Hausaufgaben erledigt dank intensiver Gespräche mit der Frau und dem Mädchen, ob ich zuerst die Fakten oder die gesammelten Bemerkungen zur Persönlichkeit von Jean-Pierre Marty hören wolle.

      Die Fakten.

      Er blätterte kurz im Heft und schob es mir mit der betreffenden Seite geöffnet zu.

      Ob er es bitte laut lesen würde? Ich wollte auf feinste Veränderungen in Stimme und Intonation achten.

      Marty überflog seine Notizen, obwohl er sie bestimmt auswendig kannte, und räusperte sich so gründlich, dass das anfänglich verhalten kratzende Geräusch sich bald zu einem veritablen Husten auswuchs. Er las mit reichlich belegter Stimme.

      – Jean-Pierre Marty, geboren angeblich am

      31. März 1945, tatsächlicher Geburtstag und -ort

      unbekannt, franzö­sisches Kriegswaisenkind, ­adoptiert von Hanspeter und Elisabeth Marty

      – erfuhr erst als Dreißigjähriger durch Zufall, dass adoptiert

      Er blickte auf, die Frau habe ihn irgendwie lauernd beobachtet, als sie das erzählte, als habe sie einen Erin­nerungsdurchbruch erwartet, natürlich vergeblich.

      Ich bat ihn fortzufahren.

      – Kindheit in Murten, Vater Direktor der örtlichen Kantonalbank, Mutter Hausfrau, aufgewachsen mit vier Jahre älterem Stiefbruder Daniel Marty, leiblicher Sohn von Hanspeter und Elisabeth Marty

      – Vater 1993 gestorben

      – 1965–73 Studium, Romanistik und Geschichte

      an der Universität Bern, Abschluss mit Doktorat, erste Stellen als Hilfslehrer an Gymnasien in Bern und in Biel, 1980 Wahl zum Hauptlehrer für Französisch und Italienisch an der Alten Kantonsschule Aarau. Tätig dort als Gymnasiallehrer bis heute

      – Verheiratet seit 1983 mit Annet Uttenberg, geb. 25.11.1953 (verbürgt!) in Hamburg, hat Betriebswirtschaft studiert, leitet das Marketingteam

      bei einer mittelgroßen Softwarefirma in Aarau, kennengelernt im September 1979 bei der ­Weinlese in Südfrankreich, Frau zog 1982 in die Schweiz

      – 19. Oktober 1986 Geburt von Nadine, einziges Kind (warum keine weiteren?)

      – Familie wohnt seit Sommer 1987 in Einfamilienhaus, alternative Wohnsiedlung, in ehemaligem Bauerndorf, heute zersiedelter Vorort, enge, zuverlässige (??) Nachbarschaft

      – wichtig die letzten Monate: drei Monate Weiterbildungsurlaub von Mai bis Anfang August in Royan, französische Atlantikküste, Auszeit, wollte über den Atlantikwall und die deutsche Besatzungszeit in Frankreich recherchieren. Besuch der Frau ab Mitte Juli und gemeinsame Heimreise. Verbrachte die Tage bis Beginn des neuen Schuljahres mit Unterrichtsvorbereitungen

      – Sturz am Freitag, 15. August (letzter Ferientag, Mon­tag, 18. August Schulbeginn – Zusammenhang?)

      Nach dem anfänglichen Husten vermochte ich keine Regung mehr aus seiner Stimme herauszuhören, Marty las die Angaben zu seinem Leben unbeteiligt, beinahe gelangweilt.

      Ein fades Leben, er frage sich, ob es sich lohne, die Erinnerungen dieses Langweilers zu finden, ob es überhaupt etwas zu finden gebe. Das einzig Bemerkenswerte vielleicht die unbekannte Herkunft, ein ziemlich auffälliges Detail in dieser banalen Biografie.

      Ich ging nicht darauf ein. Wie das Gespräch mit seiner Frau denn verlaufen sei?

      Während er vom letzten Besuch seiner Frau erzählte, spielten seine Hände unaufhörlich mit dem Notizheft, rollten es ein, ließen es dank sperrigem Material wieder aufspringen, drehten den Zylinder wieder enger, er schob die Rolle von der linken in die rechte Hand und zurück, unaufhörlich.

      Sie hätten ins Städtchen spazieren können, er war schließlich nicht in einer geschlossenen Anstalt. Jedoch die Vorstellung von Menschenmengen sei ihm nach wie vor unerträglich. Jegliche Situation draußen im Leben sei eine mögliche Ursache für Panik, er wisse nie, ob er intuitiv richtig reagieren würde. Sie seien also im Klinik­park spazieren gegangen, schlenderten langsam über die Kieswege, auch der Park hielt am frühen Nachmittag Siesta, weder Angestellte, die jetzt ihre übliche lange Mit­tagspause hielten, waren zu sehen noch andere Gäste, er halte sich an die offizielle Namensregelung, die hatten sich in ihre Zimmer zurückgezogen. Die Wege gehörten ihnen.

      Er habe bei jedem Schritt sorgfältig darauf geachtet, einen ausreichenden Abstand zu seiner Begleiterin einzuhalten, um auch eine unbeabsichtigte Berührung ihrer unbekleideten Arme zu verhindern. Es war spätsommermild, er trug die Wildlederjacke an einem Finger über die Schulter geworfen. Die Distanz war so austariert, dass sie als zusammengehörend wirkten, aber für eine Berüh­rung hätte einer von ihnen den Arm ausstrecken müssen. Die Faktenlage war nicht zu diskutieren, er war Jean-Pierre Marty und die Frau, die ebenfalls nicht sehr locker neben ihm herschritt, somit seine Ehefrau.

      Er blickte sie verstohlen an, manchmal auch unverhohlen. Bald fünfzig wurde sie also, wirkte aber eindeutig jünger. Ihr sportlicher Stil, auch das fahlblonde Haar, mittellang und gerade geschnitten, gefiel ihm. Was sie beruflich machte und ihre gemeinsamen Lebensfakten kannte er bereits, sie schien mit beiden Beinen im Leben zu stehen.

      Ihre beiden Körper kannten sich also seit einem Vierteljahrhundert, vertraut durch viele Umarmungen, anfänglich bestimmt leidenschaftlich. Und heute? Mochten sich, begehrten sich ihre aneinander gewöhnten Körper noch? Schliefen sie noch zusammen? Er habe seine Begleiterin unbemerkt gemustert, er konnte sie ja nicht unverblümt danach fragen. Wie hatte er sie verführt? Mochte er ihre Brüste? Wie fühlte sich die Haut ihrer Schenkel an? Er versuchte sich seinen Körper verschlungen in ihren vorzustellen. Nichts, keine Fantasien formten sich. Keine Regung, nur sein Rücken wurde steif. Er wäre ziemlich nervös geworden, hätte er nicht mittlerweile die Bestätigung, dass bei ihm physisch alles noch funktionierte.

      Unter Männern könne er ja darüber reden, das habe ihn stark beschäftigt, klappte diesbezüglich noch alles bei diesem fremden Körper, in dem er steckte. Nach dem Aufwachen aus dem Koma sei, obwohl er sich körperlich fit fühlte, tagelang alles schlaff geblieben. Es brauchte einige Überwindung, bis er das Thema im Spital anzusprechen gewagt hatte. Der Arzt hatte ihm augenzwinkernd einschlägige Magazine zugesteckt, das buche er unter Therapie ab. Auch Sexualität sei eine Frage der Bilder im Kopf, die ihm eben fehlten. Er habe die Fotos eingehend studiert, Schmollmünder, verkeilte Leiber, Zoom auf erigierte Körperteile und Öffnungen. Dasselbe in der nächsten Bildstrecke und wieder in der nächsten, nur andere Blickwinkel und andere Körper. Nichts