Blindgänger. Ursula Hasler

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Название Blindgänger
Автор произведения Ursula Hasler
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783038550600



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Erdboden gleichge­macht.

      Ja, das hatte er in den Notizen gelesen. Aber ihr Mann erwähne persönliche Recherchen, die er damit verbinden wollte. Etwas, was mit einem Besuch bei seiner Mutter an Ostern in Verbindung stand.

      Sie blieb stehen, schaute ihn lange und nachdenklich an. Nein, von persönlichen Recherchen wisse sie nichts, aber eine Ahnung, worum es gehen könnte. Sie blickte sich um, suchte eine Bank, wo sie ungestört sein konnten.

      Inzwischen kreuzten sie immer häufiger andere Klinikgäste, die Mittagsruhe war zu Ende. Den einen oder die andere kannte er aus dem Speisesaal, er grüßte und ignorierte ihre neugierigen Blicke auf seine Begleiterin, stellte sie niemandem vor, als was auch.

      Als sie eine leere Bank gefunden hatten, zögerte sie plötzlich, setzte sich nicht, schaute vielmehr auf die Uhr, sie müsse zurück, sie habe um halb vier noch einen Termin. Er solle besser seine Mutter fragen, sie komme ja am Sonntag. Sie bedaure. Sie wich einem Spaziergänger aus und eilte davon, flüchtig zurückwinkend. Es sah ganz nach Flucht aus.

      Also habe er sich alleine auf die Bank gesetzt, die Arme verschränkt und die Beine gestreckt, passender Moment für eine Zwischenbilanz. Mehr als zwei Wochen war er nun hier, er habe die Besuche Revue passieren lassen, die Frau kam heute zum dritten Mal, vor drei Ta­gen war überraschend der Bruder erschienen. Sein Besuch dauerte nur kurz, es gab wenig zu sagen, von seiner Seite ohnehin nichts, aber auch der Bruder blieb merkwürdig wortkarg, die Brüder schienen nicht sehr verbunden zu sein.

      Er habe versucht, die verschiedenen Gespräche wieder aus dem Gedächtnis abzurufen, schwierig, Kopfschmerzen kündigten sich sofort an. Er notiere deshalb nach jedem Gespräch sorgfältig, was er als behaltenswert erachte. Er hielt die Hand hoch, in der sich die Heftrolle gerade befand. Sich Neues zu merken erweise sich als äußerst anstrengend. Er könne das Gehörte nicht mit Bildern verknüpfen, auch nicht mit Tönen oder Gerüchen.

      Das Mädchen sei gestern zum zweiten Mal gekommen, sie mochte ihren Papa und habe es ihm offen gesagt, vermutlich keine Selbstverständlichkeit bei einer Sechzehnjährigen. Sie hatte ihren schulfreien Nachmittag ge­opfert, kam mit Zug und Bus hierher, nur um ihrem Vater einen Besuch abzustatten, einem Vater, der vermutlich immer stärker mit seinen eigenen Dingen beschäftigt war als mit seiner Tochter. Er habe Nadine an der Bushaltestelle abgeholt, sie verspürte keine Lust auf einen langweiligen Spaziergang, also setzten sie sich auf die Terrasse der Klinikcafeteria und bestellten für sie einen Eisbecher und für ihn ein Bier.

      Das Mädchen kicherte, du hast mich noch nie so offiziell auf ein Eis eingeladen. Dann verlegenes Schweigen. Er konnte doch unmöglich fragen, na, wie war denn dein Vater so?, und noch weniger, na, wie war ich denn so als Vater? Er habe sie die ganze Zeit aufmerksam beobachtet, ihre Gesten, die unnachahmliche Weise, wie sie die zu langen Ponysträhnen aus dem Gesicht pustete, bevor der nächste Löffel Eis in den Mund geschoben wurde, wie sehr möchte er die Bilder von früher im Kopf finden. Ein kleines Mädchen, das auf seinem Arm ein Eis am Stiel schleckt, es tropft auf seinen Ärmel. Eine klebrige kleine Hand, die sich vertrauensvoll von der sicheren Vaterhand führen lässt. Nichts. Kein Bild. Kein Gefühl. Sie beugte sich nach vorn und meinte verschwörerisch, er habe ihr ohne Wissen von Mama öfter großzügig etwas zugesteckt, wenn das Taschengeld wieder alle war.

      Marty sah mich hilflos an, nicht einmal das habe er richtig einzuordnen gewusst, brauchte sie etwa Geld? Er habe ihr zwanzig Franken über den Tisch geschoben. Sie habe gestrahlt und weitergeplaudert. Als ihr irgendwann auffiel, wie wortkarg er war, habe sie geseufzt, und nun behaupte er, nichts mehr zu wissen, das verstehe sie einfach nicht.

      Nachdenklich blickte Marty auf das Heft in seiner Hand, er hoffe sehr, dass ihr Vater stolz auf sie war und es ihr auch gesagt hat. Ihr hilfloser Schmerz beschäftige ihn, er habe ihr den Vater weggenommen, den sie mit sechzehn mehr denn je brauche. Nadine habe schließlich gemeint, eigentlich sei es nicht so schlecht, wenn er von ihren Dummheiten nichts mehr wisse und ihre Streiche vergessen habe, davon erzähle sie ihm bestimmt nichts. So könne sie nun alles richtig machen. Er habe geschwiegen, ihm blieb das Richtigmachen verwehrt, ohne Vorstellung, was ihr Vater früher alles falsch gemacht hatte. Auch keine Vaterschaft lässt sich weiterführen, wenn nur einer die Geschichte kennt.

      Aber Nadine war rührend, so ein Gedächtnisverlust sei doch eine unglaubliche Chance, nochmals anzufangen. Diesen Satz der Sechzehnjährigen habe er sofort aufgeschrieben, sie habe ihm die Augen geöffnet. Ja, was auch immer diesen Jean-Pierre Marty früher belastet hatte, war nun einfach weggepustet. Er sei zwar ein Heimatloser in seinem eigenen Leben, aber frei.

      Ich nickte, das sei ja schon eine ganze Menge. Und zum Schluss, was sich denn nun auf dem Laptop befinde?

      Marty nickte, eine umfangreiche Sammlung von tagebuchartigen Dokumenten aus der Zeit in Royan, alle ohne Titel, aber mit Datum, die ersten habe er gelesen, dann einzelne herausgepickt, zudem noch ein ziemlich großes PDF, könnte ein Manuskript sein, er sei ratlos. Eher unwahrscheinlich, dass ihm die stichwortartigen und für ihn oft unverständlichen Aufzeichnungen helfen würden, die Person dieses Jean-Pierre Marty zu ver­stehen. Die Hoffnung, dass sie ihm eine Spur zu seinem verschütteten Gedächtnis öffnen könnten, zerbrösle, je mehr er davon lese. Ihm fehlten zahlreiche Fakten, um Anspielungen einordnen zu können. Denn etwas habe er in seiner anfänglichen Euphorie nicht bedacht. Die persönlichen Notizen seien nicht für das Lesen durch fremde Augen bestimmt gewesen, Marty habe mit wenigen Ausnahmen weder Hintergründe noch Fakten notiert, die kannte er ja, meist nur kryptische Eindrücke, Beobachtungen, Gefühle. Kurz, die Notizen seien für Außenstehende schwer verständlich und erwiesen sich nun für das Wiederlesen durch den Schreiber mit Gedächtnisverlust als unnütz.

      Ich schüttelte den Kopf, dessen sei ich mir nicht so sicher. Es war sein letzter Satz, der mich auf die unorthodoxe Therapie brachte. Da war vor einigen Monaten ein Fachartikel zum Thema Sprache und Erinnerung erschienen, die Rolle des Erzählens beim Speichern von Erinnerungen, der mich fasziniert hatte. Ich hatte der Thematik nachgehen wollen, mangels Zeit jedoch die ­Sache ad acta gelegt. Jetzt bot sich unvermutet eine einmalige Gelegenheit. Denn, fuhr ich fort, es gebe durchaus Hoffnung. Die PET/CT-Untersuchungen der Uniklinik zeigten zwar, dass im rechten Schläfenlappen, wo die Steuerung des autobiografischen Gedächtnissystems vermutet wird, der Stoffwechsel praktisch inaktiv sei, obwohl bei ihm keine Gewebeschädigung vorliege. Es gebe verschiedene Gründe, weshalb die biochemischen Austauschprozesse in dieser Gehirnregion gestört sein könnten, zum Beispiel Ausschüttung eines blockierenden Stresshormons. Das sei durchaus beeinflussbar. Ich würde ihm nun eine ungewöhnliche Behandlungsmethode vorschlagen, die ich wissenschaftlich begleiten wolle.

      Dazu müsse ich etwas ausholen. Der Mensch kenne mittels eines ordnenden Gedächtnisses seine Vergangenheit, er habe eine mentale Vorstellung, wer er in der Ge­genwart ist, und weil der Mensch auch wisse, dass er unaufhörlich auf seinen Tod zugehe, verhülle das menschliche Bewusstsein dieses unerträgliche Wissen mit Zukunftsplänen. Kurz, der Mensch könne kraft seines Bewusstseins seine eigene Geschichte erzählen, gestalten und planen.

      Marty folgte mir stirnrunzelnd.

      Ihm sei momentan durch eine Blockade der Zugang zu seiner Vergangenheit verwehrt, damit die Grundlage der gegenwärtigen Identität entzogen und die Imagi­na­tion für Zukunftsplanung verunmöglicht. Auf der andern Seite liege ihm außergewöhnlich viel sprachliches Material in Form von eigenen Tagebuchnotizen vor, die ihm zurzeit fremd und unverständlich erschienen, aber eine einmalige Chance darstellten, zumindest die fehlende Vergangenheit der letzten Monate mittels Sprache wieder Wirklichkeit werden zu lassen.

      Mein Vorschlag: Er solle die Journaltexte auf dem Laptop als Stoff, als Material für seine Wunschvergangenheit betrachten. Er solle sich das dort Erzählte aneig­nen und so umformulieren, dass es seine Aufzeichnungen würden. Er dürfe hemmungslos eingreifen, weglassen, erfinden. Fabulieren solle er, fantasieren, erdichten, die Gedanken im Journal zu seinen eigenen machen, die No­tizen der drei Monate in Frankreich neu schreiben, sodass es seine Geschichte werde.

      Marty starrte mich zweifelnd an, und wie das mit der Wahrheit sei? Wie es wirklich war?

      Kein Problem, ich persönlich würde ihn von der moralischen Wahrheitspflicht entbinden. Als Bestätigung un­terstrich ich die Vergabe