Spurlos. Emil Zopfi

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Название Spurlos
Автор произведения Emil Zopfi
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783857919534



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sie gesehen», sagte Magnus.

      «Sie konnte nicht mehr schlafen, seit Antennen im Turm sind.»

      «Wozu Antennen?»

      «Für Mobiltelefone. Aber Mutter hat die Wellen gespürt. Sie hatte so dünne Haut.»

      «Es gibt doch hier keine Wellen.»

      «Sie sind unsichtbar. Sie sind in der Luft, überall. Deshalb machen sie so Angst.»

      Der Vater legte Magnus die Hand auf die Schulter, sein Atem streifte ihn, er roch säuerlich. «Ich hab Mutter nicht geglaubt. Seit sie noch stärkere Antennen eingebaut haben, spüre ich die Wellen auch. Der Glockenturm macht uns krank.»

      «Das sagt Anita», stiess Magnus hervor. «Weil sie bald stirbt.» Seine Nase lief, er wischte sie mit dem Ärmel seiner Jacke ab.

      Der Vater griff nach der Flasche, umspannte sie mit einer Hand. Die Sehnen traten aus seinem Handrücken hervor. «Vielleicht werde ich auch sterben.»

      «Hier gibt es keine Wellen», wiederholte Magnus trotzig. Er stand auf, stiess die Kiste mit dem Fuss unter die Werkbank.

      «Sandra glaubt das auch nicht.» Der Vater riss einen Streifen Schleifpapier ab, begann die gedrechselten Radspeichen zu polieren, die auf einem Stofflappen auf der Werkbank lagen. Zärtlich zog er das feine Schmirgelpapier über das Holz, blies den Staub weg, legte die Speiche sachte auf den Stofflappen zurück, als könne sie zerbrechen.

      Die Tür ging, Sandra trat in die Werkstatt. Sie atmete schwer und schwitzte. Ihre Zöpfe hatte sie um den Kopf gebunden, sie war parfümiert und trug einen weiten Rock mit Puffärmeln, eine Schürze und weisse Kniestrümpfe.

      Magnus ging an ihr vorbei, warf sich den Rucksack über die Schulter und ging die Treppe hinauf zur Wohnung.

      «Grüsst der junge Herr nicht mehr?», rief sie ihm hinterher. Er drehte sich nicht um.

      13

      Ning stand in einem blauen Blazer mit dem Signet der Hotelkette auf der Brusttasche hinter der Rezeption, ihre schwarzen Haare hatte sie zu einem Knoten gebunden. «Die Herren sind schon im Café.» Sie lächelte Andrea zu. «Ich komme gleich.» Dann unterhielt sie sich in Englisch mit einem Paar, das ein Zimmer bezog.

      Das Café des Hotels war fast leer. Zwei Herren in dunklen Anzügen sassen am Fenster, durch das man über die Stadt hinweg in die Ferne sah. Dunst schwebte über den Dächern, die Berge am Horizont standen im Schatten. Einer der Herren federte vom Stuhl, als er Andrea erblickte: «Frau Stamm. Wir kennen uns.»

      Andrea erkannte die gedrungene Gestalt nicht gleich.

      «Sie erinnern sich? Peter Frey.» Er wollte ihr die Windjacke abnehmen.

      «Es geht schon», wies ihn Andrea zurück. «Sie sind der Gemeindeverwalter.»

      Er stand dicht vor ihr, sein Atem roch nach Weisswein. «Die Gemeinde steht unter Kuratel. Ich bin von der Regierung abgeordnet.»

      «Kuratel? Was heisst das?»

      «Sie ist bankrott, wird vom Staat verwaltet. Weil ich im Dorf ein Haus besitze und Mitglied des Grossen Rates bin, hat man mich mit der Aufgabe betraut. Kein leichter Job. Ehrenamtlich sozusagen.»

      Sie traten an den Tisch, auf dem ein aufgeklappter Laptop stand, einige Schriftstücke lagen daneben ausgebreitet.

      «Herr Grieco. Von der Lévi AG», stellte Frey einen rundlichen Herrn mit schwarzem Kraushaar vor. Das Jackett spannte über seinem Bauch, die rote Krawatte war schief geknotet. Ein unerwartet harter Händedruck liess Andrea zusammenzucken. Lévi AG, der Name weckte Erinnerungen. Unangenehme. Das Zementwerk hatte den Lévis gehört, der Kalksteinbruch und die grösste Baufirma der Gegend. Sie setzte sich auf die Kante des Stuhls, den ihr Frey rückte. «Wir warten noch auf Frau Stamm.»

      «Ich bin Frau Stamm», gab Andrea zurück.

      «Entschuldigen Sie. Ich meinte die Gattin Ihres verstorbenen Vaters. Sie trägt Ihren Familiennamen, wenn ich mich nicht irre?»

      «Sie irren sich nicht.»

      «Ihr versteht euch gut, habe ich vernommen.»

      «Sie vernehmen viel, Herr Frey.»

      «Das ist leider nicht selbstverständlich. Sie ist ja sozusagen Ihre Stiefmutter. Was trinken Sie?»

      «Kaffee bitte.»

      Frey winkte die Kellnerin herbei.

      Grieco zog eine Packung Zigaretten aus der Jackentasche, tippte eine heraus, hielt sie Andrea hin. «Rauchen Sie?» Seine Finger waren breit, die Nägel kurz geschnitten. Eine Arbeiterhand, die nicht zu den goldenen Manschettenknöpfen passte.

      Andrea lehnte ab.

      «Aber Sie erlauben?» Er klemmte die Zigarette zwischen die Lippen, zog sie aus der Packung.

      «Lieber nicht. Eine Freundin liegt mit Lungenkrebs im Spital.»

      «Die Wirtin der ‹Alpenrose›», bemerkte Frey.

      «Tut mir leid.» Grieco legte die Zigarette auf den Rand des Aschenbechers, in dem schon einige Stummel lagen. Ning trat leise an den Tisch, setzte sich neben Andrea. Ihr Parfümduft verdrängte den Tabakgeruch.

      «Die Lévi AG interessiert sich für Ihr Haus», eröffnete Frey das Gespräch. «Sie kennen die Firma?»

      «Eine Besitzerin ist in den Bergen umgekommen», bemerkte Andrea, «Claudia Baumberger-Lévi. Ich war bei der Bergung dabei.»

      «Richtig.» Grieco beugte sich vor, kämmte sich mit seinen dicken Fingern das Kraushaar. «Nach ihrem tragischen Tod und dem …», er suchte nach dem richtigen Wort, «… dem Hinschied ihres Gatten haben leitende Angestellte das Unternehmen übernommen. Ich war Lévis Bauführer und bin nun für den Immobilienbereich zuständig.»

      «Management Buyout», erklärte Frey. «Ich berate das Unternehmen in Finanz- und Steuerfragen. Sehen Sie nun den Zusammenhang?»

      Andrea nickte. Baumberger hatte damals seine Frau auf dem Weg unter der Plattenburg erschlagen, jedoch Steinschlag vorgetäuscht. Er selber war kurz darauf in eine Leitplanke gerast, wahr scheinlich Selbstmord.

      «Robert wollte nicht verkaufen», sagte Ning leise.

      «Sie haben also schon meinem Vater ein Angebot gemacht? Er hat mir nie davon erzählt.»

      Grieco klemmte ein Zündholz zwischen die Zähne, liess es auf und ab wippen. «Wir haben versucht, mit ihm zu verhandeln. Aber Sie kannten ihn ja.»

      Kannte sie ihn? Sie sah ihn vor sich, wie er die Makler abgeputzt hatte, in seiner ruppigen Art. Er konnte verletzen, er konnte lieben, niemand kannte ihn wirklich. Sie sagte: «Töchter haben oft härtere Köpfe als ihre Väter.»

      Die Männer lachten, als habe sie einen Scherz gemacht.

      Grieco tippte auf die Tasten des Laptops, drehte ihn um, damit sie den Bildschirm sehen konnte. Ein Plan erschien, grüne, braune, gelbe Flächen und Linien. «Die Lévi AG plant eine grosse Überbauung an Stelle der alten Häuschen. Moderne, sonnige, soziale Wohnungen für Familien, Alterswohnungen, ein Kindergarten …»

      «Die Behörden unterstützen das Projekt. Eine gute Sache», unterbrach ihn Frey, «absolut keine Spekulation. Wir haben hier ein Schreiben der Stadtverwaltung.» Er legte einen Brief neben den Computer, Stadtwappen, Unterschriften. Dr. Peter Frey, Grossrat, Gemeindeverwalter.

      Andrea überflog das Papier, sah zwischendurch auf den Bildschirm. War das eine gute Sache? Erinnerungen wirbelten in ihrem Kopf durcheinander. Lévis, die Zementbarone. Baumberger, eingeheiratet in die Familie, der seine Frau mit einem Stein erschlagen hatte, im Suff in die Leitplanke gekracht. Claudias Leiche auf dem Felsband unter dem Weg.

      «Ich kann mir vorstellen, was Sie denken», sagte Grieco mit gedämpfter Stimme. «Ich habe Baumberger gekannt. Mein Vater war Schichtführer im Zementwerk des alten Lévi. Silikose, kein schöner Tod.» Er griff nach der Zigarette,