Spurlos. Emil Zopfi

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Название Spurlos
Автор произведения Emil Zopfi
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783857919534



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      «Ich möchte dich sehen. Einfach so …»

      «Eigenartig», sagte sie vor sich hin.

      «Was ist daran so eigenartig?»

      Sie hatte sich vom Wind abgedreht, sah ihre Spur im Matsch auf dem Weg, der über Felsbändern zur Runse führte und zum Bach, der über eine Wandstufe sprang und im Nebel verschwand.

      «Hier war früher kein Empfang mit dem Handy.»

      «Wo bist du?»

      «Auf dem Weg, wo wir damals die Frau geborgen haben.»

      «Bist du sicher?»

      «Hier war’s, beim Übergang über die Runse.»

      «Sag mal, was suchst du dort oben bei dem Sauwetter?»

      «Damals war hier noch kein Empfang. Man hat das überprüft bei der Untersuchung.»

      «Es werden ständig neue Antennen aufgestellt.»

      «Aber doch nicht hier im Tal. Wozu denn?»

      «Damit ich dich erreiche.» Er lachte.

      «Du hättest mich immer erreichen können.»

      «Ich erklär dir alles. Wann sehen wir uns?»

      Andrea hörte, wie jemand nach ihm rief.

      «Hallo, Andrea? Ich muss leider … Ich ruf dich an.» Er hängte auf.

      «Ich ruf dich an», sprach sie ins stumme Handy. Das hatte er gesagt, bevor er verreist war. Ich ruf dich an. So beginnen Beziehungen und so enden sie.

      Bevor sie das Gerät einsteckte, sah sie auf das Display. Es zeigte ein starkes Signal. Sie schreckte auf, Steine fielen durch die Runse, schlugen unweit von ihr auf den Weg. Im nebligen Licht sah sie ein Tier den Hang queren. Es floh nicht, sondern blieb auf einem vorspringenden Felsen stehen. Ein Steinbock. Eine Weile betrachteten sie sich auf Distanz, der Bock neigte seinen Kopf, als wolle er seine mächtigen Hörner zeigen.

      Andrea begann abzusteigen, blieb nach ein paar Schritten nochmals stehen, schaute sich um. Der Steinbock stand unbewegt wie eine Statue im Schneetreiben.

      10

      Der Espresso schmeckte wie Spülwasser. Daniel spürte ein leichtes Zittern in der Hand, als er die Tasse an die Lippen führte. Er fühlte sich ausgelaugt, überarbeitet. Das Gespräch mit Andrea war ihm vorgekommen wie Funkkontakt mit einem fernen Planeten. Ein Regenschwall peitschte gegen die Fenster der Cafeteria, die Glasfassade des Bettenhauses gegenüber verschwamm im Muster der Regentropfen, die über die Scheiben rannen. Er stellte sich Andrea vor, hoch am Berg auf jenem abschüssigen Weg, den er selber Dutzende Male gegangen war. Bei dem Gedanken spürte er, wie verbraucht er war, ohne Lust auf Abenteuer. Andrea trieb sich weiterhin in jener einsamen Welt herum, es war ihr Beruf. Daniel fragte sich, ob sie noch immer mit ihrem Manager zusammen war. Vielleicht hätte er um sie kämpfen müssen, sich nicht einfach aus dem Staub machen, den Beleidigten spielen und nichts mehr von sich hören lassen.

      Eine Pflegerin trat an seinen Tisch, ein Tablett mit Kaffee und Kuchen in der Hand. «Ist es erlaubt?»

      «Wenn ich nein sagen würde?»

      «Du doch nicht, Doktor.» Sie rückte den Stuhl schräg zum Tisch, setzte sich, schlug die Beine übereinander. Ihre weissen Hosen rutschten hoch, gaben schmale Fesseln frei, ihr Fuss steckte in weissen Mokassins und wippte kokett. «Biene Maya» nannte man die Pflegeleiterin aus der Onkologie. Sie galt als zuverlässig und unnahbar, eine strenge Schönheit mit einem Plüschbären, der auf ihrem Bett auf sie wartete. «Alles klar bei den Karzinomen?», fragte er.

      Sie stach mit der Gabel die Spitze der Schokoladetorte ab, schob sie in den Mund. «Man sieht dich ja häufig bei uns auf der Station.»

      «Fachliche Weiterbildung.»

      «Sagt man dem jetzt so?» Sie griff sich mit spitzen Nägeln den Schokoladebatzen mit dem Schriftzug Sacher, schob ihn in den Mund. «Anita Bender ist natürlich ein interessanter Fall. In jeder Beziehung.»

      Die Vergangenheit, hatte er einmal gelesen, holt einen immer wieder ein. Anita, Wirtin und Künstlerin aus der «Alpenrose», die alten Geschichten. Mayas Anspielung irritierte ihn. Er war wohl einfach zu müde, um zu verstehen.

      Sie stocherte in ihrer Sachertorte. «Einer aus dem Dorf hat sie besucht.»

      «Schmeckt’s?», fragte Daniel.

      «Man muss sich gelegentlich was gönnen.»

      Sie spiesste ein Stück auf die Gabel, schenkte ihm einen Augenaufschlag. «Möch test du versuchen?»

      Daniel wehrte mit beiden Händen ab. «Danke, danke.» Er rieb sich den Bauch. «Ich wundere mich immer über deine Figur, bei deiner Lust auf Süsses. Eine Taille wie eine Biene.»

      «Sehr witzig.» Sie legte die Gabel neben die Krümel, schob den Teller von sich. «Der Mann ist bei uns in Behandlung.»

      «Welcher Mann?»

      «Der aus dem Dorf. Hörst du mir überhaupt zu, Doktor?»

      «Natürlich, Oberschwester Maya. Anita hatte viele Männer, aber ich war nie mit ihr im Bett, ich steh nicht auf mollig. Wir kennen uns von früher, aus meinem letzten Leben sozusagen.»

      «Schwestern gibt es bei uns nicht mehr.»

      «Bin ich schon so alt?» Er zog eine Zigarettenpackung aus der Tasche, liess das Feuerzeug schnappen. «Du erlaubst?»

      «Aber doch nicht hier! Das Spital ist rauchfrei.»

      «Sorry, ich war wohl in Gedanken in Israel. Ohne Zigaretten hätten wir den Stress dort nicht durchgestanden.»

      Er sah das Kind vor sich, beide Arme und ein Bein weggerissen, drängte das Bild aus seinem Kopf. Das Feuerzeug in seiner Hand schnappte auf und zu. «Ein Souvenir, Charly’s Coffee Shop, Shenkin Street. Warst du schon mal in Tel Aviv?»

      Maya schob sich eine Haarsträhne mit zwei Fingern hinters Ohr. Schön geformte kleine Ohren, Goldkettchen mit Kreuz um den Schwanenhals, kein Ring am Finger. «Woran leidet denn der Mann aus dem Dorf?»

      «Bauchspeicheldrüse. Die Daten hab ich nicht im Kopf.»

      Daniel steckte die Zigaretten und das Feuerzeug wieder ein, riss ein Zuckerbriefchen auf, schüttete sich den Zucker in die hohle Hand und schleckte ihn auf.

      «Also auch ein Süsser.»

      «Ich lad dich mal zu Kaffee und Kuchen ein. Mit Sahne und allem Drum und Dran, was meinst du?»

      Sie rückte ihren Stuhl näher zum Tisch. «Frau Bender hat mit dem Mann über Strahlen gesprochen. Elektromagnetische Strahlen, die Krebs erzeugen.»

      «Was soll dort oben strahlen? Es gibt keine Hochspannungsleitung, keine Atommülldeponie, keine Sendemasten.»

      «Ein Kirchturm, hab ich gehört.»

      «Ach so, ein alter Aberglaube!» Daniel lachte.

      «Frau Bender glaubt offenbar daran.»

      Daniel stand auf. «Der Mensch sucht stets nach einer Erklärung für das Unerklärbare.» Er liess die Espressotasse stehen. «Kranke fragen, warum es gerade sie getroffen hat.» Er dachte wieder an das verstümmelte Mädchen, ein hübsches Kind mit langen schwarzen Haaren, Mandelaugen. Warum sie? Das hat te er sich auch gefragt. Es gab keine Antwort.

      Die Pflegerin ergriff seine Tasse mit zwei Fingern, hob sie auf ihr Tablett, rief ihm nach: «Ich räume gerne für Sie ab, Herr Doktor.» In der Cafeteria drehten sich Köpfe.

      Daniel wartete im Foyer auf sie. «Spitäler machen die Menschen krank, nicht Kirchtürme.»

      Sie zog ihre Augenbrauen hoch. «Das sagt der Arzt?»

      «Das sagt der Arzt. Denk mal drüber nach. Und grüss deinen Bären.» Er tippte mit dem Zeigefinger auf ihre Oberlippe. «Hier klebt