Spurlos. Emil Zopfi

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Название Spurlos
Автор произведения Emil Zopfi
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783857919534



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sagte Andrea, weil ihr nichts anderes einfiel.

      «Mein Gott, ist schon Frühling dort oben?» Anita seufzte.

      «Auf der Alp liegt noch etwas Schnee.»

      «Ich möchte wieder mal auf die Alp.» Tränen liefen über Anitas Wangen. Vielleicht waren es die Augentropfen.

      Andrea setzte sich auf die Bettkante, ergriff ihre Hand, streichelte die welke Haut. Sie trug ihre indischen Fingerringe mit den bunten Steinen und Silberreifen am Handgelenk. «Sie wollen mir die ‹Alpenrose› wegnehmen», flüsterte sie, schloss ihre Augen. «Mein Haus, meine Galerie, mein Traum.»

      Andrea erinnerte sich an eine Vernissage in den Kellergewölben der «Alpenrose», Leute aus der Kunstszene der Stadt waren gekommen. Eine Sängerin. Und sogar Einheimische, zu denen Anita einen Draht gefunden hatte.

      «Der Gemeindeverwalter war hier. Möchtest du die ‹Alpenrose› übernehmen?»

      «Ich hab doch kein Geld.»

      «Es wäre schön …» Anitas Stimme war nur noch ein heiseres Hauchen. «Da ist nur … der Glockenturm …» Ihr Kopf sank zur Seite, sie bewegte sich nicht mehr, war weggetaucht, sah vielleicht den Turm der Kapelle vor sich, hörte im Dahindämmern den harten Klang der Glocke, der sie während Jahren Tag und Nacht begleitet hatte.

      Andrea verliess das Zimmer leise. Im Korridor kam ihr ein Mann entgegen, leicht vorgebeugt mit unsicherem Schritt. Sein Blick glitt über den Boden, als klafften unter dem Linoleum versteckte Gletscherspalten. Er kam ihr bekannt vor, sie war ihm vielleicht schon begegnet, ein Hüttenwart oder Senn auf einer Alp. Sein rötlicher Bartkranz war zerzaust, ein Manchesteranzug schlotterte um seine Glieder. Sie sah sich um. Vor Anitas Zimmer blieb er stehen, klopfte. In der Hand trug er einen Bund Weidenkätzchen.

      6

      Daniel erkannte sie sogleich, folgte ihr durch den Korridor, sein Mantel wehte offen. Er war versucht, ihren Namen zu rufen, hoffte, sie blicke sich um, doch sie schritt weiter, klein und hartnäckig wie immer. Er war sicher, dass sie es war, obwohl sie die Haare nun lang trug, zu einem Pferdeschwanz gebunden. Bestimmt sparte sie sich die Coiffeuse, sie musste immer sparen und würde auch noch sparen, nachdem sie einen Millionär geheiratet hätte. Das Karge und Einfache war ihr eingeprägt, wie ihre weiten und leichten Schritte und die etwas nach links abfallende Schulter, auf die sie, wie er wusste, einen blauen Schmetterling tätowiert hatte. Blue Mountain. Sie rauchte nicht, trank keinen Alkohol, fuhr einen angerosteten Cherokee Jeep; ihre Leidenschaft zeigte sich nur am Berg, sonst verbarg sie sich unter ihrer widerborstigen Kraft. Daniel war nicht sicher, was er von ihr wollte, sie hatte ihn auf schwierigen Routen geführt, sie hatten sich geküsst und einmal miteinander eine Nacht verbracht, in einer Hütte unter Wolldecken, eng umschlungen, aber vielleicht hatte er auch nur geträumt, sie hätten miteinander geschlafen. Seit seinem Unfall in Israel kletterte er nicht mehr, seit seiner Affäre mit Marit hatte er nie mehr mit einer Frau ein Verhältnis gehabt, von einem gelegentlichen One-Night-Stand abgesehen. Er folgte Andrea bis zum Foyer, sah sie durch die Flügeltür ins Freie treten. Auf dem Vorplatz beim steinernen Engel blieb sie stehen. Es schien, als denke sie darüber nach, was sie vergessen haben könnte. Er hoffte, sie kehre nochmals um, dann würde er sie begrüssen wie eine alte Bekannte, sie würden sich küssen, Erinnerungen austauschen, sich verabreden. Sie zögerte, zog ihr Handy aus der Tasche ihrer Windjacke, tippte eine SMS. Er war sicher, dass sie einen Freund hatte, eine Frau wie sie unter lauter Männern, die sie bewunderten, vielleicht den Manager, den sie einmal aufs Matterhorn geschleppt hatte. Daniel war noch immer eifersüchtig auf jenen Geck, auch wenn er sich sagte, dass er zuallerletzt Grund dafür habe. Doch für Gefühle, das wusste er, gab es keine Gründe, und keine Medizin half, wenn sie einen heimsuchten. So war das mit Marit gewesen, der Kollegin im Rabin Medical Center in Tel Aviv. Sie hatte ihn nach seinem Unfall zusammengeflickt.

      «Doktor Meyer!» Die Stimme einer Pflegerin hallte durch den Korridor.

      «Bin gleich da!» Er trat in die Toilette, liess Wasser in seine Hände laufen, kühlte sich das Gesicht. Er riss ein Papierhandtuch aus der Box, trocknete sich ab. Betrachtete die Narbe, die sich vom Haaransatz der linken Stirnhälfte zum Nasenrücken zog. Kaum mehr sichtbar, trotz der vierzehn Stiche. Marit hatte exzellente Arbeit geleistet, er hatte von der erfahrenen Traumatologin viel gelernt in den zwei Jahren in Israel. Und in den Monaten ihrer Affäre. Er hatte alles vergessen, das alte Leben, die Berge, die Heimat und Andrea. Wie einst auf schwierigen Kletterrouten hatte es für ihn nur das Hier und Jetzt gegeben, die verzweifelte Hektik in der Klinik nach einem Attentat, die ohnmächtigen Versuche, zerfetzte Körper am Leben zu erhalten, die Nächte in Marits Wohnung über dem Hafen von Jaffa.

      Er trat in den Korridor, die Pflegerin, die ihn gerufen hatte, war verschwunden. Er schritt über die Passerelle zum Neubau der Onkologie, grüsste flüchtig einen Patienten, der mit stumpfem Ausdruck den Galgen mit dem Tropf vor sich herschob und seinem Blick auswich. Er klopfte an Anitas Zimmertür und schaute hinein. An ihrem Bett sass ein Mann auf einem Stuhl, vornübergebeugt, hielt ihre Hand. Sie hatte die Augen geschlossen, vielleicht schlief sie. Auf der Bettdecke lag ein Bund Weidenkätzchen. Der Frühling war angekommen in den Bergen.

      Der Mann liess Anitas Hand los, sah sich um. Einer aus dem Dorf, dachte Daniel. Er kannte ihn nicht, nickte ihm zu und schloss die Tür wieder.

      7

      Andrea trat durchs Gartentor, blieb auf dem Plattenweg stehen, betrachtete das kleine Haus. Bald würde auch hier ein Schild hängen: Zu verkaufen. Ning suchte eine Wohnung, und sie selber würde nie zurückkehren. Zu viele Erinnerungen belasteten diesen Ort. Ihre Jugend, der Tod der Mutter, die sich nie wohl gefühlt hatte in der Stadt, der Vater, als Polizist immer unterwegs.

      Sie hörte Stimmen. Die Haustür sprang auf, Ray stürzte heraus, Nings Sohn, die Schulmappe unterm Arm. «Andrea!» Er liess die Mappe fallen, sprang an ihr hoch, klammerte sich an ihren Hals mit seinen dünnen Armen und küsste sie heftig auf beide Wangen. «Ray, gross bist du geworden. Du wirfst mich um!»

      «Du bist doch stark, Andrea!» Er lachte laut, küsste sie nochmals.

      «Musst du nicht zur Schule?»

      «Schule? Oh, ich komme zu spät!» Ray liess sie los, packte seine Mappe und hüpfte über die Platten davon. Seine Mundart klang, als hätte er nie irgendwo anders gelebt als in diesem Arbeiterquartier der Stadt. Das Hüpfen auf einem Bein über jede zweite Platte war ein Spiel, das ihm Andrea beigebracht hatte.

      Ning lud sie zum Tee ein. In ihrem Gesicht war weder Trauer noch sonst ein Gefühl zu lesen. Sie trug kein Schwarz, das war in ihrer Heimat wohl nicht üblich. Wie immer zeigte sie ihre liebenswerte lächelnde Maske. Trotzdem glaubte Andrea, dass auch sie traurig war über Roberts plötzlichen Tod.

      Nach dem Tee legte Andrea die Verträge des Maklers auf den Tisch, der das Haus verkaufen würde. Ning blätterte sie durch, stellte keine Fragen, unterschrieb, ohne zu zögern. Sie war mit allem einverstanden, was Andrea vorschlug. Ein Testament hatte Robert nicht verfasst, sie hatten beschlossen, nach Gesetz zu teilen. Die Hälfte die Tochter, die Hälfte die Ehefrau. Ein Glück, dass beiden Geld wenig bedeutete.

      «Hast du eine Wohnung gefunden?», fragte Andrea.

      «Wohnung und Arbeit.»

      Ning half seit einiger Zeit in einem Hotel an der Rezeption aus, sie hatte gut Deutsch gelernt, sprach neben ihrer Muttersprache auch Englisch und etwas Chinesisch. Das Hotel offerierte ihr eine Teilzeitstelle. Andrea hatte das Gefühl, Roberts Tod habe sie von einer Last befreit, obwohl sie ihn sehr gern gehabt hatte. Seinen «Schutzengel» hatte er sie genannt, und ihren Sohn Ray den «Sonnenschein meines Alters».

      Ihr Blick fiel auf das Sofa, auf dem ihr Vater eingeschlafen war. Es stammte aus der Aussteuer ihrer Mutter, die Federn hingen durch, der Lack der hölzernen Armlehnen war zerkratzt. Die Sitzbank, der Clubtisch, der Kachelofen mit der Messingtür, alles erinnerte sie an früher. Selbst der Geruch seiner Zigarren hing noch in den Vorhängen und Polstern. Sie raffte die Verträge zusammen und steckte sie in ihre Hängetasche.

      Ning sah sie erstaunt an: «Du weinst ja.»

      Ein heftiges