Spurlos. Emil Zopfi

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Название Spurlos
Автор произведения Emil Zopfi
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783857919534



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Er setzte die Brille wieder auf, trat so nahe neben Andrea, dass sie einen Schritt zurückwich.

      «Leider bin ich ziemlich knapp bei Kasse.»

      «Überlegen Sie es sich. Es ist ein Schnäppchen, unter uns gesagt. Ich kann Ihnen Kontakt zur Regionalbank vermitteln. Für Investitionen im Berggebiet gibt es Hypotheken zum Vorzugszins.»

      Andrea griff nach der Türklinke des Jeeps, sah dann nochmals zur «Alpenrose». Düster und leblos die Fassade, die Fenster blind, vom Rauch vergilbte Vorhänge. Ein Fensterflügel hatte sich gelöst, schwang mit einem leichten Windstoss gegen den Rahmen. Sie dachte an Anita, die Wirtin und Künstlerin, die im Spital um ihr Leben rang. Die «Alpenrose» war ihr Traum gewesen. Und da kam einer und sprach von Schnäppchen und von Vorzugszins.

      «Denken Sie in Ruhe über meinen Vorschlag nach.» Der Gemeindeverwalter zog eine Karte aus der Brieftasche. Dr. Peter Frey. Unternehmensberater. Eine Adresse im Dorf, eine zweite in der Stadt. E-Mail, Website, Mobilnummer.

      Andrea steckte die Karte ein, übersah die ausgestreckte Hand, stieg in den Jeep. Er nickte ihr zu, lächelte breit und zeigte dabei sein Gebiss. Dann schritt er zum Glockenturm hinüber, neben dem ein silbergrauer BMW stand. Im Rückspiegel sah sie, wie er bei der Feriensiedlung am Dorfeingang den Blinker setzte und bergwärts abbog zu einer der Villen, die auf Betonpfeilern an den Hang gebaut waren. Schwer vorzustellen, warum sich ein Unternehmensberater in diesem abgelegenen Tal niederliess und die arme Gemeinde verwaltete.

      Während Andrea durch die Dämmerung ins Tal fuhr, den Knopf ihres iPod im Ohr, begleitete sie Bonnie Tylers raue Stimme. It’s a heartache, nothing but a heartache. Hits you when it’s too late. Hits you when you are down.

      Sie dachte an Vaters Reihenhaus in der Stadt. Ob es ein Testament gab? Vielleicht hatte er Erspartes oder eine Lebensversicherung hinterlassen. Ning, seine Partnerin im Alter, würde einen Teil erben. Den andern sie, die einzige Tochter, zumindest den gesetzlichen Pflichtteil. Sie hatte sich um all diese Fragen noch nicht gekümmert, seit sie zurückgekehrt war.

      4

      Der Vater stand am Fenster der Werkstatt. Fahles Licht auf dem Gesicht voller Falten und Bartstoppeln. Er schaute hinüber zur «Alpenrose». Seine Hände fuhren in den Hosentaschen unruhig auf und ab, wie Maulwürfe, die sich in die Erde bohren.

      «Magnus?» Seine Stimme war belegt. Er sah sich nicht um.

      Magnus murmelte einen Gruss. Hängte Rucksack, Faserpelz und Hut an einen Haken beim Kanonenofen. Das Feuer aus Abfallholz war am Verglimmen. Angenehm warm strahlte das Abzugsrohr. Er holte eine Zeitung vom Stapel, stopfte die nassen Schuhe aus, stellte sie aufs Blech neben den Ofen.

      «Die ‹Alpenrose› wird verkauft», sagte der Vater gegen das Fenster.

      «Ich weiss.»

      Magnus hatte das Schild gesehen. Am Morgen hatte es der Verwalter hingehängt. Er war an ihm vorbeigegangen, hatte nicht gegrüsst. Ein geschniegelter Herr, keiner von hier.

      «Wo bist du gewesen?» Der Vater trat vom Fenster weg, stützte sich mit einer Hand auf die Hobelmaschine. In seinem Bart hingen Holzspäne. Er hatte gearbeitet. Ein kleiner Auftrag nur. Wenn er keinen hatte, drechselte er Spindeln und Speichen und fertigte Spinnräder. Magnus schwieg.

      «Auf der Alp?»

      Er nickte. Wärmte die Hände am Ofenrohr, ohne das heisse Metall zu berühren.

      «Liegt noch Schnee dort oben?»

      «Nicht mehr viel.»

      Der Vater begann, die Werkbank aufzuräumen. Er blies Späne von einem Drechselstahl, hängte ihn an seinen Platz im Werkzeugschrank, klappte ein Metermass zusammen, schob es in die schmale Tasche am Hosenbein. Holte Kehrichtschaufel und Wischer und fegte die Bank. Uraltes Holz, speckig braun glänzte es, mit Kerben und Rissen. Schon Grossvater hatte hier geschreinert. Er war gestorben, bevor Magnus auf die Welt kam.

      Magnus schaute zu, wie der Vater mit dem Besen Späne am Boden zu einem Haufen zusammenkehrte. Er ging zu seinem Rucksack, löste die Riemen der Klappe, unter der ein Bündel Zweige klemmte, legte sie auf die Werkbank.

      Der Vater stellte den Besen neben die Tür, griff sich einen Zweig. «Weidenkätzchen. Wo hast du sie gefunden?»

      «Am Alpweg.»

      «Ich geb sie Sandra. Sie soll sie einstellen.» Er strich mit dem Finger über eines der silbergrauen Pelzbällchen, die wie Perlen aufgereiht auf dem Zweig sassen.

      Heftig schüttelte Magnus den Kopf. «Für das da.» Er griff in den Rucksack, zog das Buch von den Waljägern heraus. Anita hatte es ihm geschenkt. Und das Fernglas.

      «Morgen geh ich in die Stadt», sagte der Vater leise. «Ich nehme die Kätzchen mit.» Er holte ein Messer aus dem Werkzeugschrank, schnitt die Stile schräg an. Dann zupfte er ein paar Fasern aus einem Büschel Flachs, das über der Werkbank hing, band den Strauss. Er stellte ihn in eine Blechbüchse. «Ich hol dann noch Wasser.»

      Magnus schlüpfte in ein Paar Filzpantoffeln, schlurfte durch die Werkstatt zur Treppe, die zur Wohnung führte. Das Buch hielt er unter den Arm geklemmt.

      5

      Das Krankenzimmer lag im Halbdunkel, Licht filterte durch Lamellenstoren, warf ein Streifenmuster aufs Bett, das von Apparaten umstellt war. Monitore und Messgeräte, verbunden mit Kabeln und Schläuchen. Andrea blieb bei der Tür stehen, glaubte für einen Augenblick, sie habe sich im Zimmer geirrt. Das Gesicht auf dem Kopfkissen war ihr fremd. Bleiche Pergamenthaut spannte sich über Wangenknochen, der Kopf war kahl bis auf einen Kranz von Stoppeln am Haaransatz. Anita blinzelte mit einem Auge ins Licht der offenen Tür, das andere blieb geschloss en, das Lid schien am Augapfel zu kleben. «Andrea. Welche Überr aschung.» Von ihrer kräftigen Stimme war nur ein heiseres Krächzen geblieben.

      Sie tippte mit einem Finger auf eine Taste. Summend fuhr die Kopfstütze hoch. Sie versuchte zu lächeln, ihr Mund verzerrte sich. Die Gesichtshälfte mit dem verklebten Auge bewegte sich nicht, sie war gelähmt.

      Andrea trat ans Bett, beugte sich über Anita, küsste sie flüchtig auf beide Wangen. Der Schweissgeruch der Kranken stiess sie ab. «Wie geht es dir?»

      «Ich mach Fortschritte. Schau mal.» Anita hob unter der Decke ein Knie ein wenig an. «Ich kann es wieder bewegen. Die neue Therapie hilft.» Fast ganz gelähmt sei sie gewesen, Metastasen im Hirn. Die Mistelkur habe nichts gebracht, jetzt versuche sie eine Krebsdiät auf Leinölbasis. Leinöl enthalte gute Fette, die zusammen mit Eiweiss den Stoffwechsel in der Leber anregten und die Krebs erzeugenden Stoffe unwirksam machten. «Die klassischen Mediziner belächeln mich, aber sie lassen mich machen. Schaden kann es ja nicht, sagen sie. Noch mehr Chemo und Bestrahlung vertrage ich nicht.» Ihr Atem ging keuchend, das Reden erschöpfte sie.

      Andrea betrachtete das Plakat, das an der Wand über dem Bett hing. Anitas letzte Ausstellung, Bergzauber – Zauberberg. Flammend rotgelbe Pinselstriche, in denen man einen Berg erkennen konnte, wenn man wollte, oder den zornigen Wunsch, die Krankheit über alle Berge zu verbannen. Etwas in der Art hatte ein gescheiter Mensch an der Vernissage erklärt und dann offiziell bekannt gegeben, dass Anita an Lungenkrebs erkrankt sei. Schneller als sonst waren rote Punkte aufgetaucht unter ihren Bildern.

      Die Tür öffnete sich, eine Pflegerin trat ins Zimmer, eine attraktive Frau mit roten Nägeln und getuschten Wimpern. «Schön, dass Sie Besuch haben, Frau Bender.» Sie machte sich an den Apparaturen zu schaffen, wechselte die Flasche für die Infusion, die über dem Bett hing, setzte eine Ampulle mit einem Medikament ein. «Frau Bender ist gut aufgehoben bei uns. Nicht wahr?»

      Mit geschlossenen Augen deutete Anita ein Nicken an. «Daniel besucht mich.»

      «Doktor Meyer vom Notfall», erklärte die Pflegerin. «Wollen Sie sich nicht setzen?» Sie deutete auf einen Stuhl.

      Andrea schüttelte den Kopf. Sie musste gehen, Daniel wollte sie auf keinen Fall begegnen. Keine alten Geschichten aufwärmen.

      Die Pflegerin hob Anitas Kopf sacht an, liess die Kopfstütze zurückfahren, beugte