Spurlos. Emil Zopfi

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Название Spurlos
Автор произведения Emil Zopfi
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783857919534



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kam ihr vor, als habe Ning ihre Gedanken gelesen.

      «Der Arzt hatte verboten.» Er hatte geraucht, trotz zwei Infarkten.

      Ning schien irritiert, dass sie jetzt weinte, während sie bei Roberts Abdankung im Krematorium gefasst und ohne Tränen geblieben war. Andrea erzählte, dass sie seine Asche auf einen Berg getragen habe.

      «Hast du zerstreut?»

      «Ich hab’s nicht übers Herz gebracht.»

      Ning lächelte. «Er ist immer nahe bei dir, wenn du auf den Berg steigst.»

      «Ja, vielleicht.» Andrea wischte sich mit dem Papiertaschentuch die Augen, verabschiedete sich rasch, schritt über die Platten zum Gartentor. Dort blieb sie stehen, schaute zurück. Ning stand unter der Tür und winkte. In ihrem weiten Batikkleid sah sie aus wie ein Teenager.

      Andrea kehrte nochmals um, umarmte Ning und küsste sie. Dann hüpfte sie auf einem Bein der Brombeerhecke entlang über den Plattenweg und schloss das Gartentor ein letztes Mal hinter sich.

      8

      «Wo willst du hin?» Sie stand vor ihm, die Fäuste in die Hüften gedrückt. Sie roch nach Pfefferminze, kaute einen Kaugummi mit offenem Mund. Er sah ihre gelben Zähne.

      «Geht dich nichts an», presste Magnus hervor, nestelte an den Schnürsenkeln, die verknotet waren.

      «Willst du wieder hinüber?»

      Hatte sie die Schnürsenkel geknüpft? Damit er nicht weglaufen konnte? Der Knoten war nass und festgezogen, er mühte sich ab.

      «Schau mich an, wenn ich mit dir rede!»

      Magnus kniete vor ihr, ihre Beine schoben sich heran. Schenkel, prall wie Würste, von blauen Adern durchzogen.

      Sandra ist eine Nutte, hatte einer im Dorf gespottet und vor ihm auf den Boden gespuckt. Dein Alter hat sie gekauft, in Pratt, im Puff. Magnus schlug mit beiden Fäusten zu, bis der andere am Boden lag und aus der Nase blutete.

      Eines Tages war sie eingezogen, hatte sich ins Doppelbett an den Platz seiner Mutter gelegt. Sandra ist jetzt unsere Mama, sagte Vater. Er traute sich nicht, Magnus in die Augen zu schauen. Kaum ein Jahr nach Mutters Unfall war das. Nachts hörte er durch die Täferwand, wie sie stöhnte und das Bett knarrte. Da hatte er ein erstes Mal seinen Rucksack gepackt, war losgezogen über die Berge. Mutter stammte von drüben, hatte ihm von dem grossen Fluss erzählt. Von den Lastschiffen, die bis zum Meer fuhren.

      «Was streunst du in den Bergen herum? Was treibst du dort oben?» Sandra schrie. Vater konnte sie nicht hören, wenn die Drechselmaschine oder die Bandsäge kreischte. Er wollte nicht hören. Er wusste, dass sie ihn plagte, seit er wieder zu Hause war. Warum sagte er nichts? Warum hatte er sie ins Haus gebracht? Warum war Mutter mit dem Auto in die Schlucht gestürzt, in jenem Winter? Die Strasse vereist. Zu schnell gefahren. Absichtlich, munkelten die Leute, schauten ihn scheel an. Dass er es nur höre.

      Endlich konnte er den Knoten mit den Fingernägeln lösen, die Schnürsenkel binden. Er stand auf, schlüpfte in die Riemen des Rucksacks, hängte den Feldstecher um, drückte den Hut auf den Kopf.

      «Warum kannst du nicht etwas Vernünftiges arbeiten? Zum Beispiel deinem Vater in der Werkstatt helfen. Andere in deinem Alter lernen einen Beruf.»

      «Hab’s versucht. Ging nicht.»

      «Dumm geboren und nichts dazugelernt. Du bucklige Missgeburt, du gehörst in eine Anstalt.»

      Er zog die Oberlippe zwischen die Zähne. «Lieber eine Missgeburt als eine Nutte.» Er duckte sich, ihre Hand schlug ins Leere.

      «Dein Vater ist krank. Der Kummer wegen dir bringt ihn um.»

      Magnus hasste sie. Seit sie eingezogen war, ekelte ihn alles im Haus. Er musste hinaus, fort, hinüber. Das letzte Mal war er nur bis in ein Dorf gekommen. Zwei Bauern in Lodenjacken hatten ihn angehalten, zur Polizei gebracht. Im Heim hatte er gelernt, sich zu wehren. Sich durchzuschlagen. Zwei linke Hände habe er, sagte sein Lehrmeister. Aber stark waren sie. Er würde sich nicht mehr anfassen lassen von zwei Dorftrotteln.

      In der Werkstatt sirrte die Drechselmaschine. Ein Stück Kirschbaumholz rotierte, Vater führte den Drechselstahl, Späne schälten sich ab in Locken. Eine Speiche für ein Spinnrad. Zwei waren schon fertig, mit einem Leintuch zugedeckt neben der Werkbank. Als Anita noch in der «Alpenrose» wirtete, stand immer ein Spinnrad in der Gaststube. Touristen kauften gelegentlich eines. Früher hätten die Leute im Dorf Flachs gesponnen, erzählte Vater einmal. Sie sassen im Winter in der Stube, arbeiteten und erzählten Geschichten. Fernsehen gab es noch nicht. Auch Grossvater hatte schon Spinnräder gebaut.

      Vater trug eine Schutzbrille, er blickte nicht von der Maschine auf, als Magnus vorbeiging. Er würde den Drechselstahl erst absetzen, wenn die Spindel fertig war, dann die Maschine ausschalten, ans Fenster treten, hinausstarren. Zum Glockenturm, zur «Alpenrose». Vielleicht sah er gar nichts, dachte an Mutter, an Grossvater, an früher. Er war wirklich krank. Schmal, grau und verkrümmt war er geworden. Dafür wurde Sandra immer fetter. Es war, als fresse sie ihn auf.

      Magnus schritt bergan. Nach einer halben Stunde erreichte er den Wald. Er öffnete das Tor im Viehzaun, hängte den Drahtring wieder ein, mit dem es geschlossen war, setzte sich auf einen Stein. Der Himmel war bedeckt, kalter Wind zog durchs Tal herauf. Bald begann er zu frieren.

      9

      Ein Gemisch aus Schnee und Regen fiel aus schwerem Gewölk. Es will nicht Frühling werden, dachte Andrea, während sie über die mit Matsch bedeckten Felsplatten hinunterstieg. Trotz des Wetters war sie zur Hohen Platte aufgestiegen, hatte den Klettersteig kontrolliert, Bohrhaken ersetzt, Drahtseile festgemacht. Ein Auftrag des Tourismusvereins von Pratt. Sie war froh darüber, wegen der Reise nach Patagonien hatte sie keine Aufträge für den Frühling gebucht, und in dieser verregneten Saison meldeten sich die Sommergäste nur zögernd. Rock’n’Ice, ihre Kletterschule, steckte wieder mal tief in den roten Zahlen.

      In der Blockwohnung in Pratt fühlte sie sich gefangen und gelähmt, sie hockte vor dem Computer, klickte im Internet herum. Buchhaltung? Nein danke! Ihren Freunden war am Cerro Torre eine Erstbesteigung geglückt, berichteten sie in einer E-Mail. Und sie? Sie hatte die Asche ihres alten Herrn auf den Berg getragen und sich mit Ämtern und Immobilienmaklern herumgeschlagen. Roberts letzte Rechnungen waren bezahlt, das Haus stand zum Verkauf.

      Während sie auf dem Fusspfad zu Tal schritt, flötete ihr Handy, sie zog es aus der Windjackentasche, sah auf das Display. Eine unbekannte Nummer.

      «Andrea?» Eine aufgekratzte Stimme. Es war Daniel.

      «Ja», sagte sie, blieb stehen, starrte ins Schneetreiben.

      «Wo bist du?»

      «Am Berg.»

      «Du hast Anita besucht. Ich hab dich gesehen.»

      «Na und?» Sie hörte Stimmen im Hintergrund, Klappern und Klirren. Spitalgeräusch.

      «Bist du noch dran?», fragte er nach einer Weile.

      «Ja.»

      «Es geht Anita nicht so gut.»

      «Wird sie’s schaffen?»

      «Ein bisschen Hoffnung gibt es immer.»

      «Die Krebsdiät?»

      «Gelegentlich hilft der Glaube, wenn die Wissenschaft versagt.»

      Andrea schob mit der Schuhspitze den Schneematsch vom Weg, lauschte dem Klirren und Murmeln im Hörer und dem Rauschen des Bachs in der nahen Runse.

      «Bist du noch da, Andrea?», fragte Daniel.

      «Ja sicher», sagte sie.

      «Ich wollte dich ansprechen im Spital, aber …»

      Er schwieg, und auch Andrea blieb stumm. Seit ihrem Besuch bei Anita hatte sie seinen Anruf erwartet, hatte sich Antworten zurechtgelegt. Wir wollen doch nicht wieder von vorn beginnen. Du gehst deinen Weg, ich geh meinen, okay?