Eingeäschert. Doug Johnstone

Читать онлайн.
Название Eingeäschert
Автор произведения Doug Johnstone
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783948392437



Скачать книгу

align="center">

       5

       HANNAH

      Hannah war ziemlich beunruhigt. Sie stand in Mels Zimmer und kam sich vor wie ein Eindringling. Draußen war es inzwischen dunkel, und im gelben Licht der Straßenbeleuchtung wirkte der Raum schäbig. Sie fuhr mit einem Finger über ein Bücherregal, zog eine Schublade des Schreibtischs auf und fand außer Briefpapier nur wenig.

      Sie hatte Mels Social-Media-Accounts gecheckt, einmal am früheren Abend, dann noch mal vor zwanzig Minuten. Keine Aktivitäten. Sie hatte alle ihre Freunde angerufen, und niemand hatte Mel heute gesehen. Soweit Hannah herausfinden konnte, war sie die Letzte gewesen, die mit Mel geredet hatte. Sie hatte einen vollen Tag an der Uni, Strömungslehre im Labor morgens, zwei Vorlesungen und ein Seminar am Nachmittag, und bei keinem war Mel aufgetaucht. Und sie hatte ausdrücklich gesagt, sie werde für Hannah mitschreiben.

      Hannah hatte zuerst Xander angerufen, der sagte, er habe sie seit Mittag am Vortag nicht mehr gesehen. Er war Astrophysiker, ein noch komplexeres Fachgebiet als das Zeug, das Hannah und Mel studierten. Sie versuchte, sich darüber klar zu werden, was sie über ihn wusste. Er war mit Hannah, Mel und ein paar anderen im Quantum Club, und seine Eltern hatten irgendwas mit dem Militär zu tun und lebten im Ausland.

      Sie rief einige weitere Namen in Mels Kontaktliste auf dem Handy an, aber keiner hatte von ihr gehört. Das galt auch für ihren Bruder Vic, der in der Stadt in der Fruitmarket Gallery arbeitete. Er stand seiner Schwester sehr nahe und sagte, er habe tags zuvor mit ihr gesprochen, allerdings nur Small Talk wegen ihres Treffens mit ihren Eltern zum Mittagessen. Er war betroffen, als er hörte, dass Mel nicht aufgetaucht war.

      Hannah postete im Forum für Physikstudenten im dritten Jahr, fragte in die Runde, ob jemand sie gesehen hatte, und versuchte dabei, den Ball flach zu halten. Sie ging Mels WhatsApp-Nachrichten und SMS durch, fand aber nichts, um auch nur eine Augenbraue hochzuziehen.

      Sie ging in Gedanken noch mal ihr Frühstück an diesem Tag durch. Sie war nicht wirklich da gewesen, weil sie an fast nichts anderes als Jims Einäscherung denken konnte. Hatte Mel anders gewirkt als normalerweise, war sie ein bisschen nervös oder ängstlich gewesen? Vielleicht vernebelte Hannahs aktuelle Gemütsverfassung ein wenig ihre Erinnerung.

      Sie sah auf Mels Handy auf die Uhr, fast zwei morgens.

      Indy war jetzt hinter ihr in dem Zimmer. »Was denkst du?«

      Hannah schüttelte den Kopf, nahm ihr eigenes Handy heraus und wählte 101, die allgemeine Nummer der Polizei. Sie sah Indy an, während sie darauf wartete, dass jemand ranging.

      »Hallo«, sagte sie. »Ich möchte eine Vermisstenanzeige aufgeben.«

       6

       JENNY

      Jenny spürte den Rand der Matratze unter ihrer Hand und war einen Moment lang verwirrt, dann erinnerte sie sich und öffnete die Augen. Sie war froh, dass der Raum seit ihrer Kindheit renoviert worden war, was ihr ein wenig Distanz ermöglichte. Es wäre einfach zu viel gewesen, als Frau mittleren Alters hierher zurückzukommen und im gleichen Bett zu liegen, in dem sie als Teenager an Kurt Cobain gedacht und sich berührt hatte.

      Aber ein oder zwei Erinnerungen gab es dennoch. Die knarrende Holzdiele neben dem Bett war nie repariert worden, und das Geräusch, das sie machte, als sie aufstand, war überwältigend nostalgisch, schleuderte sie zurück durch die Jahrzehnte in die Zeit, als sie noch ein Kind war. An der Wand neben der Tür konnte sie noch die Delle im Putz sehen, wo sie mehrere Male hingeschlagen hatte, als sie wütend darüber war, dass Susan Wilson mit Andy Shepherd ausging, obwohl Susan genau wusste, dass Jenny auf ihn stand. Und in der unteren Ecke des Fensters waren immer noch ihre Initialen ins Glas gekratzt, so deutlich, als wären sie ihr auf die Brust tätowiert.

      Wieder hier zu sein, meine Güte. Mum brauchte sie, aber Jenny redete sich nicht ein, dass es nur vorübergehend war. Mit fünfundvierzig Jahren hatte Jenny keine Wohnung, kein Vermögen, keinen Job, keine Ehe. Sie konnte genauso gut hier sein, denn welchen besseren Ort als ein Bestattungsinstitut konnte es geben, um sein Leben zu beschließen?

      Sie sah auf den geöffneten Koffer auf dem Boden, aus dem ihre Klamotten chaotisch herausquollen. Der Rest ihrer Habe befand sich in einer Handvoll Kartons im Lagerraum unten. Archie hatte ihr geholfen, am Abend zuvor bei Nacht und Nebel aus der Portobello-Wohnung zu verschwinden. Ihren ganzen Kram zusammenzupacken war deprimierend schnell gegangen, und ihre miesen Möbel ließ sie als Teilzahlung für ihre Mietrückstände da.

      Sie konnte nicht begreifen, wie es so weit hatte kommen können. Vor zwanzig Jahren, als sie diese Wohnung an der Bellfield Street gemietet hatten, war sie verheiratet, schwanger und verliebt gewesen. Sie und Craig waren pleite, beide freiberufliche Schreiberlinge, sie machte Kulturreportagen, sein Ding war die Politik. Ohne festes Einkommen hatten sie keine Chance, wohnungsmäßig weiterzukommen, aber sie hatten angenommen, dass alles besser werden würde. Stattdessen ging es mit dem Journalismus bergab, Craig verließ sie und verdiente erst mit der PR-Agentur, die er mit Fiona gründete, richtig Geld.

      Dorothy und Jim hatten angeboten, Jenny und Hannah bei sich aufzunehmen. Vor allem Jim war sehr aufgebracht, dass Craig ging, war wütend bei der Vorstellung, dass irgendein Mann seine Familie hintergehen konnte. Er mehr noch als Dorothy versuchte, Jenny und Hannah zurück in den Schoß der Familie zu holen, lange Spielesitzungen und viel Eiscreme mit seiner Enkelin, spätabendliche Unterhaltungen am Telefon mit Jenny, in denen er sie anflehte, nach Hause zurückzukommen. Aber etwas daran wurmte sie. Der Gedanke, dass sie ihre Tochter nicht ernähren konnte. Was im Rückblick dummer Stolz war. Außerdem wollte sie nicht, dass Hannah wie sie in der Nähe von Leichen aufwuchs. Also verdoppelte sie ihre freiberuflichen Anstrengungen, legte sich ins Zeug, um die Miete zahlen zu können, vielleicht auf Kosten ihrer Beziehung zu Hannah. Vielleicht war es die falsche Entscheidung gewesen, eine der Millionen falscher Entscheidungen in ihrem Leben, die sie am Ende wieder ins Haus der Skelfs zurückgeführt hatten.

      Sie stellte sich die Tausende von Leichen vor, die dieses Haus passiert hatten, stellte sich vor, wie sie sich alle aus Gräbern überall in der Stadt erhoben, wie ganze Horden von Zombies nach Greenhill Gardens marschierten, um ihre Verbindungen zu den Lebenden zurückzuverlangen. Vielleicht machte sie das ja auch, versuchte, ihren Vater zurückzubekommen, wieder eine Beziehung zu Mum aufzubauen.

      Sie nahm einen Morgenrock aus ihrem offenen Koffer, zog ihn an und tapste in die Küche. Schrödinger hockte auf einem ramponierten Ledersessel vor einem der Fenster, das Gesicht der Sonne zugekehrt, die durch die Bäume schimmerte. Er begrüßte sie nicht. Jenny schnappte sich einen Becher, füllte Kaffee und Wasser in Dorothys große Kanne auf dem Herd. Zu Hause brachte sie bestenfalls einen Pulverkaffee zustande, daher würde diese kolumbianische Röstung ihr wahrscheinlich den Kopf wegballern.

      Sie ging zum Fenster.

      »Hey, Katze.«

      Nichts. Sie kraulte ihn im Nacken. »Hör zu, wir beide müssen miteinander klarkommen, denn ich werde jetzt eine Weile hierbleiben.«

      Schrödinger streckte sich nach der anderen Seite des Sessels, drückte seine Krallen ins Leder.

      »Leck mich«, sagte Jenny.

      »Über wen fluchst du?« Dorothy kam durch die Tür und sah überraschend jugendlich frisch aus.

      »Deinen Kater«, antwortete sie. »Er hasst mich.«

      »Er spricht darauf an, wenn er beschimpft wird, genau wie Menschen.«

      Jenny lächelte und kehrte zum Herd zurück, begann, Kaffee zu machen. »Willst du einen?«

      Dorothy schüttelte den Kopf. »Ich gehe aus, treffe mich mit einem Freund.«

      »Wen?«

      Dorothy blieb stehen. Sie trug eine weit geschnittene Baumwollhose und eine bordeauxrote, am Hals offene Seidenbluse. Beides stand ihr, sie hatte schon immer ein Händchen dafür, sich geschmackvoll zu kleiden.