Eingeäschert. Doug Johnstone

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Название Eingeäschert
Автор произведения Doug Johnstone
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783948392437



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Atome, die in ihren Haaren, auf ihrer Kleidung, ihren Schuhen, in ihrer Nase, den Ohren und im Hals hängen blieben. Sie leckte an ihrem kleinen Finger und steckte ihn in den Staub im Aschekasten, leckte ihn dann wieder ab.

      Er schmeckte nach Lagerfeuer und Erde. Alles, was von fünfzig gemeinsamen Jahren übrig war. Sie atmete tief ein und sah auf den Einbalsamierungstisch daneben, auf die Flaschen mit Chemikalien und die Pumpen, aufgereiht auf dem hinteren Arbeitsplatz, die Messer, Scheren, Cremes und Sprays, die faltbare Trage, auf der die Leichen hereingebracht wurden. Das Abholen von Leichen war ein Job für zwei, den Jim und Archie jahrelang gemeinsam erledigt hatten. Jetzt würde ein anderer den Platz einnehmen müssen, vielleicht sie. Sie hatte sich zusammen mit Jim jahrelang um die Organisation von Beerdigungen gekümmert, aber mit der körperlichen Seite des Geschäfts hatte sie nie zu tun. Sie war gut in Logistik, konnte mit Menschen umgehen, hatte ihr ganzes Leben immer wieder nebenbei in der Firma mitgearbeitet, während sie gleichzeitig Jenny großzog. Indy könnte das übernehmen, zumal sie ja ohnehin die Ausbildung zur Bestattungsunternehmerin machte, sie war zwar klein, aber auch stark und zäh auf eine Art wie keine der Skelfs. Dorothy sah es in dem Moment in ihr, als sie sich begegneten, genau wie bei Archie. Alle gehörten zu ihrer erweiterten Ersatz-Familie. Eine Familie, die nun ihr Herz verloren hatte.

      Sie verließ den Raum, schaltete das Licht aus, ließ ihren Mann im Dunkeln zurück, seinen Aschegeschmack immer noch auf ihrer Zunge, seinen spitzen Knochen mit ihrem Blut darauf in ihrer Tasche vergraben.

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      Stirnrunzelnd saß sie am Schreibtisch in dem kleinen Büro und hatte vor sich Papiere ausgebreitet. Sie trank einen Schluck Whisky und saugte nachdenklich an ihren Zähnen. Sie hatte die ganze Woche zu viel getrunken, seit sie Jim auf dem Boden des Badezimmers gefunden hatte, die Augen geöffnet, die Schlafanzughose um die Knöchel.

      Sie nahm den Kontoauszug erneut in die Hand, rückte die Brille zurecht und verglich ihn mit einem anderen Blatt. Sie brauchte hier drinnen entweder mehr Licht oder eine bessere Brille. Sie dachte an Jims Augäpfel, die ins Nichts verdunstet waren. Sie sah auf ein geöffnetes Kontenbuch und kniff die Augen zusammen, als sie ihren Finger die Seite hinuntergleiten ließ. Etwas stimmte hier nicht.

      Jim kümmerte sich immer um die geschäftliche Seite von allem, Dorothy hatte überhaupt kein Händchen für Zahlen. Hannah hatte ihre Liebe für die Mathematik von ihm. Vielleicht verstand Dorothy es falsch, aber es schien Geld zu fehlen. Es war kein großer Geldbetrag abhandengekommen, vielmehr ging von ihrem Geschäftskonto ein fester Betrag über Monate ab. Nein, über Jahre. An eine Kontonummer mit einer Bankleitzahl, die ihr nichts sagte, ohne Nennung eines Namens. Sie kramte in den Unterlagen, sah wieder hin, trank einen weiteren Schluck Highland Park. Der Whisky half auch nicht weiter.

      Sie seufzte. Vielleicht übersah sie etwas ganz Einfaches, etwas, das die fünfhundert Pfund erklärte, die seit Jahren jeden Monat von ihrem Konto abgebucht wurden. Sie müsste davon wissen, Jim hätte es ihr gesagt. Da er ihr nichts davon gesagt hatte, bedeutete es, dass es ein Geheimnis war, und damit kam sie nicht klar. Sie musste mit jemandem sprechen, aber die Person, mit der sie immer sprach, wenn etwas nicht in Ordnung war, war Jim.

      Sie suchte in den Papieren auf dem Tisch und fand ihr altes Nokia, ging die Handvoll gespeicherter Kontakte durch und hörte bei Thomas auf. Sie betrachtete einige Sekunden seinen Namen, dann rief sie ihn an, schob ihre Brille auf den Kopf hoch. Sie trank Whisky und lehnte sich auf dem Stuhl zurück, presste zwei Finger auf ihren Nasenrücken und lauschte auf das Klingeln am anderen Ende der Leitung.

      »Hallo?«

      »Hi, Thomas, ich bin’s, Dorothy.«

      »Ist ein bisschen spät.« Er klang verschlafen. »Mit dir alles okay?«

      Sie warf einen Blick auf die Uhr an der Wand. Ein Uhr nachts. »Hab ich dich geweckt?«

      »Worum geht’s?«

      Sie waren seit fünf Jahren befreundet, seit er in ihren Yogakurs gekommen war. Er hatte die Aufmerksamkeit aller auf sich gezogen, jeder Mann in einem Yogakurs erhält Aufmerksamkeit, besonders ein großer Schwarzer mit einem Akzent, der zwischen Schottland und Schweden pendelte. Als die Frauen erfuhren, dass er Polizist war, war das einfach zu viel. Dorothy mochte ihn auf Anhieb, er war sanfter als die schottischen Männer, die sie kannte, obwohl er Cop war. Zwei Monate nach diesem ersten Kurs begegnete sie ihm zufällig auf der Chambers Street, und sie gingen einen Kaffee trinken. Es fühlte sich gut an, mit einem Mann zu reden, der nicht ihr Ehemann war. Weiter nichts.

      Dann starb vor zwei Jahren plötzlich Thomas’ Frau Morag. Herzinfarkt beim Fahrradfahren im Southside-Verkehr, sie erwischte den Bordstein und krachte gegen einen parkenden Lieferwagen. Die Skelfs übernahmen die Beerdigung. Es musste bei ihr nicht viel wiederhergestellt werden, es wäre schlimmer gewesen, wenn sie mit einem entgegenkommenden Fahrzeug kollidiert wäre. Thomas und Morag hatten keine Kinder, und seine ganze Familie war in Schweden, also sprang Dorothy ein, und sie freundeten sich an. Jim wusste, dass sie sich zum Kaffee trafen, und vielleicht empfand er es als komisch, aber er sagte nie etwas.

      Thomas’ Trauer klang mit der Zeit ab, etwas, das Dorothy schon Hunderte Male zuvor gesehen hatte. Sie dachte über ihre eigene Trauer nach. Es war bei jedem Menschen anders, das wusste sie nur zu gut. Nach dem anfänglichen Schock, als sie Jim aufgefunden hatte, hatte sie sich tagelang ihrem Schmerz hingegeben. Alles Nötige für den Scheiterhaufen zu organisieren, hatte ihr einen Fokus gegeben, aber gleichzeitig hatte es sie betäubt. Auch das hatte sie so oft bei Kunden beobachtet. Sie fragte sich, wann die Wellen aufschlagen würden, wie schlimm es kommen würde, wie tief sie versinken würde. Aber sie würde es überleben, jeder überlebte es, und mit der Zeit würde der Schmerz nachlassen. Das war fast genauso unerträglich, das Wissen, dass die Trauer wie auch ihre Erinnerungen an Jim mit der Zeit verblassen würden.

      »Jim ist tot«, sagte sie.

      »Ach, Dorothy.«

      Sie massierte ihre Stirn. »Herzinfarkt.«

      Das Wort hing zwischen ihnen, bot ihnen eine Verbindung zum anderen, da ihre Partner beide auf die gleiche Art gestorben waren.

      »Es tut mir leid«, sagte Thomas.

      »Es ist vor einer Woche passiert«, sagte Dorothy und ließ den Whisky in ihrem Glas kreisen. »Nachts, als er auf der Toilette war. Ich habe ihn erst morgens gefunden. Wo ist da die Würde?«

      Sie hatte niemandem Einzelheiten darüber erzählt, wie sie ihn gefunden hatte. Sie hatte ihm die eingenässte Schlafanzughose ausgezogen und in den Wäschekorb gesteckt. Hatte eine frische aus der Kommode geholt und ihm über die Beine gezogen, danach hatte sie ihn ins Schlafzimmer geschleift und aufs Bett gewuchtet. Er war seit Stunden tot, seine Haut war kalt, ein Gefühl, das sie aus ihrer Branche kannte. Sie legte ihn hin und hielt ihn eine halbe Stunde im Arm, versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. Erst eine Stunde später rief sie einen Arzt an, denn wenn sie das erst mal getan hatte, gehörte Jim ihr nicht mehr, dann gehörte sein Tod jedem. Sie wollte, so lange sie konnte, es für sich behalten.

      »Vor einer Woche?«, fragte Thomas.

      In seinem Ton schwang ein leichter Tadel mit. Warum hatte sie es ihm nicht schon früher gesagt? Er hätte helfen können.

      Aber wie hätte er denn?

      »Wir haben ihn heute eingeäschert.«

      »Wenn du es mir gesagt hättest, wäre ich gekommen.«

      »Wir haben es niemandem gesagt.«

      Sie hörte, wie er sein Gewicht verlagerte, und fragte sich, ob er immer noch die gleiche Seite des Bettes wie damals nutzte, als Morag noch lebte. Sie hatte sich in der vergangenen Woche nicht ausgebreitet, denn Jims Seite des Bettes zu benutzen, kam ihr ihm gegenüber wie eine Beleidigung vor.

      »Falls ich irgendwas tun kann …«, sagte Thomas.

      Dorothy zog die Brille vor ihre Augen und starrte den Papierkram auf dem Schreibtisch an.

      »Da ist etwas, wobei du mir helfen kannst«, sagte sie und nahm einen Kontoauszug in die