Gegenwindschiff. Jaan Kross

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Название Gegenwindschiff
Автор произведения Jaan Kross
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783955102630



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sage zwanzig Mann, dann ist das noch vorsichtig ausgedrückt. Genauso gut könnte man sagen, zweihundert. Denn zu uns auf die Reede von Sogod reisten die Amerikaner mit einem Kreuzfahrtschiff an, das sicher seine zweihundert Mann an Bord hatte. Matrosen in blauweißen Zebrashirts ruderten den wissenschaftlichen Stab an Land, und zwei Stunden lang hallten und schallten unsere Schulbaracke und unser Beobachtungshof von den raumgreifenden Stimmen der Yankees. Übrigens konnte man sie so schwer verstehen, dass ich nicht begreife, wie ich mit meinem Englisch Band für Band ihre wissenschaftlichen Bücher gelesen und meiner Meinung nach großartig verstanden habe, worum es ging.

      Dann nahmen die Amerikaner unsere Apparatur in Augenschein. Im Zusammenhang damit blieb mir einer von ihnen besonders in Erinnerung. Obwohl ich nicht mal seinen Namen richtig in Erfahrung gebracht habe. Ein gewisser Link oder Flink oder Hink. Ich fragte ihn nicht: ›How do you spell it?‹ Ein Mann mittleren Alters mit einem Stiernacken, hellem Bürstenhaarschnitt und blonden Wimpern. Er betrachtete unseren Horizontalspiegel mit der 55-Zentimeter-Öffnung und insbesondere dessen Regulierungsvorrichtung, die ich für unsere Lapplandexpedition konstruiert hatte, und fragte:

      »Aber warum haben Sie denn dieses Spielzeug aus Ihrem Hamburg bis hierher geschleppt? Kann man damit etwas Vernünftiges unternehmen?«

      Ich sagte: »Spielen bestimmt …«

      Aber Baade fragte grausam sachlich, ob die Herren amerikanischen Kollegen zufällig unsere Sonnenaufnahmen gesehen hätten, die wir vor zwei Jahren in Jokkmokk gemacht haben. Natürlich hatten sie sie gesehen. Sie hatten sie sogar detailliert studiert. Der gleiche Drink oder Prink sagte:

      »To be sure! These are the best ever made!«

      Und Baade zog seine etwas kurz geratene Oberlippe hoch, sodass seine breiten Zähne blitzten, und verkündete, sodass ich gleichzeitig peinlich berührt war und triumphierte:

      »Eben. Sie alle sind das Werk von Herrn Schmidt und von ebendiesem seinem Apparat.«

      Daraufhin rief derselbe Herr Flink »Incredible!« und bot mir eine Zigarre an, die ich ausschlug.

      Zum Schluss tranken die Amerikaner auf dem Balkon des Schulhauses einen Whiskey auf unseren Erfolg und boten uns davon an (die Matrosen oder Küchenjungen des Kreuzfahrtschiffs in den Zebrashirts hatten Eiskisten mit Sodawasser dabei). Dann fuhren sie weg, und Baade schickte sich an, die Eindrücke ihres Besuches zu erörtern. Da er keine anderen Partner hatte, musste er dies mit mir tun, obwohl ich seine Kommentare nicht kommentierte. Letztendlich doch bedeutungsloses Gewäsch. Ein Mensch kann in Gedanken alles Mögliche erörtern. Die irrsinnigsten Dinge, wenn es ihm Spaß macht. Aber warum soll man für alle hörbar etwas erörtern? Also hörte ich ihm stumm zu. Bis auf einen Moment. Da sagte ich:

      »Doktor, es war nicht nötig, ihnen unter die Nase zu reiben, dass die Jokkmokk-Fotos mit diesem Apparat gemacht worden sind. Man hätte sie in dem Glauben belassen sollen, dass wir hier mit Spielzeug spielen.«

      Ich gebe zu, dass ich nicht ganz aufrichtig war, als ich das sagte. In Wirklichkeit war es eine Lüge. Eine Lüge aus übertriebener Zurückhaltung. Möglicherweise gar ein Versuch, von Baade noch einmal Lob für meinen Apparat und meine Arbeit zu erheischen. Offenbar hatte meine Seele das immer noch nötig. Weswegen es mir in Wahrheit trotz aller peinlichen Berührtheit überhaupt nicht gegen den Strich ging, dass Baade meine Arbeit den Amerikanern gegenüber gelobt hatte. Aber für diese Unaufrichtigkeit bekam ich augenblicklich die Quittung. Baade sagte (und er war natürlich überaus aufrichtig):

      »Nein, nein, werter Kollege. Das war notwendig. Begreifen Sie denn nicht? Das erforderte die Reputation der deutschen Wissenschaft!«

      Und ich fürchte, dass mir für einen Moment vor Überraschung der Unterkiefer runterklappte. Niemand hatte mir das jemals gesagt, selbst habe ich nie – ich glaube wirklich niemals – darüber nachgedacht: Ich war also, zumindest nach Baades Auffassung, ein deutscher Wissenschaftler? Und wahrscheinlich nicht nur nach seiner Auffassung. Ich spürte, wie etwas in mir aufzuckte und protestieren wollte. Aber gleichzeitig begriff ich, dass er von seinem Standpunkt aus betrachtet recht hatte. Denn welchen Landes Wissenschaftler war ich denn in erster Linie? Wenn ich beinahe dreißig Jahre in Deutschland gelebt und gearbeitet hatte? Zwar mit Unterbrechungen auf Naissaar und in Tallinn, aber überwiegend doch in Deutschland. Deutsche Auftraggeber und deutsche Instanzen haben mir meinen Brotverdienst gegeben. Deutsche Wissenschaftler waren es, die mit meinen Objektiven und Spiegeln den Himmel erforschten – Schwarzschild, Vogel, Schorr und wie sie alle hießen, nur Deutsche. Abgesehen von einigen Amateuren, einer in Pärnu, einer in Göteborg, ein paar in Frankreich. Eine andere Frage ist, welchen Landes Wissenschaftler ich gerne gewesen wäre. Überhaupt war die Sache nicht so einfach. Ich hatte beinahe achtzehn Jahre mit einem russischen Pass und zehn Jahre mit einem estnischen Pass in Deutschland gelebt. Für meinen estnischen Pass bin ich mitten in einer hektischen Arbeitsphase von Mittweida nach Berlin zu Eduard Wilde gefahren – der Herr Schriftsteller war damals für kurze Zeit estnischer Botschafter in Deutschland. Der Pass der neuen Republik wurde mir in der Hildebrandstraße ohne viel Palaver ausgestellt. Oder genauer gesagt: gerade mit gehörigem Palaver. Denn der alte Herr – er schien seine sechzig auf dem Buckel zu haben, aber ich weiß nicht genau, wann er geboren ist –, der alte Herr geruhte in seiner unzufriedenen Langeweile sich eine Stunde lang mit mir zu unterhalten. Was für ein Mann ich sei, und was ich hier in Deutschland täte und warum ich unverzüglich hier aufgetaucht sei, um einen Pass der Republik Estland zu beantragen. Also gab ich Erklärungen, nicht ohne mich meinerseits nach dem einen oder anderen zu erkundigen. Dass ich aus Naissaar gebürtig sei und dass Naissaar nun ein Teil der Republik Estland sei, wie mir Mutter ganz deutlich geschrieben hatte. Es sei also in jeder Hinsicht das Natürlichste von der Welt, wenn ich Bürger der Republik Estland würde. Wenn nun einmal überraschenderweise eine solche Republik geboren sei. Aber dass mich gleichfalls außerordentlich interessiert, was für ein Staat das genau ist oder werden will.

      Mir scheint, soweit ich mich daran erinnere, dass der Herr Botschafter in dieser Sache Probleme hatte, die er nicht mit einem Wildfremden erörtern wollte. Stattdessen lehnte er sich in seinem Schreibtischstuhl zurück, betrachtete mich durch seinen goldenen Kneifer mit den ovalen Gläsern (ein großes Gentlemangesicht mit einem ruhigen Ausdruck, aber nervöser Haut und einem angegrauten Schnurrbart) und sagte:

      »Ach, Sie stammen aus Naissaar? Sieh an. Da bin ich mal gewesen. Ein einziges Mal. Aber, das muss ich sagen, ein einprägsames Mal.«

      Und dann erzählte er. Wie er als Einundzwanzigjähriger in Gesellschaft der Schauspieler des Deutschen Theaters nach Naissaar ins Grüne gefahren sei. Mit einem Segelschiff von Kalarand aus. Junge Herren mit steifen Kragen und Schnurrbärten und Fräulein in Turnürekleidern. Ein Dutzend Menschen, mit Weinflaschen, Bierkörben und Butterbroten. Er sagte: »Das wissen Sie natürlich selbst, Naissaar war damals kein populärer Ort für Fahrten ins Grüne. Für die Stadtbevölkerung war es ein ziemlich unbekannter und nach Meinung der meisten etwas merkwürdiger Ort. Aber genau deswegen hatten ihn sich die Schauspieler ausgesucht. Theaterleute haben ja immer etwas sonderbare Ideen. Besonders, wenn es sich mehrheitlich um bloße Amateure handelt, die sich verpflichtet fühlen, den Eindruck besonders origineller Geister zu hinterlassen.«

      Weiter erzählte er, wie sie im Bootshafen des Süddorfs an Land gegangen waren, sich auf die Ufersteine gesetzt und eine Stärkung zu sich genommen hatten und dann sieben oder acht Werst durch den prächtigen Mastkiefernwald gewandert waren. Im Norddorf hatten sie auf einem Bauernhof, er erinnerte sich nicht mehr, auf welchem, zu Mittag gegessen, und gegen Abend sei das Ganze zu einem Gelage ausgeartet. Wilde sagte: »Sie verstehen doch selbst, was zieht so junges Volk denn sonst an so einen abgelegenen Ort? Doch nur wegen der Romantik. Besonders, wenn da eine Sofie mit prächtigen kupferfarbenen Haaren und grünen Augen ist. Nennen wir sie Sofie –«, sagte er. »Eine Bekannte eines unserer Schauspieler, von Feldmann oder Bürger« (»Nennen wir sie Feldmann oder Bürger, nicht wahr?«, sagte er), »aus Tallinn, aus den Tagen der Nähschule.« Jedenfalls hatte diese Sofie den Schauspielern – ich weiß nicht, ob im Hause ihres Vaters oder in der Stube eines der Nachbarhäuser – die Tafel gedeckt, sich zumindest zeitweise zu ihnen an den Tisch gesetzt und den Deklamationen von Herrn Feldmann oder Herrn Bürger zugehört, während ihre grünen Augen auf das Tischtuch gerichtet waren und das Abendlicht auf ihren