Gegenwindschiff. Jaan Kross

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Название Gegenwindschiff
Автор произведения Jaan Kross
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783955102630



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      Nun, ich überwand meine Schockstarre und traf meine Wahl zwischen möglichst schnellen und möglichst langsamen Bewegungen. Zugunsten der möglichst langsamen. Ich hatte keine Ahnung, wie viel das Tier in einer Entfernung von anderthalb bis zwei Metern sieht und wie es reagiert. Ich weiß ja nichts von der Psyche eines solchen Wesens. Wir kennen den Skorpion weniger als sein Sternbild. Jedenfalls bewegte ich meine Hand ganz langsam zum Nachttisch und nahm, ohne meinen Kopf zu wenden, das aufgeklappte Taschenmesser vom Nachttisch, mit dem ich mir vor einer halben Stunde die Zehennägel geschnitten hatte. Es war ein sehr scharfes Messer mit einem steifen Scharnier. Ein Federmesser, wie man früher sagte. Angefertigt von meinem Urgroßvater Jakob auf Naissaar in seiner eigenen kleinen Werkstatt, und geschenkt hatte es mir mein Vater zu meinem zehnten Geburtstag, kurz vor seinem Tod. Wenn sich einer mit diesem Messer gegen das Tier verteidigen konnte, dann war ich das. Ich weiß nicht, wie gefährlich das Tier für mich war, aber für das Tier war ich in der gegebenen Situation auf jeden Fall der gefährlichste Gegner unter Zehntausenden, womöglich unter Hunderttausenden. Denn ich hatte jahrelang unermüdlich alle möglichen Handfertigkeiten trainiert. Inklusive Geigenspiel. Was ich dennoch aufgab. Wenn ich zur Befestigung des Bogens eine Klammer, die ich mir dazu ausgedacht hatte, am Ende meines Stumpfes festmachte, konnte ich zwar auf dem Niveau eines Bauerntanzfestes spielen, sagen wir den »Roslagen-Walzer« oder »Für des Vaterlandes Freiheit«, aber zu mehr reichte es nicht. Von der Geige hatte ich also widerstrebend Abschied genommen. Aber Zielwerfen mit dem Messer habe ich endlos trainiert. Mit Entfernungen von einem bis zwanzig Schritt. Mit allen erdenklichen Messern. Inklusive Besteck-, Küchen-, Jagd-, Fisch- und Robbenhäutungsmesser, Finnendolche mit einer Klingenlänge von zwei bis fünfzehn Zoll, wie es sie auf der Insel gab, und Taschen- oder Federmesser jeden Gewichts mit allen möglichen Klingen und Griffen. Ich hatte Millionen von Würfen absolviert. Meine Hand wählt bis heute unfehlbar den Schwerpunkt, an dem sie ansetzen muss, und den Schwung, den sie dem jeweiligen Messer auf das jeweilige Signal hin geben muss.

      Ich hob die Hand ganz langsam ans linke Ohr, drückte das Messer zwischen Daumen und Zeigefinger, zielte – und zögerte. Der Skorpion an der Wand gab ein extrem unbestimmtes Ziel ab. Seine Beine waren ziemlich dünn, sein Körper in der Vorderansicht nur ein Dutzend Millimeter dick, und er befand sich ein Stück weit vor der Jalousie. Wahrscheinlich würde ich ihn treffen, gewiss. Trotz der schlechten Wurfposition. Aber der Schlag wird nicht schwerer sein als sein eigenes kümmerliches Gewicht. Das Messer schleudert das Tier einfach zur Seite und bleibt in der Bambusjalousie stecken. Ich vermag nicht zu sagen, ob ich sofort oder erst später dachte: Der Skorpion fliegt zur Seite und fällt von der Fensterbank oder schafft es sogar hinunterzuspringen, denn er ist ein teuflisch flinkes Tier, und dann landet er auf meinem nackten Fuß und wird vor Schreck unweigerlich seinen Stachel in meinen Spann rammen. Ich zögerte also einen Moment. Und dann geschah das Unglaubliche. Die kaputte Bireme des Odysseus vollzog abermals eine blitzschnelle Bewegung. Ich konnte nicht sehen, wie das vor sich ging, aber plötzlich war er nicht mehr auf der horizontalen Fensterbank, sondern an der Wand, auf dem weißen Putz, direkt in jenem gleichschenkligen Dreieck, dessen Spitze der Mittelpunkt der Fensterbankkante war, während die Endpunkte der Basis von meinen großen Zehen gebildet wurden. Jetzt befand er sich in der idealen Position für einen Treffer: Das Messer würde seinen hinreichend breiten, wenigstens zwanzig Millimeter breiten Vorderleib durchbohren und ihn an die mürbe, verputzte Wand nageln. Vielleicht stellte ich mir eine Sekunde lang vor, als sich die Sehnen meines Handgelenks anspannten, wie der getroffene Skorpion versucht, den eisernen, vom langen Benutzen ganz glatt gewetzten Handgriff von Urgroßvaters Messer abzubeißen. Aber ich zögerte immer noch. Offenbar aus einem anderen Grund. Weil ich begriff, dass an diesem Tier irgendetwas anders war, als es sein sollte, anders als bei den anderen. Es dauerte zwei Sekunden, bevor ich begriff, was es war: Er war nicht symmetrisch, was sie normalerweise sind; und nach einer weiteren Sekunde sah ich, dass das durch seine fehlende rechte Vorderklaue kam. Da bemerkte ich, dass ich immer noch zögerte, und verstand, warum. Weil ein behinderter Mann sich schämte ein behindertes Tier zu töten. Unsere Behinderung (ich verstehe, wie schwachsinnig es klingt, von einem Skorpion und mir selbst als »uns« zu sprechen, zumal ich nicht mal im Sternzeichen des Skorpions geboren, sondern Widder bin), unsere Behinderung verband uns. Ich begriff, dass wir vom Standpunkt des Ideals her beide mangelhaft waren. Wir müssen versuchen zu leben und einander zu verzeihen. Das war ein großartiger Augenblick, einerseits so dämlich (oh nein, ich wage bis heute nicht zu sagen, dämlich), dass er den Verstand verblendete, andererseits so süß, dass er den Verstand überstieg. Ich weiß nicht, was es war. Jedenfalls legte ich das Messer zurück auf den Nachttisch. Leise. Aber wahrscheinlich nicht so leise, wie ich es ergriffen hatte. Und nicht ohne Kopfbewegung. Denn als ich wieder Richtung Skorpion blickte, war er weg.

      Hahaha! Der Moment der Erleuchtung war vorüber. Ich stöberte eine Stunde lang im Zimmer herum. Nicht um ihn zu erschlagen, sondern um ihn aus dem Zimmer zu jagen. Ich verschob den Kleiderschrank, rückte das Bett von der Wand und drehte die Matratze um. Er war nirgendwo. Obwohl ich – ich kann einfach nicht umhin, von »uns« zu sprechen –, obwohl ich unter dem Eindruck unserer kürzlichen Begegnung oder des anstrengenden Tages, der ungewohnten Hitze, der Flut an Eindrücken, der Müdigkeit und des Whiskeys für einen Moment glaubte, dass das absolute Vertrauen gegenüber einem Skorpion um denjenigen, der vertraut, eine Blase der Unberührbarkeit bildet, die der Skorpion nicht durchstechen wird (so wie ein absoluter Glaube Berge versetzt), spürte ich gleichzeitig schmunzelnd meine europäische Unfähigkeit sowohl zu so einem absoluten Vertrauen wie auch zum Glauben. Also ließ ich das Bett mitten im Zimmer stehen und das Licht für alle Fälle an und versank allein dank meiner außerordentlichen Müdigkeit in einem tiefen Schlaf bis zum Morgen.

      Ansonsten geschah in Cebu nichts Besonderes mehr. Wir klapperten am nächsten Tag die nördlichen Punkte ab und entschieden uns doch nicht für Catmon, sondern für Sogod. Das liegt 56 Kilometer nördlich von Cebu, beinahe direkt an der Küste der Camotes-See, wo ein angenehmer Passat für Abkühlung sorgt, und ist mit Cebu durch eine Landstraße verbunden, über die Herr Moll versicherte, dass sie eine der besten Autostraßen hierzulande sei. Nun ja, vorsichtig fahrend schafften wir unsere Ausrüstung heil dorthin, aber um mein Hinterteil machte ich mir zeitweise ernsthaft Sorgen.

      Sogod war, wenn man es aus angemessener Entfernung betrachtet, die reinste Postkartenidylle: Eine alte Kirchenbaracke, katholisch natürlich, im Herzen des Fleckens, Herrenhäuser der Plantagen, das heißt ein paar weiße Bungalows und dergleichen unter Kokospalmen, drum herum gräuliche und bräunliche Hütten mit hohen gelben Strohdächern für das einfache Volk inmitten des vieltönigen Grüns der Mais- und Tabakfelder, zur Rechten das blaue Meer, zur Linken die hügeligen Felder des Binnenlandes, die sich weiter hinten zu Bergen ausweiteten. Aus der Nähe betrachtet war der Flecken ein ziemlich schmuddeliger und verfallener Ort, unglaublich voll mit halbnackten Visayakindern und den Büffeln der Dorfbewohner, Kleinvieh und Hühnern. Einstweilen konnte man sich nur ausmalen, in was für ein Schlammfeld der tropische Regen die lila schimmernde, von Hufspuren übersäte Erde dieser Straßen verwandeln würde.

      Ich weiß nicht, ob die örtliche Schule speziell für uns geräumt worden war oder ob bei ihnen bereits die Sommerferien begonnen hatten, jedenfalls wurde uns das Schulhaus zur Verfügung gestellt. Das war ein einfacher Bretterschuppen mit zwei Klassenzimmern und Nebenräumen. In dem einen Raum richteten wir mein Arbeitszimmer ein, in dem zweiten meinen Wohnraum, der Rest war Lagerraum. Unser Beobachtungsplatz war der Schulhof, genaue Lage 10°45’ nördliche Breite und 124°0’ östliche Länge.

      Und weiter nichts. Wir mussten für unsere Geräte drei Betonsockel gießen und legten ordentlich Hand an. Die vier von Herrn Moll geschickten Visayajungen waren tüchtiger als erwartet. Am achten April fingen wir mit dem Aufbau der Instrumente an. Am zweiundzwanzigsten war unsere Beobachtungsstation fertig. Abgesehen von der letzten Justierung der Geräte. Übrigens hatten wir vor der Sonnenfinsternis für eine Woche umfangreiche Aufnahmen der südlichen Milchstraße geplant, aber daraus wurde nichts. Denn wie verhext zog sich der Himmel jeden Tag gegen sechs, sieben Uhr zu und klarte erst wieder nach den allmorgendlichen heftigen Gewittergüssen auf. So blieb uns nichts anderes übrig, als den neunten Mai abzuwarten und hinsichtlich des Wetters am Tag der Sonnenfinsternis voller Hoffnung und Sorge zu sein. Ach ja, dann bekamen wir noch Besuch von den Amerikanern.

      Ihre Expedition, nicht zwei, sondern an die