Название | Gegenwindschiff |
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Автор произведения | Jaan Kross |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783955102630 |
Ich entgegne, dass dazu im vorliegenden Fall überhaupt keine speziellen Fähigkeiten nötig seien. Besonders, wenn mir Herr Doktor gnädigerweise mit seinen Erinnerungen unter die Arme greifen würde. Was umso leichter sein dürfte, da seine Erinnerungen mit denen seines Vaters eine Einheit bildeten, und meines Wissens war sein Vater Schmidt gegenüber recht wohlgesonnen. Wenn er jetzt doch bitte …
»Jaja. Wohlgesonnen ist sogar noch vorsichtig formuliert. Sehen Sie, mein Vater war kein Gefühlsmensch. Er war Unternehmer. Und Professor, das auch. Aber nebenbei bemerkt hatte er den Titel nicht von irgendeiner Universität bekommen. Er war ihm von der Regierung Preußens für seine wissenschaftlichen und unternehmerischen Leistungen verliehen worden. In erster Linie für den Aufbau und die Leitung seines Unternehmens. Die Firma Kelter war vielen ein Begriff, wie man sagt. Woran denken wir etwa beim Namen Zeiss? Natürlich an eine herausragende Produktion. Das schon. Aber in Massen. Objekte, die individuelle Lösungen erforderten, ultrapräzise und gleichzeitig großformatige Gegenstände, wissenschaftliche Ausrüstung, aber nicht nur, sondern Geräte, die sowohl in der Astronomie als auch beim Militär Verwendung fanden, Sie verstehen, wurden bei ›Kelter‹ in Auftrag gegeben. Zahlenmäßig waren wir kein großes Unternehmen. Aber in der Branche trotzdem sehr angesehen. Einhundertfünfzig Angestellte. Einige davon herausragende Ingenieure. Die präzisesten Kärger-Drehbänke zum Schleifen und Polieren. Hinter den Maschinen die erfahrensten Meister. Und an der Spitze mein Vater. Mit allen per Du. Er war nach Amerika gereist und hatte seine preußische Steifheit abgelegt. Weshalb ihn sogar Arbeiter, gestandene Sozialdemokraten duzten. Das will was heißen. Ich kann Ihnen versichern: eine großartige patriarchale Stimmung, ganz im Geiste der alten Berliner Gesellschaft. Gebildete Techniker und fähige Arbeiter, Hand in Hand, eine Arbeiteraristokratie, würde ich sagen. In der Tat: Das wäre Stoff für einen Roman! Aber ich bitte um Verzeihung. Sie kommen ja von drüben. Es dürfte Sie nicht interessieren, welche Vorbilder es im Bereich der Industrieorganisation irgendwo auf der Welt vor Ihrem Lenin gab.«
Ich stimme zu: »Entschuldigen Sie, Doktor Kelter, aber Sie haben in der Tat vollkommen recht: In diesem Augenblick interessiert mich vor allem Bernhard Schmidt.«
»Jaja!«, ruft Herr Kelter amüsiert aufgebracht, »ich verstehe schon: Romanschreiber sind Sonderlinge – verzeihen Sie mir meine Direktheit – und interessieren sich für Sonderlinge. Denn sonderbar war Ihr Schmidt zweifellos.«
»Erzählen Sie mir, inwiefern.« Ich schalte den Recorder mit einer fragenden Geste ein. Er nickt, es scheint ihn überhaupt nicht zu stören.
»Nun, vielleicht insofern, als er dreißig Jahre in einem Loch wie Mittweida lebte. Das würde ich verstehen, wenn er Philosoph gewesen wäre. Dessen Welt sich in seinem Kopf befindet. Wenn es keine Rolle gespielt hätte. Wie Kants fünfzig Jahre in Königsberg, Husserls fünfundzwanzig Jahre in Freiburg. Oder wenn er selbst Schriftsteller gewesen wäre. Denen ist es offenbar auch egal, in welcher Umgebung sie fabulieren. Aber er war Techniker. Ich verstehe, dass solch ein blinder handwerklicher Individualismus vor zweihundert Jahren noch fruchtbar gewesen sein mochte. Aber im zwanzigsten Jahrhundert?! Wo die ganze technische Entwicklung von Kontakten und Informationen abhängt?! Wie kann ein vernünftiger Techniker – heute wird er bisweilen sogar als Genie bezeichnet – sich für dreißig Jahre in Mittweida vergraben? Mir kommen nur zwei Gründe in den Sinn, und keiner der beiden ist besonders ehrenwert. Erstens: Trägheit. Er blieb dort hängen, wo er zufällig gelandet war. Schlicht aufgrund eines provinziellen Minderwertigkeitskomplexes. Wer aus der einen Peripherie kommt, macht sich nicht die geringste Mühe, die andere zu verlassen. Die zweite Möglichkeit: Blinde Überheblichkeit. Ich bin Bernhard Schmidt von der Insel Nargen, ich brauche euer Berlin und euer München nicht. Egal wo ich sitze, ich arbeite, schwitze, schufte, poliere mich nach oben. Bis ihr alle zu mir kommt. Halt, halt, halt. Ich sehe Ihnen an, dass meine extremen Überlegungen Sie irritieren. Aber Sie wissen aus eigener Erfahrung, dass beide Elemente in der Natur des Menschen vorhanden sind. Natürlich nicht in ihrer chemischen Reinform, also entweder dieses oder jenes. Sondern stets in praktischen Kombinationen. Und überhaupt: Ich bin in keiner Weise mit Ihrer Mentalität da drüben vertraut. Das ist Sache der Sowjetologen. Aber ich habe den Eindruck, dass es Ihresgleichen an unserer objektiven, gleichzeitig messerscharfen und – wenn es Anlass dazu gibt – anerkennenden, unmittelbaren, etwas geschwätzigen Art, kritisch zu denken, fehlt. Bei Ihnen heißt kritisches Denken entweder, etwas zu vernichten oder es in den Himmel zu heben. Und Schmidt gehört bei Ihnen seltsamerweise zu denen, die man in den Himmel hob. Ist es nicht so?«
»Herr Kelter, meine Antwort hat für Sie keinerlei Bedeutung. Schließlich haben Sie weder vor, eine sowjetologische Abhandlung zu verfassen, noch einen Roman über Bernhard Schmidt. Erlauben Sie mir also die Frage: Könnten Sie nun ausführen, wann und unter welchen Umständen Sie seinerzeit nach Mittweida fuhren?«
»Also, es war, glaube ich, im Jahr 1925. Ja. Im Frühjahr 1925. Ich erinnere mich, dass die Inflation vorüber war, und Vater die Fabrik retten konnte. Folglich war nicht die gesamte deutsche Industrie in den Taschen von Stinnes und seinesgleichen gelandet. Wir hatten angefangen, ein neues Haupthaus zu errichten und erste Aufträge vom Staat erhalten. Und dann begann mein Vater, sich schlichtweg dafür zu interessieren, was für ein Mann dieser Schmidt war.«
»Schmidt war zu dieser Zeit also schon ein Begriff?«
»Nun, das nicht. Aber er hatte schon vor dem Krieg für das Potsdamer Observatorium einige überraschend ausgereifte Geräte angefertigt.«
»Und Ihr Vater fuhr im Frühjahr 1925 nach Mittweida, um sich selbst einen Eindruck von Schmidt zu machen?«
»Exakt.«
»Womöglich, um ihn für die Firma anzuheuern?«
»Nein, nein. Nicht doch. Oder vielleicht, hätte er sich als besonders tauglich herausgestellt, wenn Sie verstehen.«
»Und Sie begleiteten Ihren Vater?«
»Ja. Ich studierte Physik an der Technischen Hochschule Berlin. Im dritten Semester. Und half meinem Vater in der Firma. Planung. Korrespondenzen. Auf Dienstreisen trat ich als sein Sekretär auf. Günstiger und vertrauenswürdiger als irgendein bezahlter Fremder.«
»Und weiter?«
»Wissen Sie, ich habe keine Ahnung, wie dieses Mittweida heute unter Honecker ist. Aber damals, zu Eberts Zeiten war es ein bedrückendes provinzielles Nest. Wir bekamen im besten Hotel der Stadt ein Zimmer mit Kakerlaken und machten uns auf die Suche nach Schmidt. Seine Adresse kannten wir. Und je weiter wir gingen, desto überzeugter waren wir davon, dass es in dieser Stadt absolut nichts Interessantes gab.«
»Nun, immerhin gab es das berühmte Technikum. Wo auch Schmidt studiert hatte.«
»Wissen Sie, wenn es sich bei Mittweida um ein siebtklassiges Nest handelte, dann war dieses Technikum eine, sagen wir, fünftklassige Lehranstalt. Also nicht viel besser als die Stadt selbst. Wussten Sie das nicht? Nach heutigem Verständnis war es einfach eine Berufsschule. Inhaltlich. Nun, vielleicht ein wenig effektiver, wie alle Lehranstalten zu jener Zeit, aber im Grunde eine Berufsschule. Heute lernen diese sechsjährigen Rotzlöffel in der ersten Klasse die Grundlagen der Mengenlehre. Damals wurde noch das Einmaleins gelehrt. Damals hielt man Adam Riese noch in Ehren. Und die Ergebnisse waren im Verhältnis – ich sage, im Verhältnis, Sie verstehen – besser als heute. Aber was das Technikum Mittweida betrifft – es produzierte trotzdem nur Spezialisten mit mittelmäßigen Fähigkeiten, denen man Ingenieurdiplome gab. Aber deshalb waren sie noch keine Ingenieure mit einer akademischen Bildung. Und Schmidt hatte nicht einmal solch ein Diplom in der Tasche.«
»Sind Sie