Gegenwindschiff. Jaan Kross

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Название Gegenwindschiff
Автор произведения Jaan Kross
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783955102630



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wieder nicht abqualifizieren. Es befand sich in relativer Nähe zum Hafen und erwies sich als ein großes zweigeschossiges bungalowartiges Holzhaus, das in einem Garten mit Palmen und allen möglichen anderen Bäumen stand.

      Wir nahmen in dem halbleeren Hotelrestaurant zu dritt unser Abendessen ein und besprachen ungeachtet unserer Müdigkeit die Arbeiten für den nächsten Tag. Herr Moll versprach, sich um ein Auto zu kümmern und damit um zehn (ich wollte um acht Uhr, aber Baade wünschte sich zehn Uhr) vor dem Haus zu warten. Wir wollten über die Uferstraße Richtung Norden fahren und den Observierungsort auswählen. Tatsächlich hatten die Herren aus Manila bereits die beiden günstigsten Punkte der Totalitätszone ausgewählt, zwei Dörfer oder, wie man’s nimmt, Flecken fünfzig Kilometer nördlich von Cebu, und uns blieb die Entscheidung vorbehalten, welcher von beiden uns besser passte: Catmon oder Sogod. Catmon oder Sogod – zunächst wussten wir von ihnen nichts außer den soeben gehörten Namen. Auf Basis des Namens hätte ich Ersteres vorgezogen – wenn es zulässig ist, auf solch alberner Grundlage eine Auswahl zu treffen. Denn Catmon klang meiner Meinung nach würzig, und später fiel mir ein, dass ich das möglicherweise wegen der klanglichen Nähe zu Kardamom, das auf Naissaar Kardemon genannt wurde, dachte. Während sich dagegen hinter dem Namen von Sogod etwas Soßiges und Sumpfiges zu verbergen schien. Blödsinn natürlich, wie er aber hin und wieder auch durch die hellsten Köpfe schießt.

      Nach der morgendlichen Landungshektik und dem Auf- und Abladen am Tag, an dem es konstant dreiunddreißig oder vierunddreißig Grad waren, und nach der Tamburinmusik während des Abendessens und unserem müden, aber hastigen Gespräch spürte ich, dass ich mühsam einschlafen und eine unruhige Nacht haben würde. Bevor wir uns von der Tafel erhoben, nahm ich, wie Onkel Frans sagte, als Schlafmütze noch einen ordentlichen Schluck »Johnnie Walker«, von dem uns Herr Moll eine Flasche bestellt hatte, aber ich wusste, dass das nicht viel helfen würde.

      Mein Zimmer war eine niedrige Schachtel mit weiß getünchten Wänden. Zwei quadratische Fenster mit einer Jalousie aus Bambusstäben als Sonnenschutz, ein paar Korbstühle, ein Schreibtisch aus rotem Holz, der recht abgenutzt aussah, obwohl er kaum für etwas anderes als zum Berechnen der Ergebnisse beim Whistspiel oder der Erlöse aus dem Kopraverkauf oder zur Addition von Reiswein- und Nuttenpreisen benutzt worden sein wird. Wenn nämlich, wie Herr Moll erzählte, die Koprabarone oder Plantagenaufseher in die Stadt fahren, um Erledigungen zu machen und zu feiern. Nun ja. Die Barone stiegen höchstwahrscheinlich in nobleren Hotels ab, aber die Aufseher eben in so einem. Schließlich gab es in meinem Zimmer noch ein Bett für anderthalb Personen mit einem niedrigen, geschnitzten Kopfende und ganz ohne Füße.

      Ich zog mir das Jackett mit den durchgeschwitzten Achselhöhlen aus, und mir fiel mit lächerlicher Verspätung ein (wie das bei solchen Dingen häufig der Fall ist), dass ich es lieber heute Morgen gar nicht angezogen hätte, dann hätte ich den lieben langen Tag halb so viel geschwitzt, aber ich bin einfach nicht darauf gekommen.

      Ich zog mich splitternackt aus. Ich riss mir sogar jene schwarze Trikotsocke (ich kann schlecht Handschuh sagen, nicht wahr?) herunter, die ich auf meinem rechten Armstumpf trage, damit er nicht so ins Auge sticht. (Johanna, erinnerst du dich noch, wie wir diese Socke unter uns nannten? Sicherlich tust du das: Er war in unserer Intimsprache mein Präservativ. Du wolltest nicht glauben, dass sie nur zwischen uns diesen Namen hatte. Du machtest ein Gesicht, als wäre es dir nicht wichtig, aber in Wirklichkeit war es dir wichtig. Und glauben können hättest du es auch, denn es entsprach der Wahrheit.)

      Ich erfrischte mich in der Duschecke, die hinter einer Bretterwand verborgen war und einen Betonfußboden hatte, mit einem lauen Tropfen Wasser, den der kümmerliche Sprinkler hergab, und klappte die Jalousie vorm Fenster über dem Fußende des Bettes hoch, in der Hoffnung, etwas frische Luft hereinzulassen. Aber die schwarze Hitze draußen war keinen Deut besser als die im Zimmer. Also ließ ich die Jalousie wieder herunter und warf mich aufs Bett.

      Ich bin kein sonderlich großer Mann, nur 179 Zentimeter, das weißt du, aber das Bett war überraschend kurz für mich. Um mir die Schädeldecke nicht am Kopfende aufzureiben – mein Scheitelpunkt war ohnehin recht schütter –, stützte ich die Fußsohlen an die Wand unterm Fenster. Der Verputz fühlte sich an den Fußsohlen überraschenderweise angenehm kühl an, und ich wartete auf dem Rücken liegend auf den Schlaf, obwohl ich wusste, dass ich nicht einschlafen würde. Obwohl ich aus Erfahrung ahnte, was kommen würde.

      Ich habe das jahrelang, fünfunddreißig Jahre lang, über hundertmal, womöglich zweihundertmal durchgemacht. Insofern ist es gar nicht mehr beängstigend. Das im Voraus spürbare Fallen, dann ein plötzliches Erstarren in halbwachem Zustand, aus Anspannung und Erregung, um anschließend im Halbschlaf, im Viertelschlaf alles noch einmal zu durchleben. Das ist infolge der Wiederholung und weil man weiß, was kommt, ziemlich abstrakt. Wie wenn man eine verblichene, grau gewordene Fotografie mit dem abgebildeten Ereignis selbst vergleicht – aber man muss es sich einfach anschauen. Ein Bild, auf dem zusätzlich zu allem längst Bekannten jedes Mal etwas Neues auftaucht. Gewöhnlich etwas Nebensächliches, Absurdes, Unwahrscheinliches, etwas, was es nie gegeben hat und wovon ich nicht erfassen kann, woher es plötzlich kommt.

      Und dann liege ich wieder am Waldrand unter den Wacholderbüschen im Blaubeergestrüpp bäuchlings auf der Erde. In meinem schon grau gewordenen Viertelschlaf gibt es wundersam lebendige, seltsam farbenfrohe Flecke. Ich habe das Gefühl, dass ich mich separat an jedes feuchte grüne Blaubeerblatt und die dunkelrosa Wacholderblüte vor meinem Gesicht erinnere, und dass ich in meinem Nacken den heißen Atem des Klaamann-Jungen spüre, als wir durch die Blüten hindurch den großen rötlichen Findling in der Schneise in einer Entfernung von zwanzig Klaftern beobachten. Die Schneise kommt direkt aus der Mitte der Insel, durchschneidet den Südrand des Mastkiefernwaldes und endet auf der offenen Fläche am Meer westlich des Dorfes. Der Felsbrocken ruht auf der Schneise zwischen zwei Waldmauern. Ich habe ihn speziell ausgewählt, weil seine dem Land zugewandte Seite beinahe völlig glatt ist, so glatt, wie eine derartige Steinoberfläche in der Natur überhaupt sein kann, wenn es sich nicht gerade um einen Kristall handelt. Und weil er in einem Winkel von beinahe exakt fünfundvierzig Grad aus den ausgeblühten Weidenröschenbüschen Richtung Meer ansteigt. Ein Steigungswinkel von fünfundvierzig Grad, soviel weiß ich aus der Ballistik, lässt einen Flugkörper am weitesten fliegen.

      Wir starren durch das Blaubeergestrüpp unentwegt auf das zehn Zoll lange und einen Zoll dicke schwarze Eisenrohr, das auf der glatten Schrägseite des Findlings in Schneisenrichtung aufs Meer hin ausgerichtet ist. Die Spitze des Rohres habe ich in der Scheune mit dem Lötkolben von Onkel Frans (ich wünsche so sehr, dass mein Experiment gelingt, dass ich Stiefvater Frans sage, beinahe Vater Frans …) zugelötet und zur Verringerung des Luftwiderstandes mit einer konischen Blechhaube versehen. Das Innere des Rohres ist gefüllt mit einer sorgfältig dosierten Mischung aus Schießpulver und Schießbaumwolle. In Fingerhutportionen habe ich mir das Material von den Männern aus dem Dorf zusammengeschnorrt – das Schießpulver aus ihrem Vorrat für die Seehundsbüchsen und die Schießbaumwolle aus ihrem Felssprengstoffvorrat. Die Explosionsgeschwindigkeit von Schießpulver beträgt vierhundert, die von Schießbaumwolle siebentausend Meter pro Sekunde, das weiß ich. Ich weiß ebenfalls, dass das Rohr bei der Explosion birst, wenn die Mischung zu viel Schießbaumwolle enthält. Wenn zu viel Schießpulver in der Mischung ist, fliegt das Rohr nicht weiter als bei den letzten Malen – vierzig, fünfzig, achtzig Klafter. Aber wenn die Mischung richtig ist – und sie muss richtig sein –, wird es diesmal mindestens bis zu den Wallbergen fliegen und vielleicht über sie hinaus bis zum Strandschotter. In dem Fall weiß ich noch nicht recht, ob ich mein Rohr, meine Rakete, dann zu einer neuartigen und perfekteren Leuchtrakete für Schiffbrüchige weiterentwickele oder zu einer nie dagewesenen Waffe gegen feindliche Schiffe, die es wagen, sich Naissaar zu nähern. Wahrscheinlich sowohl als auch, obwohl Gott, falls er existiert …

      Aber warum knallt es denn noch nicht? Warum knallt es noch nicht?! Wir ersticken hier noch, der Klaamann-Junge und ich, wenn wir ununterbrochen den Atem anhalten und warten! Oh nein, offenbar ist die Zündschnur ausgegangen! Obwohl es eine schöne Netzschnur aus Hanf war, sorgfältig in Lampenpetroleum getränkt. Aber nach dem morgendlichen Nieselregen sind Sand, Moos und Gras feucht. Offensichtlich ist die Schnur erloschen. Das muss ich kontrollieren. Logisch, dass ich es tue. Schließlich ist es mein Experiment. Den Klaamann-Jungen habe ich